Rüdiger vom Bruch: Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Björn Hofmeister und Hans-Christoph Liess, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, 430 S., ISBN 978-3-515-08869-5, EUR 68,00
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Rüdiger vom Bruch: Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Deutschen Kaiserreich. Hrsg. v. Hans-Christoph Liess, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005
Rüdiger vom Bruch (Hg.): Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910, München: Oldenbourg 2010
Uwe Hoßfeld u.a. (Hgg.): "Kämpferische Wissenschaft". Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003
Wenn sich jemand in Wissenschafts- und Universitätsgeschichte im Wilhelminischen Deutschland auskennt, dann ist es Rüdiger vom Bruch, der Inhaber des Lehrstuhls für Wissenschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, die nächstes Jahr ihr 200jähriges Bestehen feiert. Es ist daher wichtig und richtig, dass seine vielfältigen und zahlreichen, an verschiedenen Orten veröffentlichten Aufsätze der letzten 25 Jahre gebündelt an einem Ort nachzulesen sind. Ein erster Aufsatzband ist bereits 2005 unter dem Titel "Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Deutschen Kaiserreich" im Franz Steiner Verlag erschienen, und nunmehr liegt seit 2006 der zweite, hier anzuzeigende Band vor, der von Björn Hofmeister und Hans-Christoph Liess herausgegeben ist.
Der Band ist systematisch in drei Teile gegliedert: Der erste Teil behandelt die Gelehrtenpolitik und ihr Verhältnis zur politischen Öffentlichkeit im Deutschen Kaiserreich, der zweite Teil analysiert Figurationen gelehrter Geselligkeit und akademische Diskurse im 19. und 20. Jahrhundert und der dritte und letzte Teil versammelt Beiträge zur Verwissenschaftlichung und universitären Professionalisierung der Staats- und Sozialwissenschaften im gleichen Zeitraum.
Im ersten Teil geht es im Großen und Ganzen um zwei Problemkomplexe: Erstens die Verortung und Abgrenzung des Typus "Gelehrtenpolitik" im Kaiserreich und zweitens die Militarisierung der deutschen Hochschullehrer und Universitäten zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg. Vom Bruch arbeitet exakt die Spezifik des Gelehrtenpolitikers, der im Zuge einer wachsenden Verwissenschaftlichung "ethisch motivierte wissenschaftliche Begründungen für politisch-gesellschaftliche Wertentscheidungen im Interesse einer optimalen Zukunftsgestaltung" (22) entwickelt, heraus und grenzt ihn gegen den "politischen Professor" des Vormärz und des Reichsgründungsjahrzehnts ab. Dieser Typus von Gelehrtenpolitik (neuerdings wird von Gangolf Hübinger der Begriff des "Gelehrten-Intellektuellen" favorisiert [1]) wird als "Übergangsformation" zwischen Vormärz und Weimarer Republik beschrieben, als die beiden Pole fachwissenschaftlicher Expertise und parteipolitischen Engagements zunehmend auseinander traten. Im politischen Spektrum war der (in aller Regel protestantische) Gelehrtenpolitiker des Kaiserreichs stets um "liberal-konservativen Mehrheitskonsens" (22) bemüht - ob dies nun Theodor Mommsen, Adolf von Harnack oder auch der so genannte Kathedersozialist Gustav Schmoller war - der "etatistische Grundzug" (73) herrschte bei allen vor. Der luzide Beitrag "Adolf von Harnack und Wilhelm II" aus dem Jahre 2001 macht dies besonders deutlich. Die Militarisierung deutscher Hochschullehrer im späten Kaiserreich - das zweite Thema dieses ersten Teils - zeigt eindringlich, wie sehr die meisten Professoren von der Kriegspropaganda und hier vor allem von der Heeres- und Flottenpolitik ergriffen (allen voran der alldeutsche Imperialist Dietrich Schäfer) und wie weit sie vom "Ziel des Pazifismus, der Organisation des Friedens der Kulturvölker" (125), entfernt waren. Hier brachte der Ausbruch des Krieges erneut eine enorme Politisierung zustande, welche die deutsche Hochschullehrerschaft bis weit in die Weimarer Republik hinein prägen und auch politisch spalten sollte. Aufschlussreich ist der "Aufruf der 93" deutschen Schriftsteller, Gelehrten und Künstler, der am 4. Oktober 1914 erschien, in zehn Übersetzungen in mindestens 14 neutrale Staaten verteilt wurde und den vom Bruch als "geistige Kriegspropaganda" (162) beschreibt. Man appellierte an "die deutsche Kultur" und rief im heiligen Namen "eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant" zum Kampf für die deutsche "Scholle" und "Ehre" auf (166). Hier wurde die Grundlage eines national-konservativen Konsenses neu- und wiederbelebt, der die gesamte Weimarer Republik durchziehen sollte.
Der zweite Teil befasst sich mit den Geselligkeitsformen deutscher Gelehrten und den akademischen Diskursen im 19. und 20. Jahrhundert. Das reicht von einem weit ins 19. Jahrhundert zurückführenden Beitrag über die Stadt Berlin als Stätte der Begegnung, über das Problem der Universitätsreform als einer "sozialen Bewegung" (im Sinne einer "Nicht-Ordinarienbewegung", 201), Webers Kritik am "System Althoff", eine Neubesichtigung seiner Landarbeiterenquete, Schmollers Position zwischen Nationalökonomie und Geschichtswissenschaft, einen universalgeschichtlich-kulturmorphologischen Vergleich zwischen Karl Lamprecht und Oswald Spengler bis zu Friedrichs Meineckes Gelehrtenleben "zwischen Bismarck und Adenauer" (279). Hier sieht man, wie weit der Bogen, den vom Bruch schlägt, gespannt ist: vom frühen 19. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Instruktiv und mit viel Gewinn zu lesen sind die Ausführungen über Max Weber und Gustav Schmoller sowie die Fortführung der Schmollerschen und Lamprechtschen Traditionen in der Weimarer Republik, letztere vor allem im Bereich der Landesgeschichtsforschung des 1918 gegründeten Bonner Instituts für geschichtliche Landeskunde unter Hermann Aubin, einem Below-Schüler, der von Lamprecht wesentliche Anregungen erhielt. Der Beitrag über Meinecke, der noch ganz jungen Datums ist, weil er auf ein Symposium zum 50. Todestag jenes berühmten Historikers im Jahre 2004 zurückgeht, ordnet den Gelehrtenpolitiker, der selbst über Gelehrtenpolitik reflektierte, und sein Werk in den Kontext des jeweiligen politischen Systems, vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis zur frühen Bundesrepublik, ein. So wird die frühe pietistische Prägung und konservative Grundhaltung ebenso thematisiert wie die Genesebedingungen der wichtigen Werke "Weltbürgertum und Nationalstaat" von 1907 und "Entstehung des Historismus" von 1936. Immer sind es Romantik und Klassik, die den Bezugsrahmen Meineckes abgaben, der 1949 dem neu gewählten Bundespräsidenten Theodor Heuss konsequenterweise den 28. August, Goethes Geburtstag also, als Nationalfeiertag vorschlug, den der Präsident mit Verweis auf die Ferienzeit zurückwies.
Der letzte Teil ist der Verwissenschaftlichung, Institutionalisierung und universitären Professionalisierung der Staatswissenschaften und der frühen Sozialwissenschaften gewidmet. Er umfasst im Grunde zwei Themenbereiche: Die ersten drei Beiträge handeln von den Staatswissenschaften und der Nationalökonomie und ihrer sozialpraktischen Wirkung, und die letzten beiden Aufsätze untersuchen Zeitungskunde bzw. Zeitungswissenschaft und Soziologie als eigenständige Disziplinen. Hier wird der zeitliche Bogen noch weiter gespannt, wenn vom Bruch die um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstehende historische Schule der Nationalökonomie auf die ältere Kameralistik und die Wirtschafts- und Soziallehren des 18. Jahrhunderts zurückführt und Kontinuitäten und Brüche offen legt. Viele Hinweise sowohl der alt- wie neuliberalen Ökonomen scheinen hochaktuell und lesen sich heute wie Handlungsanweisungen oder Reformvorschläge zur Behebung der derzeitigen Wirtschafts- und Finanzkrise. Vom Bruch weist nach, dass die historische Nationalökonomie im Spiegel Gustav Schmollers "nicht auf eine Historisierung des ökonomischen Prozesses, sondern auf eine umfassende Kulturgeschichte unter Einschluss von Wirtschafts- und Sozialgeschichte" abhob (323). Das öffentlichkeitswirksame Pendant dieser wissenschaftlichen Richtung, welche die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblich bestimmte, war die so genannte "Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin", mit der sich ein umfassender Artikel von der Gründung 1883 bis ins Jahr 1919 befasst. Hier wird deutlich, wie sehr selbst bei dieser groß angelegten gesellschaftlichen Initiative von Gelehrten der gouvernementale und etatistische Grundzug erhalten blieb und alle sozialreformerischen Debatten eines Schmoller und Delbrück dominierte. Die beiden letzten Beiträge über die Disziplinengenese der Soziologie und der Zeitungswissenschaft im frühen 20. Jahrhundert runden den Band sehr gut ab, weil sie sich in einem übergreifenden Zugriff um die wissenschaftsgeschichtliche Einordnung bemühen und diese jungen Disziplinen (die Zeitungswissenschaft wurde erst 1916 in Leipzig begründet) im Spannungsfeld von "Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit" - dem Grundthema Rüdiger vom Bruchs - verorten.
Der Band belegt einmal mehr das enorme Innovations- und Modernisierungspotential des späten Deutschen Kaiserreichs auf dem Gebiet der Wissenschaften in all seinen Verästelungen. Die deutsche Geschichtswissenschaft könnte froh und stolz sein, wenn sie ebenso kompetent über die Wissenschaftsgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts informiert wäre, wie sie es mit den Arbeiten Rüdiger vom Bruchs für die "zweite Achsenzeit 1880-1930" (Otto Gerhard Oexle) ist.
Anmerkung:
[1] Gangolf Hübinger: Intellektuellengeschichte und Wissenschaftsgeschichte, in: ders.: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006, 9-28, hier 14; siehe auch Rezension von Jörg Requate, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 2 [15.02.2007], URL: http://www.sehepunkte.de/2007/02/10051.html
Klaus Ries