Daniel Roos: Julius Streicher und "Der Stürmer" 1923-1945, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, 535 S., 62 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-77267-1, EUR 49,90
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Nicht nur in Kleidungsfragen kommen Trends und Moden immer wieder, auch in der Geschichtswissenschaft sind lange als unzeitgemäß angesehene Ansätze in neuem Gewand wieder gefragt. Historische Biografien sind en vogue und finden, angereichert um Aspekte der Neueren Kulturgeschichte, nicht nur bei der nichtakademischen Leserschaft Anklang, sondern auch in der Fachwelt.
Daniel Roos leistet mit seiner 2014 in Buchform erschienenen, bei Wolfgang Altgeld an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg entstandenen Doktorarbeit hierzu einen wichtigen Beitrag. Ambitioniert möchte er eine "vollständig[e] und detailliert[e] [...] Doppelbiografie" (15) vorlegen, die den Radikalantisemiten und zum Tode verurteilten Hauptkriegsverbrecher Julius Streicher ebenso zum Gegenstand hat wie dessen ab 1923 in Nürnberg publiziertes antisemitisches Hetzblatt "Der Stürmer".
Ein zu begrüßendes Unterfangen, da zwar seit den 1980er Jahren zwei längere Biografien zu Streicher von William P. Varga [1] und Randall L. Bytwerk [2] existieren, die bisher beste Auseinandersetzung mit Person und Hetzschrift aber immer noch die unveröffentlichte Diplomarbeit des Kommunikationswissenschaftlers Manfred Rühl [3] aus dem Jahr 1960 bietet. In Roos' umfassendem Literaturverzeichnis fällt lediglich das Fehlen von Eric G. Reiches Werk über die Nürnberger SA [4] sowie Roos' eigene, unveröffentlichte Zulassungsarbeit aus dem Jahr 2003 [5] auf.
Der Aufbau des Buches folgt in den Großkapiteln II bis IV und VI den Lebensstationen Streichers von der Geburt in der bayerisch-schwäbischen Provinz am 12. Februar 1885 bis zur Hinrichtung in Nürnberg am 16. Oktober 1946. Zur Biographie erfährt man zwar nichts grundlegend Neues, immerhin aber bietet Roos viele kleine Details aus den Jahren vor 1909, bevor Streicher als Lehrer nach Nürnberg kam und mit Beginn der 1920er Jahre einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde. Kapitel V behandelt die journalistische Herangehensweise des "Stürmer" sowie weitere antisemitische Publikationen aus Streichers Verlag. Manche Ausführung über den im "Stürmer" propagierten Antisemitismus hätte vielleicht an früherer Stelle einen passenderen Platz gehabt, um Redundanzen zu vermeiden. Der lesenswerten Darstellung tut das jedoch keinen Abbruch. Störend sind dagegen die häufig umfangreichen Zitatblöcke aus dem "Stürmer". Dessen brutale und menschenverachtende Sprache (17f.) hätte dem Leser auch anhand einer strengeren Auswahl vor Augen geführt werden können.
Insgesamt ist der Ansatz, Streichers Lebensweg und publizistisches Machwerk gemeinsam zu betrachten, schlüssig und wird nachvollziehbar umgesetzt. Die gegenseitige Abhängigkeit und der wechselseitige Aufstieg von Herausgeber und Zeitschrift führt Roos dem Leser klar vor Augen. Der Themen- und Bedeutungswandel des "Stürmer" von der Weimarer Republik über die Friedensjahre im NS-Unrechtsstaat bis hin zum Zweiten Weltkrieg ist prägnant dargestellt. Die nicht gerade angenehme, detaillierte inhaltliche Auswertung ist dabei die Stärke von Roos' Studie. Es gelingt ihm überzeugend, die Entwicklung der Hetzzeitschrift vom textlastigen Pamphlet gegen persönliche Gegner hin zum boulevardesk gestalteten Antisemitenblatt mit reicher Bebilderung nachzuzeichnen. Die besondere Wechselwirkung zwischen Hetzblatt und Leserschaft, wie sie seit Fred Hahns Zuschriftendokumentation [6] bekannt ist, wird auch von Roos bestätigt. Deutlich wird die frühe Hilflosigkeit der "Stürmer"-Gegner, die weder durch Klagen oder Gegenkampagnen noch durch Ausgabenaufkäufe Diffamierungen und Schmähungen verhindern konnten. Lediglich ein konsequentes Vorgehen von Polizei und Justiz hätte dem Spuk frühzeitig ein Ende setzen können. Die tatsächliche Wirkung auf die Leserschaft ist mit den Instrumenten der Historiografie nicht mehr zu ermitteln, dennoch kann Roos überzeugend die publizistische Vorbereitung für den millionenfachen Massenmord an den europäischen Juden durch Streichers "Stürmer" darlegen.
Über die Zeitschriftenauswertung hinaus leistet Roos wichtige Archivarbeit, wenn er zum Beispiel erstmals systematisch die im Staatsarchiv Nürnberg aufbewahrte "Sammlung Streicher" aus Nachlasssplittern des "Frankenführers", Erinnerungen seiner Familie und Weggefährten oder auch das im Eigendruck herausgegebene Briefbuch der zweiten Ehefrau Adele auswertet. Den erhobenen umfassenden Anspruch an seine Streicher-Biografie erfüllt Roos dennoch nicht ganz. So ist es überraschend, dass wichtige Quellen über die politische und publizistische Frühzeit Streichers im Nürnberger Stadtarchiv unberücksichtigt geblieben sind - gerade wenn Roos belegen möchte, dass der NSDAP-Gauleiter mit seinem Blatt vor 1933 eine größere Bedeutung als in späteren Jahren hatte. Streichers persönliche Sonderstellung bei Hitler erklärt sich eben nicht nur aus seiner Rolle während des Münchner Putsches 1923, sondern auch aus seiner parteipolitisch-organisatorischen Brückenfunktion in Franken, die der NSDAP das Ausgreifen vom südlichen Bayern nach Mittel- und Norddeutschland erleichterte und letztlich einen entscheidenden Vorsprung gegenüber anderen völkischen Splitterparteien verschaffte. [7] So bleibt unklar, wie es Streicher gelang, ausgerechnet in Nürnberg zu reüssieren und nationalsozialistisches Gedankengut zu etablieren: Hatte doch die Stadt vor dem Ersten Weltkrieg durch ein liberalbürgerliches Gesellschaftsklima auf viele jüdische Neubürger anziehend gewirkt und war auch danach in der Weimarer Republik eine Hochburg der SPD geblieben. Das Stadtarchiv hätte beispielsweise mit den dort verwahrten Stadtratsprotokollen, den Akten der NSDAP-Stadtratsfraktion - der Streicher trotz vieler Absenzen formal immerhin von Dezember 1924 bis April 1932 und erneut von März 1933 bis Mai 1934 angehörte - oder der durch den NSDAP-Gauschatzmeister und Stadtrat Hermann Busch angefertigten Geschichte der Nürnberger Ortsgruppe vor 1933 Aufschluss darüber geben können. Gerade die Kommunalpolitik war zeitweise eine wichtige Propagandaplattform für Streicher und seine Gefolgschaft, die große mediale Aufmerksamkeit fand.
Wünschenswert wäre für diese Lebensphase Streichers auch eine nähere Auswertung seiner frühen Zeitungsprojekte "Deutscher Sozialist" und "Deutscher Volkswillen" gewesen. Die Erfahrungen des Nischendaseins und der daraus resultierende Lernprozesse wären für die Erklärung des Erfolgs des "Stürmer" aufschlussreich gewesen. Auch der inhaltlich-analytische Blick auf Konkurrenzblätter im nationalsozialistisch-republikfeindlichen Spektrum fällt eher knapp aus. Deren Unterschiede zum "Stürmer" hätten noch schärfer kontrastiert und dessen publizistische Etablierung damit näher erklärt werden können. Ebenso wird die Einordnung in die völkisch-antisemitische Presselandschaft der 1920er und 1930er Jahre etwas vernachlässigt. Desgleichen bleibt die Frage nach der Finanzierung des "Stürmer" weitestgehend ausgespart, obwohl gerade in den Anfangsjahren sein publizistisches Überleben vor allem davon abhing. Später nutzte Streicher das Vermögen seines Hetzblattes zur direkten Herrschaftsabsicherung, indem er ausgewählte Gefolgsleute dort beschäftigte und diese noch enger an seine Person band. Weitere biografische Unterlagen zu den betreffenden Personen, wie deren Spruchkammerakten im Staatsarchiv Nürnberg, hätten hierzu Auskunft geben können. Hier hätte man gerne mehr erfahren.
Letztlich vertraut Roos an manchen Stellen zu sehr der Selbstdarstellung Streichers in dessen nachgelassenen Dokumenten. Trotzdem gelingt es ihm, ein stringentes Charakterbild des "Frankenführers" zu zeichnen, das im Zeitraum seiner politischen Tätigkeit vom Ende des Ersten bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges keinen größeren Wandlungen mehr unterworfen war. Gerade daraus resultierten die Anpassungsschwierigkeiten und die zunehmende politische Beschränkung des Gauleiters auf den Nürnberger Großraum unter den veränderten Bedingungen der nationalsozialistischen Herrschaft nach 1933. Daniel Roos hat den sich gegenseitig bedingenden Weg des Hetzers und seines Blattes kenntnisreich und gut lesbar nachgezeichnet sowie beiden Untersuchungsgegenständen viele neue Facetten hinzugefügt.
Anmerkungen:
[1] William P. Varga: The Number One Nazi Jew Baiter. A Political Biography of Julius Streicher, Hitler's Chief Anti-Semitic Propagandist, New York 1981.
[2] Randall L. Bytwerk: Julius Streicher. The Man Who Persuaded a Nation to Hate Jews, New York 1983.
[3] Manfred Rühl: Der Stürmer und sein Herausgeber. Versuch einer publizistischen Analyse, unveröffentlichte Diplomarbeit an der Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Nürnberg 1960.
[4] Eric G. Reiche: The Development of the SA in Nuremberg 1922-1934, Cambridge 1986.
[5] Daniel Roos: Anfänge eines Hetzblattes. Julius Streicher und "Der Stürmer" 1923-1925, unveröffentlichte Zulassungsarbeit an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg 2003.
[6] Fred Hahn: Lieber Stürmer. Leserbriefe an das NS-Kampfblatt 1924-1945 (= Schriftenreihe der Studiengesellschaft für Zeitprobleme e.V. Bonn-Bad Godesberg, 19), Stuttgart 1978.
[7] Rainer Hambrecht: Der Aufstieg der NSDAP in Mittel- und Oberfranken (1925-1933) (= Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte, 17), Nürnberg 1976, 404.
Matthias Braun