Peter Burschel / Christoph Marx (Hgg.): Gewalterfahrung und Prophetie (= Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie e.V.; Bd. 13), Wien: Böhlau 2013, 520 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-205-78813-3, EUR 59,00
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In einem Panorama, das kaum weiter gefasst sein könnte, nimmt der hier anzuzeigende Band den Zusammenhang von "Gewalterfahrung und Prophetie" in den Blick und fasst damit die Ergebnisse einer Tagung zusammen, die 2010 in Mühlheim an der Ruhr stattfand. Die insgesamt 17 Aufsätze thematisieren entsprechende Phänomene vom Mittelalter bis heute in globaler Perspektive. Eine individuelle Würdigung aller Beiträge kann der Rezensent sowohl aus Gründen der fachlichen Qualifikation als auch aus Platzgründen kaum leisten. Stattdessen soll die übergreifende Thematik selbst im Fokus stehen, durch die Beiträge über religiöse Kulte in Melanesien, die Hugenottenverfolgung im neuzeitlichen Frankreich und islamische Heilserwartungen in Afrika in einen gemeinsamen Band gefunden haben.
In der Einleitung (9-18) hält Peter Burschel fest, dass die Ergebnisse der im Aufwind begriffenen "Endzeitforschung" bisher nicht mit den Befunden der historischen Gewaltforschung in Verbindung gebracht wurden: folglich solle der Blick auf "die kulturelle, religiöse und politisch-soziale Wirkmächtigkeit prophetischer Botschaften im Schatten von Kriegen und anderen Formen physischer Gewalt" (12) gerichtet werden. Auf definitorische Vorgaben der Kernkonzepte wurde dabei bewusst verzichtet (14), womit es den jeweiligen Autoren überlassen blieb, die nicht unproblematischen Begriffe "Gewalt" und "Prophetie" in ihrer Verbindung analytisch fruchtbar zu machen.
Der Verzicht auf wie auch immer geartete Vorgaben führt dazu, dass einige der Beiträger selbst Zweifel anmelden, ob ihre Analyseergebnisse so recht in das Konzept des Bandes passen. So fragt etwa Hans Martin Krämer, ob der Begriff "Prophetie" für das religiöse Erweckungserlebnis Toda Jōseis, eines Religionsgründers im Japan des 20.Jahrhunderts, die passende Kategorie sei, was er letztlich verneint (156 und 161). Solche negativen Befunde aber sind keineswegs ein Problem für die Fragestellung des Bandes, konturieren sie doch die Reichweite ihrer Anwendbarkeit. Auch divergierende Definitionen der Kernbegriffe wären nicht grundsätzlich abzulehnen, sondern könnten im Gegenteil zu ihrer analytischen Schärfung beitragen. Im Gesamtgefüge der vorliegenden Beiträge lässt aber eher der Mangel an Definitionen den Leser ratlos zurück: Da ist von "Propheten" (69 passim) und "Wahnsinnigen" (z.B. 27), von "Kultsklavinnen" (21), "Kultführern" (132) und "Heilern" (216) die Rede; auch die Unterscheidung von Prophezeiungen, Visionen und Wahnvorstellungen bleibt unklar.
Dankbar nimmt der Leser also jene Fährten auf, die von einzelnen Autoren gelegt wurden: Hans Martin Krämer greift auf Pierre Bourdieu und Max Weber zurück und erläutert, dass Propheten als "unabhängige Heilsunternehmer" tendenziell in Opposition zu etablierten religiösen Autoritäten standen, die prophetische Aussagen folglich als Herausforderungen ansahen (157f.). Propheten gewannen also dann Anhang, wenn sie durch ihr Wirken im Alltag überzeugten - bzw. überzeugender wirkten als bestehende Institutionen. Als Verkünder von Zukunft (Karénina Kollmar-Paulenz, 261) wiesen sie neue Wege aus schwierigen Situationen und erweckten so Heilserwartungen (Lutz Häfner, 186f.). Gerade nach exzessiven kollektiven Gewalterfahrungen könnten sie "eine Berechenbarkeit der Welt wiederherstellen" (Christoph Marx, 253f.), indem sie auf vorhandene Erklärungsmuster zurückgriffen oder diese abwandelten. Gleichzeitig allerdings wüssten sich solche Personen durchaus selbst zu inszenieren und nähmen mitunter bewusst die Rolle eines Mahners auch der Herrschenden ein (Andreas Pečar, 337): So gesehen könne Prophetie fließend in Propaganda übergehen, die gerade in Krisenzeiten zur Legitimierung oder Diskreditierung von Gewalt nutzbar gemacht werde (Felicitas Schmieder, 415).
Da der Begriff 'Prophetie' in Etymologie und Bedeutung genuin europäisch geprägt ist, stellt sich jedoch die grundsätzliche Frage, ob ein solches Konzept ohne weiteres auf nicht-europäische Gesellschaften und Phänomene übertragbar ist (dies thematisiert Karénina Kollmar-Paulenz, 262). Gleiches gilt für den 'Gewalt'-Begriff, dessen Nutzung Felicitas Schmieder mit Blick auf das lateinisch-christliche Mittelalter thematisiert (420-424). Auch dieser bringe je nach Kultur und Sprache spezifische Prägungen mit sich, die bei seiner analytischen Anwendung bedacht werden müssten. Während solche Überlegungen auch über den Sammelband hinaus weiterführend sind und man ihnen eine entsprechende Rezeption wünscht, zeigt sich an anderer Stelle gerade das methodische Problem der Übertragbarkeit solcher Begriffe: Üben Wölfe 'Gewalt' aus, wenn sie innerhalb ihres Rudels um den Rang kämpfen (August Nitschke, 500)? Ist der Rekurs auf ein "traditionelles, eventuell vorbuddhistisches, individuelles Gewaltpotential" (Jakob Rösel, 116) nötig, um die Aggressionen unter Singhalesen trotz buddhistischem Tötungsverbot zu erklären?
Lohnenswert ist hingegen der Blick auf den zeitlichen Zusammenhang zwischen 'Gewalt' und 'Prophetien': Legt man die 17 hier versammelten Beiträge zu Grunde, scheinen Prophetien etwas häufiger Gewalt hervorzurufen anstatt nur auf vorherige 'Gewalterfahrungen' zu reagieren. Das Versprechen einer aktiv betriebenen Wendung zum Besseren in krisenhafter Lage wirkt offenbar stärker als die sinnstiftende Prophetie nach erlittener Gewalt. In diesem Zusammenhang sind besonders Fallstudien interessant, die ex-post entstandene Prophetien thematisieren (s. die Beiträge von Jakob Rösel, Hans Martin Krämer, Andreas Pečar, Andreas Bähr, Kristin Skottki): Der fingierte Blick auf eine 'Zukunft', die zum Zeitpunkt des Schreibens bereits vergangen ist, dient der Legitimierung sowohl von Gewalt als auch der Gattung der 'Prophetie' selbst gegen etwaige Zweifler (s. Andreas Bähr): Wer rechtzeitig an das Prophezeite geglaubt hätte, wäre zur Reaktion befähigt gewesen.
Die Voraussage der Herausgeber, der Verzicht auf begriffliche Vorgaben könne für die Beiträge "nicht ohne zentrifugale Folgen" (14) bleiben, hat sich bestätigt. Es lohnt sich dennoch, nach dem Zusammenhang von "Gewalterfahrung und Prophetie" zu fragen, wie die von Peter Burschel knapp skizzierten Perspektiven aufzeigen (15-18): Kollektive Erfahrungen exzessiver Gewalt verlangen Deutungen, zu denen etablierte Akteure häufig nicht (mehr) in der Lage sind. Mitunter füllen charismatische Persönlichkeiten dieses Vakuum durch das Versprechen, künftiges Handeln und Sein wieder berechenbar zu machen - und rufen damit nicht selten neue Gewalt hervor. Ob damit ein universelles Prinzip erkannt ist, wäre noch zu klären.
Christoph Mauntel