Rainer Hugener: Buchführung für die Ewigkeit. Totengedenken, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter, Zürich: Chronos Verlag 2014, 486 S., ISBN 978-3-0340-1196-9, EUR 55,50
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Bei manchen Büchern fragt man sich, ob es nicht auch eine Nummer kleiner ginge. So steigt die vorliegende Monographie über die Verschriftlichung und Rationalisierung des Totengedenkens im Mittelalter mit der selbstbewussten Feststellung ein, dass "der Gebrauch von Schrift [...] sich im Mittelalter über lange Zeit fast ausschließlich auf die Sphäre des Sakralen, auf Theologie und Liturgie [beschränkte]" (9). Natürlich ist es relativ wenig, was da aus den Frühzeiten auf uns gekommen ist, aber was ist mit dem Rechts- und Urkundenwesen mit seinen gewaltigen Überlieferungsverlusten, mit der weitverbreiteten notariellen Schriftlichkeit etwa in Italien? Aber immerhin ist damit die nötige Flughöhe erreicht, um mit dem Begriff des "Medienwandels" (9), den Hugener nach Münsteraner Vorbild im Prozess des zunehmenden Eindringens von Schriftlichkeit in unterschiedlichste Lebensbereiche verortet, das Erkenntnisinteresse der Arbeit abzustecken. Es folgt ein Schnelldurchlauf durch die moderne mediävistisch-kulturwissenschaftliche Begrifflichkeit von Rationalisierung bis Medialität, verbunden mit einer Kritik an den modernen Forschungen zur mittelalterlichen memoria, die in ihrer Begrifflichkeit zwar "Quellennähe suggeriert" (24), tatsächlich aber dem Vergleich mit dem zeitgenössischen Wortgebrauch nicht standhält, sogar "geradezu als paradox" (28) bezeichnet werden muss, da memoria im Mittelalter eben nicht das Andenken an die Verstorbenen, sondern die Erinnerung an lebende Personen bezeichne.
Rainer Hugener hat guten Grund zu dieser Fundamentalkritik, hat er doch in seiner in Zürich eingereichten Dissertation die Gedenküberlieferung der gesamten Schweiz untersucht, um am Beispiel der tatsächlich oft stiefmütterlich behandelten Quellengattung der Nekrologien, Anniversar- und Jahrzeitbücher zu zeigen, wie "im Bereich des liturgischen Totengedenkens neue Formen der Buchführung aufkamen und sich auf weitere Anwendungsgebiete wie die Güterverwaltung und die Geschichtsschreibung auswirkten" (10). Es geht ihm um eine Relativierung der klassischen Rationalisierungsnarrative, um stattdessen Keimzellen des Verschriftlichungsprozesses auch im oft als rückständig und traditionalistisch geziehenen kirchlichen Lebensumfeld auszumachen. Zu diesem Zweck hat Hugener, und dies nötigt zu Hochachtung, die gesamte bekannte Überlieferung zum Totengedenken auf dem Gebiet der heutigen Schweiz angesehen, und dabei auch vor dem magischen Jahr 1500 nicht haltgemacht: Seine Arbeit erfasst die Gedenküberlieferung aus dem Zeitraum von der Wende zum 9. bis zum Endes des 18. Jahrhunderts. Die Begründung ist einleuchtend: Da es bei den Gedenkbüchern um "lebendige Bücher" (14) geht, welche immer wieder ergänzt, geändert und abgeschrieben wurden, schlägt sich in ihnen nicht zuletzt auch ein Geschichtsbild in seiner Wandelbarkeit nieder, zeigt sich die Nutzung, Anpassung, ja, Bewirtschaftung, von historischer Überlieferung durch die Zeitgenossen.
Die Vorarbeiten nötigen Respekt ab. Weit über tausend Schriftstücke zum Totengedenken hat Hugener ausfindig machen können, von denen der größte Teil nicht ediert ist. Entsprechend eindrucksvoll präsentiert sich das Quellenverzeichnis (303-406). Das Literaturverzeichnis (406-467) lässt freilich die einschlägigen Werke etwa von Rainer C. Schwinges und Mirko Breitenstein zur Innovation in der mittelalterlichen Gesellschaft vermissen. [1]
Das erste inhaltliche Kapitel widmet sich den "Formen und Funktionen der Gedenküberlieferung" (51-113). Hier finden besonders die zunächst vielfältigen Typen der Gedenküberlieferung Beachtung. Aus seinem reichen Fundus an Beispielen schöpfend kann der Autor verschiedene Formen der Anlage, Führung und Nutzung der Bücher aufzeigen. Bisweilen hätte man sich eine eingehendere Behandlung und Analyse des Einzelfalls gewünscht. Auffällig und hinsichtlich der Gesamtabsicht der Dissertation zumindest diskussionswürdig scheint dabei der Befund zu sein, dass besonders in den Dom- und Kollegiatstiften, mithin genuin städtischen Institutionen, der Schritt von der liturgischen zur wirtschaftlich-administrativen Nutzung der Gedenkbücher am frühesten vollzogen wird.
Das zweite inhaltliche Kapitel befasst sich mit "Verwaltungstechniken und Administrationskultur" (115-170) und stellt drei Fallbeispiele zur Illustration des Übergangs von der schriftlichen Sicherung des Totengedenkens über dessen Verknüpfung mit Informationen zum klösterlichen Güterbesitz bis zur Ausdifferenzierung der liturgischen und der wirtschaftlich-administrativen Überlieferung im Spätmittelalter vor. Anhand des Benediktinerklosters in St. Gallen zeigt Hugener, wie im 13. Jahrhundert versucht wurde, das Totengedenken auf eine wirtschaftliche Grundlage zu stellen. Das zweite Beispiel stellt das Totengedenken in der Benediktinerinnenabtei Hermetschwil vor, dessen schriftliche Dokumentation untrennbar mit dem Streit um konkurrierende Herrschaftsansprüche zu Beginn des 14. Jahrhunderts verbunden war. Das dritte Beispiel ist dem Stift in Beromünster gewidmet und beschreibt besonders die hier sehr weit fortgeschrittenen Techniken der Buchführung, welche besonderen Wert auf die rechtlich einwandfreie und auch gut erschließbare Dokumentation des durch das Stift zu leistenden Totengedenkens legt. Gewisse Zweifel stellen sich einmal mehr hinsichtlich des gewählten Deutungsrahmens ein, wenn Hugener feststellt, dass die Bearbeiter des Urbars von Beromünster um das Jahr 1345 einen dreispaltigen Satz wählen, der dem von Bibelhandschriften und "zunehmend" auch Rechtsbüchern [...] bekannten "System der Glossierung" angelehnt sei, sodass "durch die gestalterische Anlehnung an bekannte Methoden der Bibelexegese und Rechtskommentierung [...] das Urbar gewissermassen gleichgestellt [wurde] mit "heiligen Büchern" und Gesetzen" (160). Weiterführender wäre es womöglich gewesen, den persönlichen, womöglich akademischen Hintergrund der Bearbeiter dieses Buches abzuklären, ob hier nicht vielleicht ein juristisch gebildeter Schreiber seine erlernten - ausgesprochen pragmatischen und sehr funktionalen - Techniken auf einen neuen Bereich überträgt; dies ganz ohne Assoziation zu "heiligen Büchern".
Das dritte inhaltliche Kapitel wählt einen stärker kulturwissenschaftlichen Ansatz und befasst sich mit "Gedenkpraktiken und Geschichtskultur" (171-294). Hugener geht es hier darum, die in der Forschung zu wenig gesehenen Verbindungen zwischen dem Gedenkwesen und der Vermittlung von historischem Wissen aufzuzeigen. Der Autor grenzt seine Untersuchung dabei auf den Bereich derjenigen Städte und Länderorte ein, die sich zur Eidgenossenschaft zusammenschlossen, da sich hier "viele Hinweise auf so genannte Schlachtjahrzeiten und andere Gedenkfeierlichkeiten finden, bei denen sich Zusammenhänge mit der Geschichtsschreibung deutlich erkennen lassen" (172). Hugener verortet das Totengedenken also im Kontext der eidgenössischen Befreiungstradition und schafft dadurch einen weiterführenden neuen Interpretationsrahmen für diese Art der Schriftlichkeit. Die sich an die Jahrzeiten anhaftenden Traditionen erkennt Hugener als "obrigkeitliche Inszenierungen, die darauf abzielten, die herrschenden Verhältnisse im Rückblick auf historische, gewissermaßen schicksalhafte Entwicklungen zu legitimieren" (289). Der Neuigkeitswert der Erkenntnis, dass "die Traditionen des modernen Nationalstaats nicht einfach aus dem Nichts heraus "erfunden" worden sind, sondern mitunter selbst über eine lange und wechselvolle "Vorgeschichte" verfügen", bleibt freilich auch dann bescheiden, wenn man wie Hugener aus der "invention of tradition" eine "Tradition der Erfindung" (289/90) macht.
Ohne jeden Zweifel hat Hugener im Bereich der Quellenauffindung und -erschließung Heraklisches geleistet, von dem zu erwarten ist, dass es weitere Forschungen befruchten und Bestand haben wird. Dies gilt auch für seine Überlegungen zu Anlage und Einrichtung der Schriftstücke, sowie zur Begrifflichkeit in der aktuellen Forschung. Allerdings muss man fragen, ob der Aufwand in Relation zu den gewonnenen Erkenntnissen steht. Der allergrößte Teil der untersuchten Gedenkbücher tritt in den Ausführungen nicht oder kaum in Erscheinung. Dies ist schade, da der Autor auch methodisch ein weites Feld öffnet und hohe Erwartungen weckt. Dies gilt besonders für die von ihm postulierte These, dass die Gedenküberlieferung der Klöster und Kirchen auch im weltlich-administrativen Bereich innovativ gewirkt hätte. Die zeitliche Einordnung der beschriebenen Innovationen genauso wie die Verortung der progressivsten kirchlichen Einrichtungen im städtischen Bereich lassen allerdings vermuten, dass eine prosopographische Untersuchung der besprochenen kirchlichen Einrichtungen enge Kontakte zum administrativen Innovationsraum des städtischen Bürgertums aufgedeckt hätte.
Anmerkung:
[1] Ein Überblick über die moderne Forschung zum Innovationsbegriff bei Christian Hesse / Klaus Oschema: Aufbruch im Mittelalter - Innovation in Gesellschaften der Vormoderne. Eine Einführung, in: Aufbruch im Mittelalter - Innovation in Gesellschaften der Vormoderne. Studien zu Ehren von Rainer C. Schwinges, hgg. von Christian Hesse / Klaus Oschema, Ostfildern 2010, 9-33.
Kerstin Hitzbleck