Ulrike Freitag / Israel Gershoni (eds.): Arab Encounters with Fascist Propaganda 1933-1945 (= Geschichte und Gesellschaft; Vol. 37/3 (2011)), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 140 S., ISSN 2196-9000, EUR 19,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
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Andreas Gorzewski: Das Alevitentum in seinen divergierenden Verhältnisbestimmungen zum Islam, Schenefeld: EB-Verlag 2010
Eine brisante und bis heute umstrittene Konstellation in der Zeit zwischen dem Beginn der NS-Herrschaft in Deutschland und dem Ende des Zweiten Weltkriegs war ein Gemenge von sechs miteinander konkurrierenden Weltanschauungen: Nationalsozialismus, Faschismus, arabischer Nationalismus, Islam, Zionismus und Antisemitismus. Die Herausgeber des hier zu besprechenden Sonderhefts erklären in ihrer Einleitung The Politics of Memory. The Necessity for Historical Investigation into Arab Responses to Fascism and Nazism, dass ältere europäische Nachkriegs-Analysen dieses Geflechts oft die Sympathie und die Kollaboration arabischer Führer und Intellektueller mit dem deutschen Nationalsozialismus und dem italienischen Faschismus überschätzt hätten. Sie kritisieren, dass es meist (auf Arabisch geschriebene) Memoiren und politische Narrative einer späteren Zeit gewesen seien, die für solche "gelehrte Missverständnisse" (311) verantwortlich seien. Das Potential arabischer Stimmen, die mit Faschismus und Nationalsozialismus in diesem Zeitraum nichts zu tun haben wollten, sei deutlich höher anzuschlagen, als bisher im Allgemeinen angenommen.
Was die Rolle des italienischen Faschismus betrifft, so sind sich Nir Arielli und Anna Baldinetti in ihren Beiträgen einig. Die faschistische Propaganda im Maghreb war "mostly ineffective" (436) und von Mussolinis Plänen, sich den ganzen Nahen Osten zu unterwerfen, sagt Arielli: "In light of the miserable performance of the Italian armed forces during the war these ambitious plans and the optimism that underlined them seem ludicrous" (406).
Schon bald nach 1945 war es besonders die Gestalt Hajj Amin al-Husaynis (1893-1974), des ehemaligen Muftis von Jerusalem, die geeignet schien, Araber und Muslime insgesamt mit dem von Deutschland aus betriebenen Genozid an den europäischen Juden in enge Verbindung zu bringen. Al-Husayni war 1937 von den Engländern aus Palästina ausgewiesen worden und hatte 1941 das kurze Intermezzo des von Deutschland begünstigten, missglückten anti-britischen Coup im Irak mitgetragen. Er floh nach Berlin und wurde von der NS-Propaganda als willkommener Antisemit begrüßt. Jeffrey Herf hat in seinem Artikel Arabischsprachige nationalsozialistische Propaganda während des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust (359-384) von al-Husayni geleitete Radio-Propaganda, die nach Nordafrika und in den Nahen Osten ausgestrahlt wurde, ausführlich analysiert. Er kommt zu dem Schluss: "Die arabisch-sprachige Propaganda NS-Deutschlands war das Ergebnis eines Aufeinandertreffens zweier unterschiedlicher Traditionen, die trotz ihrer von Grund auf verschiedenen kulturellen Wurzelns, ethnischen Unterschieden und sprachlichen Barrieren eine gemeinsame Grundlage fanden. Diese basierte auf dem gemeinsamen Hass auf die liberale Demokratie, Großbritannien, die USA, die Sowjetunion, und vor allem auf die Juden und das zionistische Projekt in Palästina." (384)
Der Mufti war nicht der einzige arabische Exilant in Deutschland. Peter Wien schildert in seinem Beitrag The Culpability of Exile. Arabs in Nazi Germany (332-358), in welche Lage arabische Studenten an deutschen Universitäten gerieten. Viele waren panarabisch und anti-zionistisch gesonnen, nicht wenige von ihnen machten sich darüber hinaus den Judenhass zu eigen, dem die Mehrzahl ihrer deutschen Kommilitonen zuneigte.
Der Mufti aber wurde zu einem Sprachrohr Adolf Hitlers - allerdings auch zu seinem Gefangenen. Er baute in seiner anti-semitischen NS-Hetzpropaganda über den Rundfunk auch Koranverse in seine Tiraden ein. Die Frage, in welcher Weise die NS-Propaganda des Muftis in arabischen Ländern rezipiert wurde, ist für die Zeit 1933 bis 1945 weitgehend untersucht und geklärt: es gab diese Propaganda überall, aber sie war nicht die dominierende Stimme. Mustafa Kabha resumiert seinen Artikel The Palestinian National Movement and its Attitude toward the Fascist and Nazi Movements 1925-1945 auf Grund seiner Studien zur palästinensischen Presse zwischen 1938 und 1945 folgendermaßen : "the claim of wall-to-wall Palestinian support for Fascism and Nazism - from their rise to their demise suffers from overgeneralization and is inaccurate, not to say absurd. Mufti Amin al-Husayni's devotion to these two regimes and his activities in their service during the 2nd World War do not prove that the entire Palestinian movement held similar views. Rather, it may be clearly stated that no wide Palestinian support of these two regimes was evident after 1938, when Palestinians began to demonstrate rejection and even complete disaffection for these two times of regimes - Fascist and Nazi - and a shift toward Britain and democracy, regardless of what they had been subjected to by Britain in previous years. While various elements among the Palestinian leadership and society professed divergent views, the main perspective, as reflected in this article, was certainly not pro-Nazi." (449f.) Ähnliches gilt für Ägypten, Syrien, Libanon und den Maghreb; nur im Iraq scheinen die Anhänger eines Flirts mit dem NS-Regime in der Mehrheit gewesen zu sein.
Die Bedeutung der Rolle des Mufti für den Holocaust wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs übertrieben (325). In der Encyclopedia of the Holocaust ist der Artikel über den Mufti mehr als doppelt so lang wie der Eintrag über Goebbels, länger als der Artikel über Eichmann und nur wenig kürzer als das Lemma "Hitler". Man darf nicht vergessen, dass die NS-Rassenideologie in den arabischen und islamischen Ländern auf völliges Unverständnis stieß - einschlägige Passagen aus "Mein Kampf" sollten in der vom Auswärtigen Amt geplanten "offiziellen" arabischen Übersetzung gestrichen oder gemildert werden. Francis Nicosia spricht weiter mit Recht von der "ideologischen und strategischen Inkompatibilität von deutschem Nationalsozialismus und arabischem Nationalismus".
Die Rolle des Muftis und die der arabischen Staaten im damaligen Nahen Osten werden dennoch von vielen Forschern deutlich negativer gesehen. Viele ziehen den Schluss: "that there is a direct line from National Socialism via the Muslim Brothers to present-day Jihadis" (327). Freitag/Gershoni lehnen solche Rundumschläge zu Recht ab. Dieses Gelände ist aber heute nach fast 50 Jahren Nahostkonflikt politisch vermint und wird es auf absehbare Zeit auch bleiben.
In zwei Richtungen können m.E. die ausgewogenen und präzisen Ausführungen von Freitag / Gershoni weitergeführt werden:
a) die Rolle der Zensur in den sämtlich unter kolonialer Herrschaft stehenden betroffenen arabischen Ländern scheint mir für den Zeitraum 1933-1945 noch nicht genügend untersucht. Hat die britische Zensur (Palästina, Ägypten, Iraq) bzw. die französische Zensur (Libanon/Syrien, Maghreb) pro-NS-Äußerungen unterdrückt?
b) Ist es möglich oder nötig, zwischen der Haltung arabischer Intellektueller und dem "einfachen Volk" in dieser Zeit zu differenzieren? In einigen zeithistorischen Romanen des ägyptischen Nobelpreisträgers Naguib Mahfouz (1911-2006) kann man fündig werden.
Stefan Wild