Stephanie Kowitz-Harms: Die Shoah im Spiegel öffentlicher Konflikte in Polen. Zwischen Opfermythos und Schuldfrage (1985-2001) (= Europäisch-jüdische Studien. Beiträge; Bd. 4), Berlin: De Gruyter 2014, VIII + 247 S., ISBN 978-3-11-027437-0, EUR 99,95
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Piotr Forecki: Reconstructing Memory. The Holocaust in Polish Public Debates (= Geschichte - Erinnerung - Politik. Posener Studien zur Geschichts-, Kultur- und Politikwissenschaft; Bd. 5), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2013, 287 S., ISBN 978-3-631-62365-7, EUR 54,95
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Katarzyna Woniak: Verdrängen und Wiederentdecken. Die Erinnerungskulturen in den west- und nordpolnischen Kleinstädten Labes und Flatow seit 1945. Eine vergleichende Studie, Marburg: Herder-Institut 2016
Hubert Leschnik: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in Polen von 1998 bis 2010, Marburg: Herder-Institut 2018
Gernot Briesewitz: Raum und Nation in der polnischen Westforschung 1918-1948. Wissenschaftsdiskurse, Raumdeutungen und geopolitische Visionen im Kontext der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte, Osnabrück: fibre Verlag 2014
Wójcik Bartosz: Vernichtungsalltag. Die deutsche Ordnungspolizei in den annektierten polnischen Gebieten 1939-1945. Fallstudie Łódź/Litzmannstadt, Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2021
Mateusz Hartwich: Das Schlesische Riesengebirge. Die Polonisierung einer Landschaft nach 1945, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012
Seit nunmehr 30 Jahren dauert in Polen die publizistische und wissenschaftliche Debatte um das Verhalten der nichtjüdischen Bevölkerung während der Shoah an und wird noch immer lebhaft geführt. Dies zeigte sich kürzlich an den Reaktionen auf einen Essay Jan Gross', der auf Deutsch in der "Welt" erschien, aber sehr wohl auch in Polen zur Kenntnis genommen wurde. Darin konstruierte Gross einen Zusammenhang zwischen der seiner Ansicht nach unbewältigten Schuld gegenüber der in der Shoah ermordeten jüdischen Bevölkerung und dem Unwillen weiter Teile der polnischen Bevölkerung, syrische Flüchtlinge aufzunehmen. [1] Zugleich kündigen die Vorabberichte zahlreicher polnischer Medien über Mirosław Tryczyks Buch Miasta Śmierci. Sąsiedzkie pogromy Żydów [Todesstädte. Nachbarschaftliche Judenpogrome] bereits eine weitere Runde in der Debatte an, stellt doch der Autor die These auf, dass es 1941/42 in 128 nordostpolnischen Städten zu Pogromen polnischer Einwohner an den jüdischen Nachbarn gekommen sei. [2] Die Ermordung polnischer Juden durch ihre nichtjüdischen Nachbarn war in Jan T. Gross' gleichnamigen Buch von 2001 erstmals tiefergehend beschrieben und einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden.
Während die Auseinandersetzung der Polen mit dem polnisch-jüdischen Verhältnis während des Zweiten Weltkriegs also noch keineswegs abgeschlossen ist, wurde sie selbst bereits zum Gegenstand historischer Forschung. Dies bezeugen die beiden hier besprochenen Bücher von Stephanie Kowitz-Harms und Piotr Forecki. Beide untersuchen die öffentlichen Debatten über die Rolle der Polen bei der Shoah. Beide beginnen mit den Reaktionen auf die Ausstrahlung von Claude Lanzmans Dokumentarfilm Shoah im polnischen Fernsehen 1985 und folgen der Debatte bis zu den Diskussionen über Jan Gross' Bücher Nachbarn im Jahr 2001 (Kowitz-Harms) bzw. Angst 2008 (Forecki). [3] Foreckis Buch ist dabei eine gekürzte und leicht überarbeitete Fassung seiner 2010 auf Polnisch erschienenen Dissertationsschrift.
So ähnlich die Themen der beiden Bücher sind, so unterschiedlich nähern sich die Autoren ihnen an. Stephanie Kowitz-Harms versteht die Debatten über die Shoah als kollektiven Lernprozess. Ziel ihrer Analyse ist es, in Anlehnung an das Konzept des Soziologen Max Miller zu überprüfen, ob in den öffentlichen Auseinandersetzungen in Polen die Voraussetzungen für einen "kollektiven Lernerfolg" (5) gegeben waren. Ziel dieses Lernprozesses solle dabei die Überwindung eines mythischen, katholisch grundierten Selbstbildes der Polen als Helden und Opfer sein, das die Anerkennung des jüdischen Leids verhindere. Forecki hingegen geht es um eine Rekonstruktion und Analyse der Debatten seit 1985, die er in den historischen Kontext eines kollektiven Vergessens der polnischen Gesellschaft einordnet. Diese habe die Shoah bis in die 1980er-Jahre hinein im Einvernehmen mit und sogar gefördert von der Regierung der Volksrepublik Polen verdrängt. Den polnischen Helden- und Opfermythos sieht Forecki jedoch nur als eine von mehreren Ursachen dafür an.
Auch der Aufbau der Arbeiten unterscheidet sich stark. Nach einer mit ca. 50 Seiten ungewöhnlich langen Einleitung für den insgesamt nur 220 Seiten umfassenden Text, gibt Kowitz-Harms zunächst einen Überblick über die vier von ihr untersuchten Debatten. Im zweiten Kapitel untersucht sie die wiederkehrenden Argumentationsstränge dieser Debatten. Das dritte Kapitel geht der Frage nach, ob im Zuge der Auseinandersetzungen eine Abkehr vom polnischen Opfermythos stattgefunden habe. Eine "Auswertung" schließt die Arbeit ab.
Foreckis Studie hingegen beginnt mit einer nur viereinhalb Seiten kurzen Einleitung, der vier chronologisch aneinander anschließende Kapitel sowie ein ausführlicher Epilog folgen. Das erste Kapitel liefert den historischen Kontext der Debatten: das kollektive Vergessen des Holocausts in der Volksrepublik Polen. Im zweiten Kapitel wird zunächst die beginnende Wiederherstellung der Erinnerung an die Shoah thematisiert, deren Beginn der Autor im Kontext der Solidarność-Gründung verortet, bevor im weiteren Verlauf die Debatten um Claude Lanzmans Film Shoah (1985) und Jan Błońskis Essay Die armen Polen blicken auf's Ghetto (1987) untersucht werden. Im dritten Kapitel springt er direkt zur Auseinandersetzung um Jan Gross' Buch Nachbarn in den Jahren 2000/2001. In dem Kapitel, das zweifellos das Herzstück der Arbeit darstellt, beschreibt er zunächst Entstehung und Struktur der Debatte. Hier grenzt er zuerst die - als "polnischen Historikerstreit" apostrophierte - wissenschaftliche Diskussion über das Buch ab. In der publizistischen Debatte stellt Forecki den Moraldiskurs jener, die Gross' Studie als Anlass einer kritischen Auseinandersetzung mit dem polnischen Selbstbild als Helden und Märtyrer sahen, der Abwehrhaltung der Verteidiger dieses Selbstbildes gegenüber. Im vierten Kapitel rekonstruiert und analysiert er die Debatte um Gross' 2008 erschienenes Buch Angst, das die antijüdische Gewalt in der unmittelbaren Nachkriegszeit thematisiert, und endet schließlich mit einem Epilog, in dem er den Fortgang der Debatte bis Anfang 2013 skizziert.
Sowohl Kowitz-Harms als auch Forecki beschreiben die Debatten seit Mitte der 1980er-Jahre als schmerzhafte und polarisierende Auseinandersetzungen der polnischen Öffentlichkeit über das Verhalten der polnischen Bevölkerung gegenüber den Juden während und auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie berühre das nationale Selbstverständnis der Polen an einer empfindlichen Stelle und führe vor Augen, dass die Geschichte Polens im Zweiten Weltkrieg deutlich ambivalenter war, als sie die meisten sowohl volkspolnischen, als auch im Exil oder im Zweiten Umlauf und nach 1989 im Land publizierten Darstellungen zeichneten. Beide Studien zeigen auf, wie eingehend die vorherige Position vor allem in der Debatte um Gross' Nachbarn infrage gestellt wurde, was einen breiten Widerhall nicht nur in den Feuilletons polnischer Zeitungen fand, sondern weite Teile der Bevölkerung erreichte. Umfragen ergaben 2001, dass 80 Prozent der Polen vom zwei Jahre zuvor fast unbekannten Pogrom in Jedwabne wussten (Forecki 212).
Im Verlauf der Auseinandersetzungen lässt sich eine zunehmende Polarisierung in der Bewertung des polnisch-jüdischen Verhältnisses während des Zweiten Weltkriegs feststellen. Stieß die Darstellung der Polen als gleichgültig bis feindselig in Claude Lanzmans Film Shoah noch fast einhellig auf Ablehnung, zeichnete sich bereits in der Debatte um Jan Błońskis Text die Herausbildung zweier gegensätzlicher Lager ab. In der Debatte um den Mord der Polen an ihren jüdischen Nachbarn in Jedwabne schließlich formten sich diese beiden Lager endgültig aus. Diese Spaltung zeigte sich deutlich in der höchst umstrittenen Entschuldigung des polnischen Präsidenten bei einer Gedenkzeremonie zum 60. Jahrestag des Verbrechens. Vertreter der katholischen Kirche, konservative Politiker und die Einwohner des Ortes Jedwabne blieben ihr überwiegend fern.
Wie aus beiden Büchern ebenfalls sehr klar hervorgeht, fanden sich in der Argumentation vor allem jener, die eine Schuld oder Mitschuld der Polen an der Ermordung der jüdischen Bevölkerung zurückwiesen, oft stereotype, nicht selten antisemitische Muster, darunter der Verweis, die Verbrechen an Juden seien eine Reaktion auf von Juden begangene sowjetische Verbrechen gewesen. Während Kowitz-Harms ausschließlich diese Argumentationslinien in den Blick nimmt - und ausführlich zu widerlegen sucht -, befasst sich Forecki auch mit den Argumentationsmustern derer, die Gross' Thesen verteidigten. Beide Studien kommen schließlich zu dem Schluss, dass die Debatte noch nicht abgeschlossen ist. Für Forecki führt der Weg zu einem solchen Abschluss über eine fortgesetzte, schmerzhafte Auseinandersetzung mit dem Thema. Kowitz-Harms hingegen sieht zum einen die Presse in der Pflicht, auf stereotype und sachlich falsche Argumente zu verzichten und zum anderen die Notwendigkeit einer neuen Identitätskonstruktion der Polen, jenseits des Opfer- und Heldenmythos.
In der Gegenüberstellung der beiden Bücher bleibt festzuhalten: Die klare Struktur, die gelungenen, knappen Zusammenfassungen und die getrennte Untersuchung der wiederkehrenden Argumentationslinien in den einzelnen Debatten gehören eindeutig zu den Stärken von Kowitz-Harms Buch. Zu den ausgemachten Schwächen hingegen gehört die oft mangelhafte historische Kontextualisierung ebenso wie eine unklare Terminologie. So verwendet die Autorin in der Einleitung mehrere Seiten auf die Herleitung des polnischen Helden- und Opfermythos aus der Romantik als zentralem Bezugspunkt der polnischen Geschichtsdeutung. Den immensen Zerstörungen Polens während der deutschen Besatzung und dem, im Vergleich zu den polnischen Juden fraglos deutlich geringeren, aber dennoch enormen Leid der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung, räumt sie hingegen nur zwei Absätze ein. Dabei würden gerade diese Informationen dem Leser verständlich werden lassen, warum sich die Polen durchaus als Opfer fühlen konnten. Auch die Besonderheiten der Shoah in Ost- und Ostmitteleuropa hätten eine ausführlichere Würdigung verdient.
Besonders unangenehm fällt außerdem auf, dass die Autorin einerseits immer wieder von der Schuld oder Mitschuld der Polen am Judenmord, andererseits jedoch konsequent von einer "nationalsozialistischen Besatzung" Polens schreibt. Dies ist nicht nur ahistorisch - schließlich besetzte nicht die NSDAP, sondern das Deutsche Reich Polen - sondern könnte im ungünstigsten Fall als Versuch ausgelegt werden, die Schuld der Deutschen an der Besatzung Polens und der in diesem Zuge begangenen Verbrechen an Polen und Juden zu relativieren.
Foreckis Buch hingegen besticht gerade durch seine umfassende Einbettung der Debatte in die polnische Nachkriegsgeschichte. Auch gelingt es ihm besser als Kowitz-Harms, die Argumentationslinien beider Seiten kritisch zu analysieren, wenngleich auch seinem Buch die Positionierung des Autors zum Gegenstand unschwer zu entnehmen ist. An manchen Stellen verliert sich Forecki allerdings in der Detailfülle seiner Darstellung. Weit schwerwiegender ist jedoch sowohl die mangelhafte Übersetzung des Buches, die stilistisch oft das Niveau eines wissenschaftlichen Textes verlässt, wie auch die lausige Redaktion des Bandes, die sich an zahllosen Rechtschreibfehlern, Falschformatierungen und vereinzelt stehengebliebenen Sätzen der polnischen Vorlage zeigt. Beides schmälert den Gesamteindruck des Buches, das für all jene, die kein tiefergehendes Vorwissen über die polnisch-jüdischen Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs und die Geschichte Polens im 20. Jahrhundert mitbringen, dennoch das empfehlenswertere bleibt.
Da nichts auf das baldige Ende der polnischen Auseinandersetzungen um das polnisch-jüdische Verhältnis während des Zweiten Weltkriegs und der Shoah hindeutet, steht zu erwarten, dass die wissenschaftliche Befassung mit dieser Debatte weitergeht. Wünschenswert wäre dabei eine Erweiterung des Fokus, hin zu einer Verortung der Debatte im ostmitteleuropäischen Kontext. Dass nämlich in keinem anderen ehemals staatssozialistischen Land eine derart früh beginnende und tiefgehende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle bei der Shoah stattfand wie in Polen, wird in keinem der hier angezeigten Bücher erwähnt.
Anmerkungen:
[1] Jan T. Gross: Die Osteuropäer haben kein Schamgefühl, in: Die Welt, 14. September 2015.
[2] Mirosław Tryczyk: Miasta śmierci. Sąsiedzkie pogromy Żydów, Warszawa 2015. Das Buch erschien am 21. Oktober 2015.
[3] Jan T. Gross: Nachbarn: der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001 (polnisch: 2000); Ders.: Angst: Antisemitismus nach Auschwitz in Polen, Berlin 2012 (polnisch: 2008).
Stephan Stach