Rezension über:

Harald Engler: Wilfried Stallknecht und das industrielle Bauen. Ein Architektenleben in der DDR, Berlin: Lukas Verlag 2014, 155 S., 14 Farb-, 119 s/w-Abb., ISBN 978-3-86732-174-7, EUR 25,00
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Rezension von:
Juliane Richter
Leipzig / Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Oliver Sukrow
Empfohlene Zitierweise:
Juliane Richter: Rezension von: Harald Engler: Wilfried Stallknecht und das industrielle Bauen. Ein Architektenleben in der DDR, Berlin: Lukas Verlag 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 12 [15.12.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/12/27266.html


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Harald Engler: Wilfried Stallknecht und das industrielle Bauen

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Das Titelmotiv fällt auf: Ein Haus ist schräg auf die Seite gekippt, Bauarbeiter stehen im Halbkreis davor, Hände in die Hüften gestützt, fotografierend. Was wie ein böses Missgeschick aussieht, illustriert in Wirklichkeit die praktische Umsetzung des sogenannten "Gleitkipp-Verfahrens", das es ermöglichte, horizontal mit "gleitender Schalung" gefertigte Häuser aufzurichten. Dem vielseitig begabten Erfinder dieses Verfahrens, Wilfried Stallknecht (* 1928), widmet der am Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner tätige Historiker Harald Engler eine aus mehreren Gründen interessante Biografie: Als Tischlermeister, Innenraumgestalter, Möbeldesigner, Architekt sowie Stadtplaner und Wissenschaftler begleitete und formte Stallknecht eine ganze Bau-Epoche. Sein individueller Werdegang steht repräsentativ für einen ganzen Berufsstand. Die Studie porträtiert weit mehr als nur "Ein Architektenleben in der DDR". Anhand der akteurszentrierten Betrachtung lässt sich ein großer Teil der Baugeschichte der DDR nachverfolgen. Stallknecht prägte das Antlitz vieler Wohngebiete ganz entscheidend, da er die Plattenbauserie P2 (die zweite Generation von Großplatten für den Wohnungsbau) mit entwickelte und Ende der 1960er-Jahre die Wohnungsbauserie (WBS) 70 auf den Weg brachte. Auch Serien für Eigenheime ("EW 54" und "EW 58") entwickelte er - ein bisher vernachlässigtes Kapitel in der Forschung. In seinem Gesamtwerk kann man Kontinuitätslinien beobachten und gleichzeitig den Kampf gegen die Zwänge des ökonomisch stark determinierten Bauwesens und für mehr Variabilität des Typenbaus und ein ganzheitliches Verständnis von Architektur und Wohnen.

Das IRS arbeitet schon seit Längerem DDR-Architektenbiografien auf. [1] Mit dem Erwerb des Vorlasses von Stallknechts hat es die Basis geschaffen für eine Ausstellung (2009) und eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Architekten, der, obwohl wegweisender Erfinder und Baumeister, bis heute weniger bekannt ist als die Stars des Berufszweigs. Engler beleuchtet in seiner Monografie chronologisch die Stationen von Stallknechts (Berufs-)Biografie, duchflicht sie mit erläuternden Einschüben zu bedeutsamen Entwicklungen des DDR-Städtebaus und der -Architektur und wechselt so beständig von der Mikro- zur Makroebene. Dabei porträtiert er, entsprechend Stallknechts breit aufgestellter Ausbildungsbasis, den Architekten, den Stadtplaner und den Innenarchitekten in jeweils getrennten Kapiteln.

Zunächst schildert der Autor erste Berufserfahrungen Stallknechts im "Zentralinstitut für Entwurf" (ab 1957 Institut für Typung) (17-28). Hier beschäftigte er sich mit einem Thema, das sowohl für ihn als auch für das Bauwesen der DDR zentral war, nämlich der Übergang vom handwerklichen zum industrialisierten, seriellen Bauen im großen Maßstab. An der Deutschen Bauakademie (ab 1973 Bauakademie der DDR), wo er 1959-85 an verschiedenen Instituten tätig war, wirkte er mit seinem Kollektiv an diversen Projekten mit. Engler charakterisiert Stallknechts Arbeitsweise als "solide und innovativ" - er gehörte nicht zur "rebellisch-progressiven Generation" junger Architekten (51). Gleichwohl ging es ihm immer darum, die Grenzen der Variabilität im standardisierten Wohnungsbau auszuloten und Varianten zu ermöglichen. Sei es etwa in der Großplattenbauserie P2, die er zusammen mit Achim Felz, Herbert Kuschy und Franz Kosterka entwickelte und die zur wichtigsten Plattenbauserie der 1960er wurde, wobei ihre Konstruktionsprinzipien "freie Grundrissgestaltung und das offene Wohnen" begünstigte (32). Sei es in Bezug auf Innovationen für das Industrielle Bauen, das weitaus mehr war als nur Plattenbau (40-51), in der Entwicklung von Möbeln (74-79) oder eines Bahnhofs nach dem Park-and-Ride-Konzept (86) - Stallknecht war ein großer Erfinder und ist es bis heute. Allein über 20 Patente soll er bis zum Jahr 2013 angemeldet haben. [2]

Eine Studie von 1969, die Stallknecht mit Achim Felz erarbeitete (46), lieferte die Grundlage für die Entwicklung der WBS 70, die ab den 1970ern zur dominierenden Wohnungsbauserie der DDR wurde (48). Der Anteil Stallknechts an dieser Entwicklung ist bisher nicht ausreichend gewürdigt worden. [3] Die praktischen Auswirkungen der WBS 70, von der Verringerung der gestalterischen Vielfalt und Qualität bis hin zu Verödung und Monotonisierung, genügten den Ansprüchen des Architekten jedoch nicht (49). Erst während einer späteren Arbeitsstation am Institut für Wohnungs- und Gesellschaftsbau der BA konnte er sich seinen "Vorstellungen eines variablen Wohnungsbaus in Plattenbauweise" (50) wieder zuwenden: Bei der Altstadtsanierung von Bernau, die als Erprobungsraum und Beispielort weiterer Innenstadtumgestaltungen der DDR fungieren sollte (63-71). Stallknecht begleitete hier eine wichtige Strömung des DDR-Städtebaus: Auf das Veröden der Altstadtkerne reagierte man - parallel zum BRD-Leitbild einer "Behutsamen Stadterneuerung" - mit einer Rückkehr zum innerstädtischen Bauen. Da mittlerweile das Bauwesen beinahe komplett auf Plattenbau ausgerichtet war, sollte mit teils individuell gestalteten Plattenbauelementen in den kleinteiligen Grundrissen gewachsener Städte interveniert werden [4] - mit qualitativ höchst unterschiedlichen Ergebnissen. Insbesondere das Bernauer Beispiel wird in der Fachwelt kritisch beurteilt [5], riss man hier doch große Teile der Altstadt ab, ohne eine Sanierung ernsthaft anzustreben, um sie danach als "Ersatzneubauten" in Plattenbauweise wiederaufzubauen. Neben ökonomischen Gründen gab es hierfür auch ideologische, denn, wie Engler richtig bemerkt, "die radikale Umgestaltung als Tabula-Rasa-Methode mit der zielgerichteten Auflösung der alten privaten Eigentumsverhältnisse eröffnete aus Sicht der Parteiideologen ganz andere Möglichkeiten der sozialistischen Stadtplanung." (64) Dennoch versuchte Stallknecht, der die Umgestaltung mit seinem Kollektiv seit 1972 leitete, unter den gegebenen Verhältnissen und den zentral formulierter Grundsatzentscheidungen, eine gewisse Variabilität bezüglich Farb- und Oberflächengestaltungen sowie in der stadträumlichen Anordnung zu schaffen (68). Insgesamt waren dies jedoch eher unzureichende Versuche und Kompromisslösungen im starren System der "Platte". Etwas bemüht wirkt daher Englers Versuch, dem Projekt aus heutiger Sicht etwas Positives abzugewinnen, z.B. mit dem Hinweis darauf, dass die Gebäudesubstanz nicht so wertvoll sei, wie in der Literatur oft behauptet wird und ein Großteil der Bevölkerung ohnehin froh gewesen sei, aus ihren baufälligen Häusern auszuziehen (64). War auch eine Renovierung und Modernisierung der Lebensbedingungen erwünscht, so war es ein Abriss der gesamten baulichen Identität Bernaus keinesfalls - worauf der Autor wiederum selbst hinweist. Man muss dieses Vorgehen auch im Kontext des Zeitgeistes sehen, der auch in Westdeutschland bis Mitte der 1970er noch Flächenabriss statt Sanierung präferierte.

Als Möbeldesigner (72-79) profilierte sich Stallknecht ebenfalls mit dem Anspruch, "der Monotonie und dem grauen Einerlei der großen Plattenbausiedlungen von außen ein individuelles Moment der Wandlungsfähigkeit und Variabilität im Inneren entgegenzusetzen." (73) Mit erfrischendem Erfindungsreichtum, ästhetisch und funktionell überzeugenden Entwürfen und erstaunlicher Produktivität unter schwierigen Bedingungen entwickelte er verschiedene Grundrisslösungen und - als jene wieder und wieder auf nur wenige Varianten reduziert wurden - Schrankwandsysteme (74-79). Später verfasste er hierzu auch seine Habilitation (81-83), die jedoch nicht in eine Berufung mündete.

Eine Kontextualisierung des Schaffens Stallknechts vollführt Engler durch einen abschließenden, als "Essay" betitelten Beitrag zur "Platte im industriellen Wohnungsbau der DDR". Hier setzt sich der Autor überblicksartig mit der Technologie der Großtafelbauweise, begrifflichen und bautechnologischen Fragen, Ursprüngen sowie soziologischen, ästhetischen und politischen Hintergründen und Verflechtungen auseinander (92-131). Die Betrachtung folgt in einem chronologischen Abriss der Plattenbauentwicklung bis hin zur "Innenstadtplatte", ihren Varianten und endet mit einer kritischen Einordnung der Auswirkungen des "Systems Platte" auf die gebaute Umwelt der DDR (123-127).

Engler ist eine informative, solide, ausführlich belegte und reich bebilderte Studie eines singulären Architektenlebens in der DDR gelungen. Vielleicht liegt es an der Schwierigkeit, die Einzelleistung des Individuums im Kollektiv herauszuschälen oder auch am als zurückhaltend beschriebenen Naturell Stallknechts, dass er nach wie vor weniger bekannt ist als andere DDR-Architekten. Engler jedenfalls bewertet ihn als "prototypischer als manchen großen Namen der ostdeutschen Architekturszene" (89). Es bleibt zu hoffen, dass Stallknecht in Zukunft aufgrund seines großen Erfindungsreichtums und der Qualität seiner Entwürfe tatsächlich mehr Aufmerksamkeit erfahren wird.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Thomas Topfstedt / Holger Barth: Vom Baukünstler zum Komplexprojektant. Architekten in der DDR, Erkner 2000. Teilweise online zugänglich über http://www.digiporta.net.

[2] Entwerfen im System. Der Architekt Wilfried Stallknecht, Ausstellungskatalog TU Cottbus / IRS 2009, 11, Onlineressource: http://www.irs-net.de/download/katalog_stallknecht.pdf.

[3] Richtig erwähnt bei: Thomas Topfstedt: Wohnen und Städtebau in der DDR, in: Ingeborg Flagge (Hg.): Geschichte des Wohnens Bd. 5: 1945 bis heute. Aufbau - Neubau - Umbau, Stuttgart 1999, 517f.; Thomas Hoscislawski: Bauen zwischen Macht und Ohnmacht, Architektur und Städtebau in der DDR, Berlin 1991, 328.

[4] Kirsten Angermann / Tabea Hilse: Altstadtplatten. "Komplexe Rekonstruktion" in den Innenstädten von Erfurt und Halle (= Forschungen zum baukulturellen Erbe der DDR; Bd. 2), Weimar 2013; sowie zuletzt Juliane Richter / Katja Weise: DDR-Architektur in der Leipziger Innenstadt (= Forschungen zum baukulturellen Erben der DDR; Bd. 5), Weimar 2015.

[5] Topfstedt 1999, 548.

Juliane Richter