Dirk Handorf / Jörg Kirchner (Hgg.): Alles Platte? Architektur im Norden der DDR als kulturelles Erbe (= Forschungen zur DDR-Gesellschaft), Berlin: Ch. Links Verlag 2018, 238 S., 251 Abb., eine Kt., ISBN 978-3-96289-001-8, EUR 30,00
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"Alles Platte?" Der Titel des Buchs greift eine verbreitete Polemik gegenüber der Architektur der DDR auf und stellt sie sogleich infrage. Der Band geht auf eine Tagung zurück, die 2016 vom Landesamt für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern über die Architektur in den Bezirken Schwerin, Rostock und Neubrandenburg veranstaltet wurde. Die 18 Beiträge stellen die Bewertungen dieser Architektur in der (Fach-)Öffentlichkeit vor und formulieren dabei Vorschläge und Kriterien für die Bewahrung des Erhaltenen. Nicht zuletzt wird beabsichtigt, eine Bestimmung des "typisch Nordischen" zu geben. Dass die gegenwärtige Inwertsetzung mitunter überzeugend gelingt, hat auch mit der Typik und Qualität des Bauens jener Jahre im Norden in der DDR zu tun. Für das Ausnutzung der Möglichkeiten einer individuellen Gestaltung industrieller Bauweise in den Großwohnsiedlungen und in den Stadtzentren gibt es vor allem in Rostock hervorragende Beispiele, wie Peter Writschan zeigt (47-55). Das Fünfgiebelhaus im Stadtzentrum ist sicherlich das bekannteste Beispiel hierfür. Auf die bürgerschaftlich geprägte hanseatische Tradition, die selbstbewusste, engagierte Haltung und den beruflichen "Eigensinn" der Rostocker Architekten und Architektinnen sowie Stadtplaner und Stadtplanerinnen, ihre Netzwerke, Handlungsspielräume und institutionellen Paradoxien wies Frank Betker 2005 hin. [1] Die Sonderstellung Rostocks zeigt sich auch nach 1990 in der behutsamen Sanierung von DDR-Architektur und -Freiraumgestaltungen in der Altstadt, aber auch in Großwohnsiedlungen [2], wie schon 2014 auf der "Denkmal Ostmoderne II"-Tagung in Weimar eindrücklich und im Gegensatz zu den anderen ostdeutschen Bundesländern deutlich wurde. [3] Der Band ist gegliedert nach Forschungskategorien (u.a. Verhältnis von Stadt und Land, funktional-typologische Kriterien, Rezeption und heutiger Umgang) und stellt Beispiele für (Wieder-)Aneignungen von teils bedrohten Bauwerken vor, etwa der Volksschwimmhalle Schwerin-Lankow (202-208). Die Rettung dieses Denkmals buchstäblich in letzter Sekunde hat das Spannungspotential eines Kriminalromans. Überhaupt gibt es in jüngerer Zeit viele Beispiele einer positiven Wahrnehmung und Identifizierung mit jener Architektur. [4]
Im einleitenden Text von Jörg Kirchner wird die Rezeption im wiedervereinigten Deutschland betrachtet, vor dem Hintergrund, dass "die in der [...] DDR entstandene Architektur, und damit auch die im Norden des Landes, [...] nicht selbstverständlich zum Bereich des kulturellen Erbes gezählt [wird]" (14). Auch werden die Herausforderungen für die Denkmalpflege skizziert. Jedoch ist, anders als der Autor feststellt, wenn er von einer nahezu durchweg positiven Rezeption des Plattenbaus in Ost und West bis zur Wende spricht (16), die Kritik an der Einseitigkeit des nahezu vollständig auf Plattenbauweise ausgerichteten DDR-Bauwesens auch unter den Architekten und Architektinnen in der DDR belegt. [5]
Aktuell machen von ca. 30.000 ausgewiesenen Denkmalen in Mecklenburg-Vorpommern Bauten aus der DDR nur rund 2 % (650 Bauten) aus (17). Außerhalb der Städte ist die Lage oft noch schwieriger, wie Alexander Schacht am Landkreis Rostock zeigt (65- 80). Dies ist besonders bedauernswert, weil auf dem Land viele, teils ganz andere Typen gebaut wurden, etwa Kulturhäuser (30-31). Auch mit Industriebauten tut sich die Denkmalpflege heute noch schwer, was Jessica Hänsel in ihrem kompakten Überblick zu den wesentlichen Entwicklungsschritten des Industriebaus im Norden demonstriert (106-117).
Im Band werden nicht nur die "Perlen" vorgestellt, wie etwa die Schalenbauten Ulrich Müthers (Tanja Seeböcks, 134-142), deren Rezeption mittlerweile über Fachkreise hinausreicht. [6] Es geht auch um die (Wohn-)Architektur der innerstädtischen Plattenbauten der 1980er Jahre, die Kirsten Angermann (95-105, mit großartigen Fotos) "zwischen Neo-Hanse-Gotik und Ost-Moderne" einordnet und die Frage nach der dem typisch Norddeutschen jener Plattenbauten ambivalent beantwortet (102f.): so gäbe es im Bezirk Rostock Bezüge zur Hansegotik, in den anderen Bezirken nehmen diese ab, was auch auf die verminderte Bautätigkeit auf dem Land zurückgeführt werden kann. Sie schließt mit der Feststellung, dass "innerstädtische Projekte der DDR-Zeit [meist] in Denkmalbereichen erfasst, jedoch nicht als konstituierende Bestandteile beschrieben" werden (103). Gefahr drohe durch energetische Sanierungen in Form von Außendämmungen.
Dass Varianz und Gestaltungsreichtum nicht nur der "Innenstadtplatte" vorbehalten war, führt Roman Hillmann aus, wobei er die Leser und Leserinnen durch die oftmals nicht stringenten und verwirrenden Typenbezeichnungen jener Zeit führt (82-94). Er zeigt, wie jedes Rostocker Wohngebiet eine eigene Typensegmentserie erhielt (82), die teils von zentralen Wohnungsbau-Typen ausging, teils aber eigenständige Entwicklungen des Wohnungsbaukombinates Rostock waren.
Jana Frank (175-182) widmet sich mit den Sperranlagen an der innerdeutschen Grenze (Grenztürme, Zäune, Wälle) den "unbequemen" Baudenkmalen und der Frage der Darstellbarkeit des Erbes, wenn die physischen Artefakte so gut wie verschwunden sind. Man merkt dem Text die archäologische Prägung der Autorin an: "Hier ist es erforderlich, Grundeigentümer und Naturschützer dringend für die Belange der Bodendenkmalpflege zu sensibilisieren" (181). Stefan Stadtherr Wolter (158-174) beleuchtet die DDR-Geschichte des als KdF-Seebad geplanten, in der DDR zur Kaserne ausgebauten Monumentalprojekts in Prora auf Rügen. Er erzählt dessen Geschichte nach 1945, kritisiert die einseitige Rezeption als "NS-Hinterlassenschaft" und stellt fest, dass es hingegen "mindestens ebenso verbunden mit der Geschichte der SED-Diktatur und des Kalten Krieges" ist (158). Vor dem aktuellen Hintergrund der Privatisierung des Baus schlägt er ein Vermittlungsformat vor, das alle Zeitschichten einbezieht (165).
Der Band bietet erhellende Einblicke in Tiefe und Breite der Architekturentwicklung im Norden der DDR. Mehr Querverweise, die abgesehen von der Einleitung nicht konsequent gesetzt wurden, würden noch stärkere Verbindungen zwischen den Texten schaffen, doch das ist nur Makulatur. Eine umfassende Geschichte des Sujets steht indes noch aus und wäre wünschenswert. Sie kann auf den vorliegenden Band aufbauen.
Anmerkungen:
[1] Frank Betker: Einsicht in die Notwendigkeit. Kommunale Stadtplanung in der DDR und nach der Wende (1945-1994), Stuttgart 2005, zu Rostock siehe 66-81.
[2] Die Fußgängerzone Lichtenhäger Brink wurde 1984 unter Denkmalschutz gestellt und behielt diesen Status auch im wiedervereinigten Deutschland bei. 2016/17 wurde mit der Sanierung unter Beibehaltung der historischen Strukturen begonnen (vgl. Uta Jahnke, 210-216). Ambivalent fällt die Bewertung des Umgangs mit dem 'Sonnenhochhaus' in Rostock-Evershagen aus, dessen Giebel 1978 unter Schutz gestellt wurde, nicht jedoch der restlichen Baukörper, sodass bei einer Sanierung 1999 die markant geschwungenen Balkone durch verglaste Loggien ersetzt wurden (vgl. Peter Writschan, 53-54).
[3] Vgl. Mark Escherich (Hg.): Denkmal Ostmoderne II, Berlin 2016.
[4] So spricht der Philosoph Lothar Kühne 1984 von der "Unterproduktion an Raumbedingungen menschlichen Lebens [...] infolge der Verselbständigung des Produktionsökonomischen". Zit. nach Simone Hain: "Zwischen Arkonaplatz und Nikolaiviertel", in: Paul Kahlfeldt et al. (Hg.): Stadt der Architektur, Architektur der Stadt, Berlin 2000, 317-336, hier 337. An der Bauakademie wurden dazu Forschungen angestellt, vgl. die Zusammenfassung von Carl Krause: Zur Qualität der Baukörpergestaltung, in: Bauinformation, Bauforschung, Baupraxis, hg. von Bauakademie der DDR, Berlin 1987, 5-78, hier 15-17.
[5] Zum Kampf um das bedrohte Erbe, künstlerische Auseinandersetzungen mit Plattenbau und Großwohnsiedlungen bis hin zu gegenwärtigen popkulturellen Phänomenen der Wiederaneignung vgl. Juliane Richter: Moden und Emotionen. Zur aktuellen Rezeption der Architektur der 1960er bis 1980er Jahre in Medien, Kunst und Populärkultur, in: Rationelle Visionen. Raumproduktion in der DDR, hgg. von Tino Mager / Bianka Trötschel-Daniels, Weimar 2019, 190-208.
[6] Dennoch sind nach wie vor wichtige Bauten des "Schalenbaumeisters" gefährdet, wie etwa die Magdeburger Mehrzweckhalle mit Hyparschale (141), bei der die Sanierung erst im Dezember 2019 begonnen wurde.
Juliane Richter