Bernhard C. Schär: Tropenliebe. Schweizer Naturforscher und niederländischer Imperialismus in Südostasien um 1900 (= Globalgeschichte; Bd. 20), Frankfurt/M.: Campus 2015, 374 S., ISBN 978-3-593-50287-8, EUR 43,00
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Als die Basler Vettern Fritz und Paul Sarasin im Frühjahr 1893 zu einer großen Forschungsreise aufbrechen, sind sie bereits gut etablierte Wissenschaftler. Die Naturforscher schiffen sich nach Celebes, dem heutigen Sulawesi, ein. Sie werden mehrere Jahre bleiben, die Insel an verschiedenen Stellen durchqueren, Flora, Fauna und Bevölkerung kartieren, vermessen, katalogisieren. Der zeitgenössische Ruhm der Sarasin-Vetter basiert auf den Forschungsergebnissen und materiellen Sammlungen, die aus den Reisen hervorgehen und von denen der Großteil bis heute im Naturhistorische Museum in Basel verwahrt und gezeigt wird. Weniger bekannt sind andere Aspekte der Expeditionen: Fragen der Repression, die die Expeditionen im Gefolge hatten, die Koalitionen mit den kolonialen Machthabern vor Ort, der Interaktionen zwischen Forschern und 'Einheimischen' oder die Auswirkungen der Reisen auf die Reinterpretation der Schweizer Urgeschichte.
Der Historiker Bernhard Schär hat sich auf die Spur der Sarasins gesetzt. Er folgt ihnen von Basel nach Celebes, untersucht ihre Forschungen und Beziehungen vor Ort und verfolgt dann ihren Weg zurück in die Schweiz. Das scheint zunächst eine konventionelle biographische Herangehensweise zu sein, aber was Schär aus dem Nachsetzen entwickelt, ist nicht nur ein erstaunliches Kapitel der seit einiger Zeit manifesten Kolonialgeschichte der kolonie-losen Schweiz und ein glänzendes Stück postkolonialer Analyse, sondern zudem eine detaillierte Feldstudie globaler Verflechtungen und Verkopplungen. Schär selbst nennt die Studie einen "Beitrag zu einer sozialgeschichtlich informierten Globalgeschichtsschreibung von unten" (13). Das trifft es ganz gut, und reicht doch nicht für die Reichweite der mäandernden Fragestellungen und des vielfältigen methodischen Zugriffs aus.
Bereits die Mehrdeutigkeit des Titels "Tropenliebe" ist Programm: Zum einen kennzeichnet sie treffend die Faszination europäischer Forscher für die tropische Fremde, zum anderen stellt Schär die Gefühlswelt von zwei unzertrennlichen Freunden vor, denen die Forschungsreise in den Süden auch Gelegenheit gibt, weit entfernt der baslerischen Konventionen ihre außergewöhnliche Beziehung oder "unaussprechlichen Liebe", wie Schär es treffend beschreibt, zu leben. Mit diesem außergewöhnlichen Aufschlag eröffnet sich der Blick auf ihre Forschungsreisen.
Das Buch gliedert das Untersuchungsfeld zwischen Basel und Celebes in vier Teile: Im ersten Teil "Basel globalisieren" geht es zunächst um die Herkunft und biografischen Hintergründe der beiden Naturforscher inmitten des 'Teigs' des Basler Bürgertums. Schär verortet Basel, die eigentümlich provinzielle und doch zentrale Schweizer Stadt, im imperialen Raum und skizziert eindrücklich, wie tief die globalen Beziehungen dort bereits verankert waren und Handel, Wissenschaft und Habitus des Patriziats prägten. Nicht zuletzt konnten sich die beiden Vettern ihre kostspieligen Forschungsreisen aufgrund des Vermögens ihrer Väter leisten, die auf der Baumwoll- und Seidenverarbeitung fußen. Im zweiten Teil mit dem Titel "Feldforschung an der Frontier" untersucht Schär die Machtkonstellationen auf der Insel Celebes vor und nach der Expedition der Sarasins. Sie mochten sich als freie 'Entdecker' gerieren, aber da sie bei allen Unternehmungen auf Schutz und Einverständnis der niederländischen Kolonialmacht angewiesen waren, waren sie untrennbar mit deren militärischen Übergriffen und Expansionsbewegungen verbunden. Sie ließen ihre einheimischen Träger die Schneisen ins vermeintliche Dickicht schlagen, auf denen später niederländische Truppen die militärische Eroberung des Inselinneren vorantrieben. Die niederländische Regierung hatte indes guten Grund, die beiden selbstzahlenden Forscher "als Speerspitzen der Zivilisation" (177) zu protegieren - sie profitierte in jeder Hinsicht von deren Erkenntnissen. Die wissenschaftlichen Ergebnisse wurden aufmerksam in der niederländischen Öffentlichkeit verfolgt und stabilisierten die Außenpräsentation als aufgeklärte und zivilisierte Nation.
Der dritte Teil - "Rätselhaftes Celebes" - geht der Frage nach, worauf die Sarasins bei ihrer Reise eigentlich abzielten. Sie bemühten sich bei ihrer 'Feldforschung' zum einen um die Klärung der Grenzen zwischen dem asiatischen und australischen Kontinent, zum anderen um die Lösung spezifischer evolutionstheoretischer Fragen, besonders die Verbreitung menschlicher 'Rassen'. Mit diesen Fragestellungen konnten sie sich im "transimperialen Wettstreit der europäischen Naturforscher" (296) profilieren. Ihre Expedition beutete dabei "quasikolonial" die Körper und das Wissen der einheimischen Bevölkerung vor Ort aus. Dabei wird auch deutlich, dass die 'Informanten' sich durchaus bewusst waren, welche Kenntnisse sie wie an die Sarasins weitergaben und deren Zugriff begrenzt und manipulierbar war. Die verschiedenen Informanten nutzten also entsprechend ihrer Lesart vor Ort ihre Handlungsoptionen. Ihre Interpretationen prägten die Erzählung der Sarasins: So waren beispielweise ihre Erkenntnisse kategorial vorstrukturiert durch die Kultur der herrschenden Bugis. Hier wird deutlich, dass das Wissen der Sarasins fragmentiert, die südostasiatische Wirklichkeit auslegungsbedürftig bleiben musste. Schär beschreibt dieses Durchschimmern anderer Erfahrungen und Lesarten in den Werken der Sarasins als Palimpsest - eine Metapher, die auch seine Technik des historischen Freilegens vergessener Wissenstransfers beschreibt.
Der letzte Abschnitt des Buches verfolgt, wie die Sarasins das Wissen, das sie auf ihren Forschungsreisen im kolonialen Süden erwarben, in europäische und Schweizer Debatten einspeisten. Sie bezogen ein gemeinsames Haus in Basel und wurden als renommierte Forschungsreisende Teil der wissenschaftlichen Elite der Schweiz. Beide Sarasins übernahmen bald zentrale Posten in naturwissenschaftlichen und kulturpolitischen Netzwerken. Ihre Erfahrungen setzten sich in wissenschaftlichen Praktiken und gesellschaftlichen Konzepten fort. Schär beschreibt diese Fortsetzung anschaulich am Beispiel des nach den Forschungsreisen fortgeschriebenen Rassetheorien und des neu erweckten Interesses der Sarasin-Vetter an einer 'ursprünglichen' schweizerischen Natur und Menschen, an einer alpinen Urgeschichte.
Schär hat nicht nur eine vielgestaltige und im besten Sinne ausufernde Geschichte des Schweizer Kolonialismus und der transimperialen Wissenschaft geschrieben, sondern auch ein 'Lehrbuch'. Wer die Pluralität der Globalgeschichte ernst nimmt, muss methodisch offen sein. Den Beweis führt der Autor - seine Beobachtungen sind bisweilen auch deshalb so verblüffend, weil sie sich aus einem großen methodischen und interdisziplinären Repertoire speisen. Er benutzt unter anderem das bourdieusche Feld-Habitus-Konzept, greift auf Instrument der Genderstudies und eine aufmerksame Analyse der visuellen Quellen zurück und demonstriert, wie produktiv ein weit geöffneter Methodenkoffer für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung ist. Man möchte diese so klar strukturierte Untersuchung allen empfehlen, die sich auf das weite Feld zwischen Lokal- und Globalgeschichte wagen. Denn es zeigt mit erzählerischer Eleganz welch erstaunliches historisches Panoptikum sich aus einem mäandernden und furchtlosen Forschen ergeben kann.
Anna-Katharina Wöbse