Amir Zelinger: Menschen und Haustiere im Deutschen Kaiserreich. Eine Beziehungsgeschichte, Bielefeld: transcript 2018, 401 S., 1 Abb., ISBN 978-3-8376-3935-3, EUR 39,99
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"Menschen und Haustiere im Deutschen Kaiserreich" - beim Lesen des Titels der Dissertation des Historikers Amir Zelingers mögen umgehend einige der weitverbreiteten tierlichen Stereotypen dieser Zeit vor dem inneren Auge erscheinen: Bernhardiner und Dackel, die zwischen Kindern in Matrosenanzügen einen dekorativen Platz auf den Familienbildern zugewiesen bekamen, Kanarienvögel in ziselierten Käfigen auf Kommoden mit Häkeldecke, Goldfische in kahlen, kugelförmigen Aquarien auf schweren Schreibtischen. Allesamt Symbole der durch und durch kontrollierten Verhältnisse zwischen Tier und Bürger, Ausdruck für das hierarchisch kontrollierte Beziehungsgeflecht der Wilhelminischen Gesellschaft, die tief in das Private abstrahlte. Wie gesagt - das sind Stereotype, und der Historiker Armir Zelinger macht sich in seiner Forschungsarbeit daran, sie grundlegend zu hinterfragen und ein vielschichtigeres Bild der Mensch-Tier-Beziehungen dieser Epoche zu zeichnen.
Zelinger wagt sich also aus der traditionellen Sozial- und Gesellschaftsgeschichtsschreibung des Kaiserreichs hinaus. Er verortet seine Forschung auf dem Feld der sich in den letzten Jahren auch in Deutschland etablierenden Tiergeschichte. Schon seit geraumer Zeit geht es dabei nicht mehr darum, die Tiere nur als Stellvertreter, als Projektionsfläche oder als Objekte im Transformationsprozess menschlicher Gesellschaften zu 'lesen'. Vielmehr zielt der Autor entsprechend einer nicht menschenzentrierten Geschichtsschreibung darauf ab, die besondere Nähe von Haustier und Mensch dazu zu nutzen, die Geschichte von humananimalischer "Intimität", von Verpartnerschaftlichung und gar Freundschaften zu erzählen (22). Bei Zelinger klingt zunächst an, dass er den Anspruch einer symmetrischeren Tier-Mensch-Geschichte ernst nimmt: Ein "wirklich humananimalisches Bild des sozialen Lebens der Vergangenheit" müsse auch die "physischen Spuren in den Gesellschaftskonstellationen der Vergangenheit" (19) berücksichtigen. Hier knüpft er an eine der Schlüsselfragen an, die auch die die Umweltgeschichte seit ihrer Frühzeit immer wieder umtrieb: Wie kann man eigentlich eine nichtanthropozentrische Tiergeschichte schreiben?
Zelinger hat sein Buch entlang von vier innovativen Zugriffen strukturiert, die Schlüsse auf das sich im Kaiserreich verändernde Geflecht der Annäherung zwischen Mensch und Tier, genauer gesagt zwischen Mensch und Haustier, zulassen. Dafür hat er Untersuchungsfelder unterschiedlicher Beziehungsformationen abgesteckt, auf denen er die historischen humananimalischen Beziehungen kartieren und interpretieren will. Zunächst widmet er sich unter dem Titel "Das nützliche Haustier. Eine moderne Verquickung" den Praktiken der Nutztierhaltung. In einem zweiten Kapitel - "Das kontrollierte Haustier. Der Beitrag der Behörden" verfolgt er insbesondere die Spuren, die Tieren in den Behörden und Verwaltungen eines Obrigkeitsstaates hinterlassen haben. Anschließend untersucht Zelinger "Das wilde Haustier. Domestikation im Alltag", in dem er das Moment der Domestikation und den Prozess der häuslichen Integration ungezähmter Tiere wie Wildvögel und sogar Amphibien genauer untersucht. Im abschließenden Kapitel "Das rassifizierte Haustier. Hundezucht und -inklusion", das deutlich diskursiver als die vorhergehenden Abschnitte angelegt ist, untersucht der Autor, wie Konzepte und Lesarten des zeitgenössischen Rassismus auf das Gebiet der Zucht von Rassehunden übertragen wurden. Die hier aufscheinenden Verschiebungen der Beziehungen korrelierten mit anderen grundlegenden Gesellschaftseinflüssen wie der Industrialisierung, der Popularisierung der Naturwissenschaft, der Erfindung der Wildnis oder der Eugenik.
Um dieser Diversität der Beziehungen habhaft zu werden und ihre Praktiken überhaupt konkret und nachvollziehbar zu machen, hat Zelinger seine Netze weit aufgespannt. Damit kommt er der Aufforderung der Animal History nach, sich ganz unterschiedlichen Quellengattungen zuzuwenden und sich neue Suchstrategien und Lesarten anzugewöhnen, um die mannigfaltigen, aber oft verwischten Spuren der historischen Tiere aufzuspüren. Sein Quellenfundus, in dem er den Fokus auf Momente der "Kontaktaufnahme" (24) zwischen Mensch und Tier richtet, reicht von Behördenakten und Gesetzessammlungen über populäre Zeitschriften wie die "Gartenlaube" und Haushaltsratgeber bis zu tierärztlicher Fachliteratur und Blätter für Hobbywissenschaftler. Ebenso hat er offensichtlich eine ganze Reihe biografische Zeugnisse und Erinnerungsliteratur auf Tierkontakte hin abgehorcht, und fördert dabei auch Tierbegegnungen sehr bekannter Persönlichkeiten wie die aus dem Leben von Helene Lange (die kurioserweise nicht als Frauenrechtlerin, sondern nur als Tochter eines Oldenburger Kaufmanns vorgestellt wird), Joachim Ringelnatz oder Felix Dahn zutage.
Es ist genau diese Quellenbasis, die die besten Lesemomente beschert: Nicht nur die Momente der Kontaktaufnahme, sondern all die Begegnungen, Verhandlungen, Urteile und Abschätzungen vermitteln auf direkte und konkrete Art und Weise, wie vielgestaltig sich die Beziehungswelten zwischen Haustier und Mensch im Deutschen Kaiserreich gestalteten. Hier finden sich Zeugnisse über die selbstverständliche Nähe der Stadtbewohner mit den benachbarten Nutztieren. Ferkel und Küken teilen die Lebenswelten, Ziegen konnten eine zentrale Rolle im Alltag spielen, Kaninchen wurde gar zugesagt, dass sie schon "manches gestörte Familienleben wiederhergestellt" hätten (67). In seinem Nachforschen darüber, wie die Behörden das wilhelminischen Hund-Mensch-Verhältnis beeinflussten, stößt Zelinger auf die erstaunlichen Aushandlungen über tollwütige Hunde, die in Gestalt von aggressiven Dachshunden und bissigen Dackeln die Vereinbarungen über die herrschaftliche Kontrolle in Frage stellen und daher aktenkundig werden.
Spannenderweise sorgten gerade die Behörden bei ihren Versuchen, der Tollwut Herr zu werden, dafür, dass die oft recht freien Hunde näher an ihre Menschen gebunden wurden und letztere von den Ämtern gezwungen wurden, ihre Tiere pfleglicher zu behandeln. Im Abschnitt über das wilde Haustier und die Domestikation im Alltag treten wiederum Vögel, Schildkröten und Feuersalamander in Erscheinung, die von den bildungsbeflissenen Bürgern in Volieren, Aquarien und Terrarien gefangen halten wurden. Mit größter Akribie richteten die Fänger ein vermeintlich natürliches Habitat ein, um sich dann in der Beobachtung dieser Miniaturwildnis zu vertiefen und sich darüber zu freuen, wenn das Objekt Tier zum Subjekt wurde, das in Kontakt mit ihnen trat. So schildert Zelinger eindrücklich, wie sehr sich die Zeitgenossen darauf kaprizierten, sich die Natur quasi einzuverleiben - sie "domestizierten diese Tiere, um mit wilden Elementen in Berührung zu kommen."(267) Hier wird anschaulich, wie stark sich eine neue Wildnisrezeption und Domestikationsinteressen gegenseitig bedingten.
Es sind diese Makroaufnahmen, historischen Kontextualisierungen und Offenlegungen der Beziehungsvielfalt, die Freimütigkeit der Zeitgenossen des Kaiserreichs gegenüber der Neubestimmung der Mensch-Tier-Beziehungen, die Zelingers Buch interessant machen. Ohne Zweifel hat er sich grundlegend mit den aktuellen Theorien der Human-Animal-Studies auseinandergesetzt. Allerdings vergibt er einiges Potential mit einer streckenweise umständlichen Erzählweise. Er führt die Lesenden vorbildhaft in das facettenreiche Beziehungsdickicht von Tier und Mensch ein, versucht aber gleichzeitig dieses Dickicht mit zu vielen verschiedenen Erklärungsmodellen zu lichten. Obwohl er so profunde und vielsagende Quellen gehoben hat, bleibt es oft der Kenntnis oder Vorstellungskraft der Lesenden überlassen, sich die die Auswirkungen der humananimalischen Kontaktaufnahme auf die Tiere selbst herzuleiten. Das schmälert jedoch nicht einen zentralen Gewinn dieser Untersuchungen: der Alltagsgeschichte des Kaiserreiches ein deutlich lebendigeres und plastischeres Antlitz zu verleihen.
Anna-Katharina Wöbse