Claudia Lepp: Wege in die DDR. West-Ost-Übersiedlungen im kirchlichen Bereich vor dem Mauerbau, Göttingen: Wallstein 2015, 224 S., ISBN 978-3-8353-1735-2, EUR 29,00
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"Staatsgrenzen sind keine Kirchengrenzen" [1] erklärte der Berliner Bischof Otto Dibelius wenige Tage nach dem Mauerbau 1961. Er wollte die besondere Klammerfunktion der Evangelischen Kirche in Deutschland unterstreichen, die sich in den Jahren des Kalten Krieges als die gesamtdeutsche Organisation zweier Staaten einer Nation verstand. Mit ihrer Studie über die Übersiedlungen kirchlicher Mitarbeiter aus West- nach Ostdeutschland bis zum Mauerbau widmet sich Claudia Lepp einem besonders spannenden Aspekt dieser grenz- und systemübergreifenden Beziehung.
Lepps Überlegungen basieren auf dem von Christoph Kleßmann stark gemachten Konzept einer Verflechtungsgeschichte, das die sich wandelnden Wechselbezüge zwischen den beiden deutschen Staaten und Gesellschaften in den Fokus rückt. Die Autorin erweitert diesen Zugriff um Ansätze aus der historischen Migrationsforschung und begründet dieses Vorgehen damit, dass "die Migration zwischen den beiden deutschen Staaten als 'eine Verflechtungsthematik par excellence' gelten kann". (18) Ihr Ziel ist es, "die West-Ost-Migration als Sozial- und Individualprozess" (18) in den Blick zu bekommen. Dementsprechend orientiert sich Lepp an drei Akteursgruppen und formuliert folgende Leitfragen: Welche Ziele verfolgte die DDR-Regierung mit ihrer Kirchenpolitik? Wie agierten die Kirchenleitungen in Ost und West? Wer entschied sich, aus welchen Gründen für eine Übersiedlung in die DDR? Zur Beantwortung dieser Fragen zieht die Autorin vor allem Sekundärliteratur heran und arbeitet mit 70 schriftlichen Zeitzeugenbefragungen. Des Weiteren greift sie auf die Ergebnisse ihrer Habilitationsschrift zurück, in der sie die Ost-West-Gemeinschaft evangelischer Christen und die deutsche Teilung thematisiert hat.
Ausgangspunkt ihrer Studie ist die kirchenpolitische Situation in der Sowjetischen Besatzungszone. Dort sucht die Autorin nach möglichen Ursachen für den späteren Pfarrermangel in der DDR, der ihrer Meinung nach überhaupt erst Anlass dazu gab, über West-Ost-Übersiedlungen im kirchlichen Bereich nachzudenken. Sämtliche Kirchenmitglieder hätten rasch erkannt, dass "die Lage der Kirchen in der sowjetischen Zone im Vergleich zu derjenigen in den anderen Zonen allmählich schwieriger wurde und man gegen eine Einengung des kirchlichen Einflussradius zu kämpfen hatte". (24) Das betraf zum Beispiel die theologische Ausbildung oder den Religionsunterricht.
Im anschließenden Kapitel widmet sich Lepp den politischen Entscheidungsprozessen in der DDR und kommt zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass die DDR-Regierung eine "offen repressive Kirchenpolitik" (54) verfolgte. Trotzdem sei es vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher und politischer Entwicklungen notwendig, das kirchenpolitische Handeln der SED-Funktionäre in unterschiedliche Phasen einzuteilen. Denn die staatlichen Repressionen gegen kirchliche Akteure hätten stets dann zugenommen, wenn die DDR-Regierung selbst versuchte, neue Strukturen zu implementieren. So zum Beispiel 1954, als das Politbüro der SED die Einführung der Jugendweihe beschloss und gleichzeitig der Zuzug kirchlichen Personals aus der Bundesrepublik wieder erschwert wurde. Lepp schlussfolgert, dass "die restriktive Zuwanderungspolitik [...] weniger auf den einzelnen Zuwanderungswilligen als auf die Schwächung der Institution Kirche in der DDR zielte." (76) Die staatlichen Organisationen sollten erst gar nicht in Konkurrenz zu kirchlichen Institutionen geraten, weshalb es der SED unter anderem darum ging, die kirchliche Jugendarbeit zu unterbinden.
Doch nicht nur die DDR-Regierung bemühte sich, kirchliche Übersiedlungsversuche abzuwenden. Innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland nahm das Ringen um den theologischen Nachwuchs ebenfalls zu. So beobachteten viele Kirchenleitungen in der Bundesrepublik die Anwerbungsversuche östlicher Landeskirchen äußerst skeptisch und verwiesen auf den eigenen Personalmangel. Damit spielten sie der DDR-Regierung in die Hände, welche die Ablehnung weiterer Zuzugsgenehmigungen unter dem Vorwand einer gesamtdeutschen Verantwortung rechtfertigte und propagandistisch ausnutzte. Die ostdeutschen Landeskirchen ließen sich davon jedoch nicht beirren. Sie warben weiterhin offensiv um junge Theologen und versprachen finanzielle wie organisatorische Hilfen im Falle einer Übersiedlung. Außerdem sollten theologische und moralische Argumente die Übersiedlungskandidaten überzeugen. So empfahl der Jenaer Studentenpfarrer Johannes Hamel den "Pfarrdienst in der DDR für junge Männer [als] eine attraktive Möglichkeit männlicher Bewährung in der Nachkriegszeit." (84) Erst gar nicht zur Debatte stand die Rücksiedlung ostdeutscher Theologiestudenten, die an westdeutschen Universitäten studierten. Die Kirchenleitungen in der DDR ließen ihnen fast keine andere Wahl, als in ihre Herkunftskirchen zurückzukehren. Das ging so weit, dass "die westlichen Gliedkirchen gebeten wurden, Pfarrer, die eine Rückkehr ablehnten, [...] nicht zu unterstützen" (97), was deren Berufsaussichten in der Bundesrepublik erheblich schmälerte. Insgesamt führten die Anwerbungsversuche nur selten zum Erfolg: Viele Pfarrstellen in der DDR wurden nur behelfsmäßig besetzt, einige musste die Kirche sogar ganz aufgeben.
Wer aber waren die Menschen, die sich dazu entschieden, eine Pfarrstelle in der DDR zu übernehmen? Das letzte Kapitel widmet sich diesen Akteuren, wobei zwischen zwei Gruppen unterschieden wird. Zum einen betrachtet Lepp die Neuzuziehenden. Unter diesem Begriff fasst sie Personen, die aus der Bundesrepublik oder aus den ehemaligen deutschen Gebieten östlich der Oder stammten. Zum anderen untersucht die Autorin die Rückkehrer aus der SBZ/DDR. Lepp fragt nach den soziodemographischen Profilen der Übersiedler, ihren Motiven, ihrer Integration in die Ankunftsgesellschaft und danach, wer von ihnen langfristig in der DDR blieb oder das Land wieder verließ. Die Unterscheidung zwischen Zuziehenden und Rückkehrern ist dabei einleuchtend, weil sie dokumentiert, dass es Übersiedler gab, die in die DDR ziehen wollten und andere, die - von den Kirchenleitungen selbst - zur Rückkehr gedrängt wurden. Lepp kommt zu dem Schluss, dass die Entscheidung für einen Umzug von West nach Ost in den meisten Fällen auf geistliche und private Motive zurückzuführen ist, weil die gesellschaftliche Unterschichtung, die die Theologen erwartete, immer gegen einen solchen Schritt gesprochen habe.
In ihren Schlussbetrachtungen schließt Lepp an die in der Einleitung umrissene Forschungsdebatte an. In Anlehnung an Bernd Stöver kommt sie zu dem Ergebnis, dass die West-Ost-Übersiedlungen im kirchlichen Bereich keine besondere Form der Migration darstellten. Sie ergänzt aber: "Spezifisch bleibt indes, dass es sich um eine Wanderung über eine politisch-territoriale Grenze innerhalb desselben Nationalverbandes handelte. Die Übersiedler verfügten dadurch über die Integrationsvorteile, dass sie mit der Aufnahmegesellschaft Sprache und Geschichte teilten." (183) Dieses Pauschalurteil erstaunt insofern, als dass es die ambivalenten Erfahrungen der West-Ost-Übersiedler glättet, die die Autorin zuvor aus den Quellen herausgearbeitet hat.
Claudia Lepp gelingt es auf nur 200 Seiten am Beispiel der West-Ost-Übersiedlungen im kirchlichen Bereich eine überzeugende Verflechtungsgeschichte darzustellen. Sie macht deutlich, warum es hilfreich sein kann, die beiden deutschen Teilstaaten nicht getrennt voneinander zu betrachten, sondern die Spannungsverhältnisse zwischen Verflechtung und Abgrenzung, Kontinuitäten und Brüchen genauer zu beleuchten. Daneben räumt Lepp mit dem Missverständnis auf, dass es sich bei einer Verflechtungsgeschichte zwangsläufig um eine Erfolgsgeschichte handeln müsse.
Doch wo einerseits Graustufen sichtbar werden, sind die Verhältnisse zwischen Kirche und Staat andererseits leider weiterhin schwarz-weiß gezeichnet. Lepp bleibt in bekannten Bildern verhaftet und stellt den repressiven DDR-Staat einer oppositionellen Kirche gegenüber, deren Handlungsspielräume viel kleiner erscheinen, als aus den zeitgenössischen Dokumenten hervorgeht. Das Verhalten der ostdeutschen Kirchenleitungen, die die Rückkehr von DDR-Studenten aus der Bundesrepublik zu erzwingen versuchten, ist nur ein Beispiel dafür. Einer so auf den Gegensatz konzentrierten Erzählung sind wohl auch die Redundanzen geschuldet, die in den Kapiteln über die einzelnen Akteure auftreten. Deshalb wäre es umso wünschenswerter gewesen, die schon angedeutete Heterogenität innerhalb der Landeskirchen stärker herauszuarbeiten oder zwischen den einzelnen Regionen und evangelischen Konfessionen deutlicher zu differenzieren.
Zweifellos ist die Studie ihrem Anspruch auch ohne Berücksichtigung dieser Fragen gerecht geworden. Die hier zusätzlich benannten Probleme zeigen vielmehr, dass Lepps Arbeit unbedingt anschlussfähig ist und das nicht nur, weil sie eine Geschichte über die evangelischen Kirchen im Ost-West-Konflikt erzählt, sondern gleichzeitig auf kirchliche Transformationsprozesse in der Moderne verweist, die systemübergreifend zu verstehen sind.
Anmerkung:
[1] Otto Dibelius: Reden an eine gespaltene Stadt, 3. Auflage, Stuttgart 1961, 63.
Maria Neumann