Ota Konrád / René Küpper (Hgg.): Edvard Beneš. Vorbild und Feindbild. Politische, mediale und historiographische Deutungen (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum; Bd. 129), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 306 S., ISBN 978-3-525-37302-6, EUR 50,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Edvard Beneš, langjähriger Außenminister der Ersten Tschechoslowakischen Republik und Präsident des Landes von 1935 bis 1948 (wenn auch sechs Jahre im Exil), gehört zu den absoluten Zentralfiguren der tschech(oslowak)ischen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der Ersten Republik wurde ihm neben dem Präsidenten Tomáš G. Masaryk als Mitgründer des jungen Staates gehuldigt und er galt als Garant einer loyalen Weiterführung des politischen Kurses Masaryks. Im Unterschied zu Masaryk jedoch, dessen positives Image sich als dauerhaft erwiesen hat, mutierte Beneš, wie die Herausgeber einleitend bemerken, in Tschechien und seinen Nachbarländern zu einer politisch und historiografisch höchst kontrovers beurteilten Gestalt, die gerade auch in öffentlichen Erinnerungsdiskursen sehr zwiespältig eingeschätzt worden ist.
Man kann in dieser unterschiedlichen Bewertung von Masaryk und Beneš deutliche Parallelen zu der Entwicklung des slowakischen historischen Gedächtnisses an Andrej Hlinka und dessen Nachfolger als Leiter der Slowakischen Volkspartei, Jozef Tiso, ausmachen. Während sich Masaryk und Hlinka seit 1993 fest im nationalhistorischen Erinnerungskanon ihrer jeweiligen Gesellschaften etablieren konnten - beide erscheinen zum Beispiel auf Banknoten -, stößt jeder Versuch einer ähnlichen Verehrung ihrer Nachfolger auf heftige Kritik. Obwohl die Persönlichkeiten der vier Akteure für diese Entwicklung eine gewisse Rolle gespielt haben mögen, lässt sich der Unterschied vor allem dadurch erklären, dass Masaryk und Hlinka im September 1937 beziehungsweise im August 1938 verstorben sind und deshalb in den verhängnisvollen Jahren zwischen dem Münchner Abkommen im September 1938 und der völligen kommunistischen Machtübernahme im Februar 1948 keine politische Verantwortung mehr ausübten. Zu einer kontroversen Gestalt wird man bekanntlich vor allem dadurch, dass man an kontroversen Ereignissen und Beschlüssen beteiligt ist, was bei Beneš in seinen letzten Lebensjahren in reichem Maß der Fall war.
Auf solche fall- und landesübergreifenden Vergleiche verzichtet das hier rezensierte Buch ganz, was eine Schwäche eines ansonsten soliden Sammelbandes darstellt. Der Band geht auf eine 2011 in Prag abgehaltene Tagung zurück und besteht aus achtzehn, überwiegend von tschechischen und deutschen Historikern verfassten Beiträgen, davon sieben auf Englisch und elf auf Deutsch, die symmetrisch in zwei Teile, "Zeitgenössische Beneš-Bilder" und "Memoliteratur und posthume Beneš-Bilder", gegliedert sind. Neben dem geläufigen tschechischen und tschechisch-deutschen Kontext haben die Herausgeber programmatisch auch die Einbeziehung breiterer internationaler Zusammenhänge angestrebt, was in Beiträgen über französische, britische, polnische und US-amerikanische Beneš-Wahrnehmungen zum Ausdruck kommt. Als Desiderate werden die sowjetrussische und ungarische Perspektive erwähnt, dagegen wird aber die wichtige und heikle Frage der slowakischen Beneš-Perzeption nur in anderthalb (sehr interessanten) Beiträgen behandelt. Adam Hudek, der einzige slowakische Teilnehmer, vergleicht einsichtig das Beneš-Bild der slowakischen marxistischen und der nationalistischen Exilhistoriografie nach 1948, während Petr Bednařík die Darstellung von Beneš in tschechischen und slowakischen Filmen und Fernsehserien der 1970er und 1980er Jahre analysiert. Dagegen wird die Wahrnehmung von Beneš in der Slowakei der Zwischenkriegszeit nicht behandelt, was ein gravierendes Desideratum darstellt. Dieses Nichtbeachten der gesamtstaatlichen tschechoslowakischen Dimension ist aber seit 1993 leider eher die Regel als die Ausnahme in der tschechischen und slowakischen Historiografie zur eigenen Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Man kann in den einleitenden Überlegungen der Herausgeber zur Perzeptionsgeschichte von Edvard Beneš eine gewisse Ambivalenz zwischen zwei Analysestrategien ausmachen. Einerseits wird betont, dass Beneš als Chiffre und Projektionsfläche für verschiedene politische Projekte benutzt worden sei, weshalb die Analyse vor allem die Motive und Strategien der Schöpfer der verschiedenen Beneš-Bilder beleuchten soll; andererseits wird angedeutet, dass man durch das Studium der Beneš-Darstellungen auch neue Einsichten in das Leben des Dargestellten selbst gewinnen könne. Die damit verbundenen methodologischen Schwierigkeiten lassen sich aber weder mit der von den Herausgebern erwähnten Nichtgreifbarkeit eines fast eindimensionalen Homo Politicus noch mit dem Einfluss der von Beneš selbst (und nur in einem, von Milan Hauner verfassten Beitrag diskutierten) intensiv betriebenen Imagepolitik erklären. Die Aufsätze, die am meisten über Beneš selbst zu berichten haben, sind auch diejenigen, die am häufigsten den gewählten Fokus auf Kulturprodukte ignorieren, um traditionelle (und manchmal schon bekannte) politische Geschichte zu schreiben.
Als Ziel des Sammelbandes benennen die Herausgeber "die Zusammenfassung des Forschungsstandes zu Wahrnehmung und Deutung der Politik und Person Benešs" (2). Einige Beitragende (zum Beispiel Manfred Alexander und Detlef Brandes) tun genau dies, das heißt sie bieten dem Leser eine kürzere oder längere Zusammenfassung schon publizierten Wissens an. Andere Beiträger legen neue Forschungsresultate vor, und einige offerieren noch dazu ausführliche Analysen der Entstehung, Konsolidierung und manchmal auch des Wandels bestimmter Aspekte der Beneš-Wahrnehmung. Neben den schon erwähnten Beiträgen fand ich die Aufsätze von Piotr M. Majewski über polnische und von Vít Smetana über britische und US-amerikanische Beneš-Perzeptionen sehr aufschlussreich. Gleiches gilt für Tobias Wegers passioniert geschriebene Einlassung über die immer schriller dämonisierenden Beneš-Diskurse der sudetendeutschen, bayerischen und österreichischen Rechten sowie Miroslav Kunštáts Analyse der erstaunlich "minimalistischen" und zwiespältigen Beneš-Rezeption im tschechischen politischen Diskurs nach 1989.
Insgesamt bieten die Aufsätze kaum große Überraschungen oder umwälzende neue Erkenntnisse, was nicht zuletzt dadurch zu erklären ist, dass Beneš keine unbekannte Größe ist und das Bild von ihm sehr eng mit oft schon seit vielen Jahren unverändert vorliegenden Einschätzungen seiner Politik zusammenhängt. Für Slowaken und Sudetendeutsche ist er nach wie vor eine negative Gestalt, unter Tschechen wird er eher - wenn auch je nach politischem Kontext und den unterschiedlichen Haltungen zum Teil mit größeren Abweichungen - positiv bewertet. Mit seinem klar definierten und meistens gut umgesetzten Fokus ist der vorliegende Band also eine nützliche Ergänzung der vorliegenden Beneš-Forschung.
Peter Bugge