Jan Rüdiger: Der König und seine Frauen. Polygynie und politische Kultur in Europa (9.-13. Jahrhundert) (= Europa im Mittelalter; Bd. 21), Berlin: De Gruyter 2015, 433 S., ISBN 978-3-05-006319-5, EUR 99,80
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Der Basler Geschichtsprofessor Jan Rüdiger habilitierte sich im Herbst 2006 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Studie mit dem Titel "Aristokratische Polygynie im Hochmittelalter im europäischen Vergleich". Nachdem fast zehn Jahre lang nur Eingeweihte Zugang zu den Ergebnissen dieser Arbeit hatten [1], werden diese nun auch der Allgemeinheit zugänglich gemacht. Erfreulicherweise, denn Jan Rüdiger hat mit "Der König und seine Frauen" ein inhaltlich wie methodisch überaus anregendes Buch vorgelegt. Getrübt wird die Freude zu Beginn der Lektüre lediglich dadurch, dass der Autor bekennt, die seit 2006 erschienene Forschung [2] aufgrund zeitlicher Zwänge nicht mehr inhaltlich eingearbeitet und nur vereinzelt in die Bibliographie aufgenommen zu haben.
Die dreigliedrige Studie untersucht zunächst verschiedene Aspekte der Eliten-Polygynie in den hochmittelalterlichen skandinavischen Sagas. Die erarbeiteten Ergebnisse werden anschließend mit Darstellungen von Polygynie in ausgewählten Regionen West- und Südeuropas (vor allem Frankreich bzw. Normandie und die iberische Halbinsel) verglichen. Wer die sprachlich und stilistisch höchst anspruchsvolle Lektüre bewältigt, wird mit einer Fülle an Einsichten belohnt, die sich kaum in wenigen Sätzen zusammenfassen lassen.
Im Zentrum der Studie stehen die skandinavischen Regionen Europas (fast 250 Seiten gegenüber knapp 80 Seiten, die für die Untersuchung West- und Südeuropas aufgewendet werden). Überzeugend argumentiert Rüdiger dafür, die Polygynie der nordischen Eliten, wie sie die hochmittelalterlichen Sagas darstellen, als "sozialsemantisches System" zu verstehen. Rüdiger erläutert zentrale Aspekte der Sagas, einer Quellengattung, die zwischen Geschichtsschreibung und oralen Erzähltraditionen angesiedelt ist, in einem der eigentlichen Darstellung vorangestellten Abschnitt (31-50). Dabei vertritt er den Standpunkt, dass die Sagas insofern als Quellen für seine Untersuchung geeignet sind, als dass ihre Existenz, Verbreitung und Rezeption ihre inhaltliche Bedeutung für die nordischen Gesellschaften zumindest des Hochmittelalters belegten (46). Der Ansatz erscheint legitim, vor allem da Rüdiger weniger an tatsächlichem Geschehen als an der Darstellung und Bedeutung polygyner Beziehungen interessiert ist. Richtig bemerkt er in diesem Zusammenhang, eine "alltäglich-lebensweltlich(e)" Darstellung polygyner Beziehungen im Hochmittelalter verböte sich aufgrund mangelnder Quellen ohnehin, gleich für welchen geographischen Raum (48). Ergänzend zieht Rüdiger an verschiedenen Stellen seiner Untersuchung neben den Sagas (oder literarischen Quellen, etwa der französischen Artusliteratur) je nach Möglichkeit auch historiographische Zeugnisse heran.
Rüdiger kann zeigen, dass mächtige Männer mit den Beziehungen zu mehreren Frauen verschiedene politische Ziele erreichen konnten. Diese "sozialsemantische Bedeutung" polygyner Beziehungen zerlegt der Autor in fünf Bereiche: Erstens, die Zeugung möglichst vieler sozial akzeptierter (nicht rechtlich legitimer) Erben ("generativer Aspekt", Kapitel 1). Zweitens, die mit der Polygynie einhergehende Betonung der Virilität als Statussymbol männlicher Aristokraten ("habitualer Aspekt", Kapitel 2). Drittens, der Erfolg im "Kampf" um die Frau als Zeichen persönlicher Überlegenheit ("agonistischer Aspekt", Kapitel 3). Viertens, die durch die Verbindung von Mann und Frau entstehenden politischen Bindungen die durch die Beziehung nach außen kommuniziert werden ("expressiver Aspekt", Kapitel 4). Und schließlich die Gleichsetzung von erobertem Land oder erstrittener Herrschaft mit der "Aneignung von Frauen" (29), also von sexuellen Gewaltakten, die im Zusammenhang mit Raubzügen und Ähnlichem stehen ("performativer Aspekt", Kapitel 5).
Im Zusammenhang mit dem letztgenannten Aspekt offenbart sich die Problematik des sehr umfangreich angelegten Polygynie-Begriffs der Studie. Für Rüdiger liegt Polygynie dann vor, wenn ein Mann in den Sagas mit mehr als einer Frau in Verbindung gebracht wird. Den einzelnen Beziehungen gesteht er unterschiedliche Wertigkeiten zu, beharrt aber darauf, keinen Mindeststandard für das Vorliegen eines Verhältnisses zu definieren, obgleich er einräumt, dass "manche der zu besprechenden Beziehungen sehr geringwertig erscheinen mögen" (39). Welchen erkenntnistheoretischen Wert aber kann ein Polygynie-Begriff haben, der sowohl aufeinanderfolgende Beziehungen zwischen einem Mann und jeweils einer Frau umfasst (bei Rüdiger "serielle Polygynie", gemeinhin eher "serielle Monogamie"), als auch parallele Liebesverhältnisse eines Mannes mit mehreren Frauen als auch Vergewaltigungen auf Kriegszügen? Die Antwort auf diese Frage bleibt Rüdigers detailreiche und zumeist sehr schlüssig argumentierende Studie leider schuldig. Positiv ist, dass der Autor gelegentlich die Perspektive der an den von ihm untersuchten Beziehungen beteiligten Frauen einnimmt. Diese stehen zwar nicht im Fokus seiner Überlegungen, aber Rüdiger bietet vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten für weitere Überlegungen in dieser Richtung.
Es erscheint zumindest im Hinblick auf die Darstellung der Polygynie in West- und Südeuropa überraschend, dass Rüdiger den Entwicklungen des Hochmittelalters in den Bereichen Religion und Recht keinerlei entscheidende Bedeutung für seinen Gegenstand zumisst. Rüdiger bekennt sich von Anfang an dazu, die eingetretenen Pfade der Forschung zu verlassen und sich nicht mit rechtsgeschichtlichen Kategorien wie Ehe oder Konkubinat aufzuhalten, um die politischen Bedeutungsmöglichkeiten der Polygynie der europäischen Eliten zu interpretieren. Ebenso ignoriert er die entsprechenden Quellen kirchlichen und weltlichen Rechts und die dazugehörige Forschung weitgehend. Umso irritierender wirkt die Vermutung, die Rüdiger am Ende seiner Ausführungen für den Rückgang der Bedeutung der Eliten-Polygynie ab dem 13. Jahrhundert äußert. Als Grund dafür identifiziert Rüdiger die Durchsetzung einer strengen Rechtsordnung im Lehnswesen, welche die zuvor vorherrschende Pluralität feudaler Beziehung abgelöst habe (386-387). Unabhängig davon, ob man diese Erklärung überzeugend findet, erscheint dieser plötzliche Rückgriff auf verfassungsgeschichtliche und sozialrechtliche Kategorien zumindest problematisch in einer Studie, deren Verfasser sich dermaßen dezidiert jeglichen Versuchen verweigert, dieselben Kategorien auf seinen eigentlichen Untersuchungsgegenstand anzuwenden.
Rüdigers Blick auf die Eliten-Polygynie im hochmittelalterlichen Europa fordert zu einem neuen Blick auch auf die westeuropäische Geschichte heraus. Die Stärke des Autors liegt zweifellos darin, die einzelnen Episoden über das Beziehungsverhalten der herrschenden Eliten (meist Könige) einerseits mit Begeisterung zu erzählen und andererseits diese gleichzeitig präzise und analytisch zu deuten, sodass die mögliche "Vielfalt und Differenz" (381) der Eliten-Polygynie durch ihn sichtbar geworden ist. Neben zahlreichen Einzelbefunden überzeugen vor allem diese klar herausgestellten politischen Bedeutungsmöglichkeiten von Polygynie im hochmittelalterlichen Norden Europas. Rüdiger hat sicher Recht, wenn er davor warnt, das Schweigen vieler westeuropäischer Quellen in Bezug auf Polygynie als "Mangel an Erzählbarem" (381) zu begreifen. Ob das aber bedeutet, dass man die von ihm herausgearbeitete soziale Praxis der Eliten-Polygynie im Norden letztlich als "europäisches" Phänomen des Hochmittelalters verstehen wird, ist derzeit nicht abzusehen. Zweifellos aber bietet "Der König und seine Frauen" eine Vielzahl an Aspekten, Fragestellungen und methodischen Anregungen, um eine weitere Auseinandersetzung mit der Materie zu betreiben.
Anmerkungen:
[1] Vgl. z.B. Michael Borgolte: Kulturelle Einheit und religiöse Differenz. Zur Polygynie im mittelalterlichen Europa, in: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004), 157-192; Bernhard Jussen: Perspektiven der Verwandtschaftsforschung fünfundzwanzig Jahre nach Jack Goodys "Entwicklung von Ehe und Familie in Europa", in: Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters (= VuF; 71), hg. von Karl-Heinz Spieß, Ostfildern 2009, 275-324; zuletzt David d'Avray: Papacy, Monarchy and Marriage, 860-1600, Cambridge 2015.
[2] Z.B. David d'Avray: Medieval Marriage. Symbolism and Society, Oxford 2008; Karl Ubl: Inzestverbot und Gesetzgebung. Konstruktion eines Verbrechens (300-1100) (= Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr.; 20), Berlin u.a. 2008; Iris Weber: Ein Gesetz für Männer und Frauen. Die frühmittelalterliche Ehe zwischen Religion, Gesellschaft und Kultur (= Mittelalter-Forschungen; 24), 2 Bde., Ostfildern 2008.
Clara Harder