Rezension über:

Chris Jones / Conor Kostick / Klaus Oschema (eds.): Making the Medieval Relevant. How Medieval Studies Contribute to Improving our Understanding of the Present (= Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Beihefte; Bd. 6), Berlin: de Gruyter 2019, 303 S., 7 Farb-, 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-054530-2, EUR 89,95
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Rezension von:
Clara Harder
Historisches Institut, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Étienne Doublier
Empfohlene Zitierweise:
Clara Harder: Rezension von: Chris Jones / Conor Kostick / Klaus Oschema (eds.): Making the Medieval Relevant. How Medieval Studies Contribute to Improving our Understanding of the Present, Berlin: de Gruyter 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 5 [15.05.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/05/35468.html


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Chris Jones / Conor Kostick / Klaus Oschema (eds.): Making the Medieval Relevant

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Ein ebenso verheißungsvoller wie skeptisch stimmender Titel. Diese Gedanken standen am Anfang der Rezension. Vielleicht überwog die Skepsis, nicht zuletzt vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse. Im Jahr 2021 bezweifelt wohl niemand die Relevanz von Exponentialfunktion und Statistik. Historiker haben immerhin Pest und Spanische Grippe im Programm, und es ist wohl kein Zufall, dass in letzter Zeit die Stellenausschreibungen im medizinhistorischen Bereich zugenommen haben. Aber die Mehrheit der Mediävisten dürfte sich angesichts der Omnipräsenz naturwissenschaftlicher Erkenntnisse (und was dafür ausgegeben wird) im öffentlichen Diskurs eher weiter in ihre Nische zurückgedrängt sehen. Und so sind neue Blickwinkel und Perspektiven willkommen, wenn es um die Frage geht: Wozu (mittelalterliche) Geschichte?

Die Herausgeber dieses vollständig auf Englisch veröffentlichten Sammelbands fragen explizit nicht nach der Nützlichkeit (utility), sondern der Relevanz (relevance) des Mittelalters bzw. der mittelalterlichen Geschichtswissenschaft. Das im Englischen "the Medieval" genannte Objekt lässt Raum für Interpretation. Chris Jones (Christchurch), Conor Kostick (Dublin) und Klaus Oschema (Bochum) zeigen sich motiviert durch eine sympathische Mischung aus Leidenschaft zum Fach und Interesse für unkonventionelle Themen. In dem Bewusstsein, dass öffentlich finanzierte Forschung immer unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck steht, haben sie ihr Programm zusammengestellt. Vielleicht war es nicht zuletzt die Kombination von britischer, neuseeländischer und deutscher Bildungsbiographie, welche die Herausgeber verkörpern, die zu einer erstaunlichen Bandbreite an Beiträgen geführt hat, die kaum unterschiedlicher hätte sein können. Die vorliegenden Notizen verstehen sich als Kommentar zu diesem Panoptikum, da eine fundierte fachwissenschaftliche Stellungnahme zu allen Beiträgen nicht nur den Rahmen sprengen würde, sondern auch die Fähigkeiten eines einzelnen Historikers übersteigen muss.

Die Herausgeber führen in ihrer Einleitung zunächst sehr allgemein und vielleicht etwas umständlich zum Thema hin und erst relativ spät (ab Seite 25) erfährt der Leser davon, dass dem Buch mehrere Tagungen bzw. Tagungssektionen vorausgingen, deren Beiträge und Diskussionsergebnisse hier (teilweise) versammelt sind. Ihr gemeinsames Ziel ist es zu zeigen, dass historische Forschung stark spezialisiert sein und trotzdem Einsichten und Inspiration für die Gegenwart bieten kann, um weiterzudenken und neue Ideen zu entwickeln, sowohl in Theorie als auch in Praxis. Was zunächst sehr allgemein klingt, verfängt bei der Lektüre der einzelnen Aufsätze dann durchaus.

Die inhaltlichen Beiträge werden in drei Bereiche gegliedert: Wissenschaft (Science), Ausbildung (Education) und Gesellschaft (Society). Ob diese etwas künstlich anmutende Trennung angesichts der extremen inhaltlichen, methodischen und stilistischen Heterogenität der Aufsätze wirklich notwendig war, sei dahingestellt. Der erste Teil der Sammlung hat es dennoch wirklich in sich und soll deshalb hier im Zentrum stehen. Auf inhaltlich wie methodisch nachvollziehbare Zusammenfassungen wird verzichtet. Stattdessen sei auf die den Beiträgen beigefügten Abstracts verwiesen. Die Autoren der ersten vier Aufsätze berichten von ungewöhnlichen Gemeinschaftsprojekten zwischen naturwissenschaftlich und geisteswissenschaftlich arbeitenden Wissenschaftlern, die zum Teil noch am Anfang stehen, zum Teil schon abgeschlossen sind.

Vergleichsweise unspektakulär erscheint der Inhalt des Beitrags von Jörg Feuchter (Berlin), der die Zunft nicht zum ersten Mal ermahnt, sich stärker in der Diskussion um "Genetic History" einzubringen. Er fordert Mediävisten auf, sich mit naturwissenschaftlichen Methoden auseinanderzusetzen und aktiv an Studiendesigns mitzuwirken statt reine Ergebnisrezipienten und -Kritiker zu sein. Feuchters kaum verhohlenes Drohszenario ist dieses: die Relevanz des Mittelalters stehe nicht in Frage, sondern die des Mediävisten. Dass gerade die beklagte Tendenz einiger Naturwissenschaftler sich diejenigen historischen Ergebnisse herauszusuchen, die den eigenen Forschungsergebnissen entsprechen ("cherry picking"), der Grund für die Vorbehalte von Mediävisten zur Beteiligung an diesen Projekten seien könnte, lässt er nicht gelten (111).

Tatsächlich fragt sich der kritische Leser aber auch bei den anderen drei Beiträgen dieser Sektion, wie essentiell der Beitrag der Historiker wirklich ist und ob die jeweiligen Projekte nicht auch ohne mediävistische Expertise realisiert werden könnten. Andererseits handelt es sich zweifellos um ungewöhnliche Formen von Interdisziplinarität, die über die übliche Drittmittelantragsprosa hinausgehen. Vor diesem Hintergrund erscheint es geradezu tragisch, dass alle Autoren dieser Sektion das Problem der Forschungsfinanzierung solcher Projekte beklagen. Dass ihre Arbeit den üblicherweise vorgesehenen Rahmen von Kooperationen zwischen den Disziplinen sprengt, behindert nicht unwesentlich die Umsetzung der Projekte. Das erklärt vielleicht bereits, warum nur wenige Wissenschaftler bereit sind, sich auf den enormen Aufwand solcher Zusammenarbeit einzulassen.

Einblicke in deren Wert gewährt das vorliegende Buch zur Genüge. So weist der Beitrag von Conor Kostick und Francis Ludlow (Dublin) in fast überwältiger Detail- und Datenfülle auf potentielle Gefahren hin, die vom Geoengineering ausgehen. Die Versuchsanordnung hat bei der Rezensentin durchaus Skepsis ausgelöst. Das Dilemma bezüglich des "cherry picking" von geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen durch die Naturwissenschaft bleibt nach ihrer Ansicht auch hier weiterhin bestehen. Dennoch sei gesagt, dass die Idee dieses spannenden (Gedanken-)Experiments auf mitreißende Weise das kreative Potential von naturwissenschaftlich-geisteswissenschaftlicher Kooperation offenbart.

Inhaltlich geradezu herausragend ist das in den Bereich der Medizin fallende Projekt von Freya Harrison (Warwick) und Erin Connelly (Pennsylvania). Ihre Erforschung mittelalterlicher medizinischer Rezepte hat sogar zu anwendungsbezogenen Ergebnissen im Kampf gegen Antibiotikaresistenzen geführt und weist somit neben der titelgebenden Relevanz sogar die von den Herausgebern noch in Zweifel gezogene Nützlichkeit auf.

Die den Sektionen "Education" und "Society" zugeordneten Beiträge diskutieren die Relevanz des Mittelalters und mediävistischer Forschung auf sehr unterschiedliche Weise. Manche Aufsätze fallen im Hinblick auf die versprochene "Relevanz" allerdings eher enttäuschend aus. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass insbesondere die Beiträge der Herausgeber als gelungen zu bezeichnen sind. Gerade Oschemas Überlegungen hinsichtlich der Bedeutung von Experten für die Gesellschaft durch einen Vergleich mit spätmittelalterlichen Astrologen könnte vor dem Hintergrund gegenwärtiger Debatten über die Verlässlichkeit wissenschaftlicher Prognosen aktueller gar nicht sein und hätte eine größere Leserschaft verdient, als er durch den vorliegenden Band wohl erhalten dürfte.

Dies führt unweigerlich zu der ungeklärten Frage, an wen sich diese Sammlung eigentlich richtet. Sehen sich fast alle Sammelbände diesem Vorwurf ausgesetzt, so muss dies für das vorliegende Werk in besonderer Weise gelten. Die einzelnen Aufsätze sind inhaltlich so spezialisiert, dass wirklich fachkundige Leser immer nur einen oder vielleicht zwei der enthaltenen Beiträge zu würdigen wissen werden. Gleichzeitig scheint ein an diesem Ort publiziertes Buch kaum geeignet, eine tatsächliche Relevanz seiner Inhalte im Sinne einer Wahrnehmung durch eine breite oder wenigstens interdisziplinäre Öffentlichkeit herzustellen. Die Herausgeber ziehen sich aus der Frage heraus, indem sie auf recht allgemeine Weise angeben, zu weiteren Debatten anregen zu wollen (29). Dazu ist die Sammlung zweifellos geeignet, nicht zuletzt, weil sie zu Widerspruch einlädt.

Eine gute Möglichkeit wäre es nach Auffassung der Rezensentin, einige der hier präsentierten Aufsätze in Seminaren zu diskutieren. Schließlich hegt ein nicht unerheblicher Teil der Studierenden durchaus Zweifel an der Relevanz von Lehrveranstaltungen im Fach mittelalterlicher Geschichte. Viele von ihnen sind angehende Lehrer. Erreichte man diese durch dieses Buch etwas besser als zuvor, wäre wohl bereits viel gewonnen. Grundsätzlich sei die Lektüre zumindest einiger der hier versammelten Beiträge aber zumindest allen Mediävisten anempfohlen. Wer über das eigene wissenschaftliche Tun reflektieren möchte und dabei auch gerne einmal vom üblichen Wege abweicht, wird hier einige Anregungen finden.

Clara Harder