Sascha Reif: Generationalität und Gewalt. Kriegergruppen im Ostafrika des 19. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 328 S., 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-8471-0466-7, EUR 50,00
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Das Buch handelt von "Kriegergruppen in Ostafrika", so der auf den ersten Blick recht allgemeine Untertitel. Der Begriff "Kriegergruppen" ist jedoch mit großer Sorgfalt ausgewählt. Denn alle anderen Kollektivbezeichnungen wie Nation, Volk, Ethnie, Stamm, deren jede bekanntlich nicht eindeutig ist, treffen selbst in weit gefasster Bedeutung nicht. Sie alle sind angesiedelt im Kontext europäisch-abendländischer Geschichte, und genau das lassen sich die Kriegergruppen Ostafrikas nicht. Sie sind genuin eigene Formationen, weder ethnisch homogen oder territorial eingrenzbar. Am ehesten trifft vielleicht der Ausdruck Ritual- oder Kultgemeinschaften, weil sich die Kriegergruppen ganz wesentlich durch gemeinsame Riten, Feste, Sitten und Gebräuche konstituierten. Dann aber veränderten schon vor der eigentlichen Kolonialisierung die Kontakte mit Europäern (und Arabern) das traditionelle Gefüge: Die Handelskontakte (Sklaven, Elfenbein, Bodenschätze), die am Handel ausgerichtete Verkehrserschließung von den Küsten ins Binnenland und nicht zuletzt die neuen Gewehre, die aus Europa kamen. Wie sich das traditionelle Gefüge unter all diesen Einflüssen verändert hat: Das möglichst genau nachzuzeichnen hat sich Reif zur Aufgabe gemacht.
Indes: Die Quellengrundlage ist höchst problematisch. Schriftliche Quellen existieren nur als Berichte von fremden Europäern, von Missionaren, Händlern, Militärs und Reisenden, die so gut wie immer die Dinge mit ihren abendländischen Terminologien und Werturteilen beschreiben, die einfach nicht passen. Dann gibt es mündliche Quellen und tradierte, verschriftlichte Erzählungen. Zur Quellenlage kommen noch archäologische Bodenbefunde hinzu, vornehmlich von Befestigungen und, da so einiges an Sitten noch in die Jetztzeit ragt: Ferne Erinnerungen alter Leute, nach denen zu fragen nicht ganz unproblematisch bei Menschen ist, deren Vorfahren in europäischer Terminologie "Wilde" genannt wurden. Abwehrhaltungen, bisweilen sogar Aggressionen waren da vorprogrammiert.
Zentral für das Buch sind Fragen wie: Wie gewaltsam waren die Kriegergruppen wirklich? In welchen Formen - in Konventionen geregelt oder spontan und damit ungeregelt - äußerte sich die Gewaltsamkeit? Und was war das soziologische, gesellschaftliche und kulturelle Umfeld der Gewaltsamkeit? Das alles versucht Reif sehr differenziert zu beantworten.
Man erfährt so manches, was "zivilisatorischen" Begründungen des Kolonialismus zur Rechtfertigung gereichen würde: Kopf- und Genitaltrophäen waren häufig, ebenso Initiations- und Mannbarkeitsriten, die mit einer erlegten Anzahl von Gegnern einhergingen. Und permanente Überfälle, um Viehherden - das Wichtigste, was man besitzen konnte - der anderen (Krieger-)Gruppe zu rauben, was dann Eskalationsdynamiken auslöste. Dabei geht Reif der Frage nach: Wurden Eskalationsdynamiken gebremst und wenn sie es wurden, wodurch wurden sie begrenzt?
Ein Ergebnis des Buches: Ins Bodenlose gingen die Steigerungen der Gewalt nicht und ohne Regeln war sie auch nicht. Eliminatorische Massaker kamen weniger vor, auch nicht das sinnlose Niederbrennen von Dörfern, weil es - in gewisser Weise zweckrational - nicht um die Behausungen, sondern um das Vieh ging. Und: Die Gewalt war eingehegt durch ein differenziert gestaffeltes Altersstufensystem mit klaren Altersabgrenzungen und Übergangsriten von der einen in die andere Altersstufe. In diesem Altersstufensystem besaßen die Älteren - der Abendländer würde jetzt sagen - eine so schwer beschreibbare "Autorität", die dann als Abschluss des Altersstufensystems in die Verehrung der Ahnen mündete. Die Autorität der Alten wurde dann auch von den körperlich so überlegenen jungen Männern anerkannt - in der Regel. Und so heißt das Buch im Haupttitel denn auch: "Generationalität und Gewalt." Unter der Autorität der Alten gab es auch Mediationen zu Gewaltbeendigung und Verfahren des Ausgleichs zwischen konfligierenden Kriegergruppen.
Allerdings nur in "in der Regel": Man kann auch hier wie bei so vielen Dingen keine Aussagen mit allgemeiner Gültigkeit machen, sondern nur Tendenzaussagen, die - und damit ist das Buch potentiell angreifbar - auf der Fülle der sehr schwierig und so verdienstvoll zusammen getragenen, sehr unterschiedlichen und unterschiedlich gesicherten Einzelinformationen beruhen, die der Verfasser individuell eruiert hat und daraus ein - sein? - schlüssiges Bild zu rekonstruieren versucht, allerdings mit allen vom Verfasser selbst immer thematisierten Bedenklichkeiten.
Der Kontakt mit der Außenwelt - und zu ihm gehört auch der Kontakt mit den muslimischen Arabern Sansibars - eines Zentrums des Sklaven- und Elfenbeinhandels - änderte schon vor der kolonialen Landnahme vieles. Gewehre und Instrumentalisierungen Einheimischer zur Erlangung und Durchsetzung von Handelsgewinnen europäischer Kaufleute, dann zuerst die informelle und dann die koloniale Durchdringung Ostafrikas, die auch mit Gewaltexzessen seitens der kolonialisierenden Europäer verbunden waren: All dies untergrub immer mehr die Autorität der Alten und entgrenzte die Gewalt der Jungen. Diese schufen - auch als Hilfsmacht von Kolonialmächten - jetzt immer mehr eigene, zuweilen sehr potente Macht- und Autoritätsgefüge - aber nicht überall und durchweg. Die Alten wurden jetzt marginalisiert. Im Extremfall versagten die Jüngeren auch die materielle Unterstützung und ließen die Alten und sogar ihre Eltern im Stich. Entgrenzte Gewalt bedeutete jetzt erst im großen Stil: Exzesse der Gewalt, Massaker, Niederbrennen von Dörfern. So veränderte zuerst die indirekte, dann die direkte koloniale Durchdringung die Gewaltstrukturen und Ordnungsgefüge der ostafrikanischen Kriegergruppen, so eine wichtige These des Buches.
Die Dissertation ist vor allem eine ethnologische Arbeit, in der soziologische Strukturen, Sitten und Gebräuche ostafrikanischer Kriegergruppen und ihr Wandel mit großer Akribie und großer Differenziertheit beschrieben werden. Es ist ein Buch zum Thema, wie der Kontakt mit europäischen Interessen die Gesellschaft Ostafrikas veränderte, schon lange bevor es zu kolonialen Landnahme kam. Der Historiker tut sich da naturgemäß schwer, eine primär ethnologische Arbeit in den innerethnologischen Forschungsstand zu verorten. Denn anders als bei global- oder kolonialgeschichtlichen Arbeiten sind nicht einzelnen Taten (und Untaten), Verwaltungs-, Ausbeutungs- und Herrschaftspraktiken der Handel betreibenden kolonialisierenden Europäer zentraler Gegenstand, sondern die wenig gewussten indirekten und doch so gravierenden Auswirkungen auf das innerafrikanische soziale Gefüge mit seinen traditionellen Gewalt- und Generationenstrukturen, die allein schon aufgrund der Quellenlage so schwer zu fassen sind.
Obwohl das Buch vor allem ein ethnologisches Buch ist, spricht es ein breites Publikum an, nämlich all jene, die versuchen, Afrika nicht mit europäischen, sondern für Außenstehende so schwer fassbaren innerafrikanischen Kategorien zu begreifen. Auch der Nicht-Ethnologe wird viel Neues erfahren, z.B. über die Dimensionen des tief greifenden Wandels innerafrikanischer Strukturen lange vor der eigentlichen Kolonialisierung Ostafrikas.
Manfred Hanisch