Julia Metger: Studio Moskau. Westdeutsche Korrespondenten im Kalten Krieg, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016, 288 S., ISBN 978-3-506-78192-5, EUR 39,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Als Moskau im Kalten Krieg noch die Welthauptstadt des Kommunismus war, spielten die dort stationierten westlichen Berichterstatter - gewollt oder ungewollt - eine politische Rolle. Sie waren zugleich Beobachter und Akteure im Ost-West-Konflikt. Umfassend untersucht wurden ihre wichtige Rolle, ihre Arbeitsbedingungen und ihre Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings noch nicht. Wer waren diese "Kremlastrologen", wie sie damals oft genannt wurden? Welche Biografien hatten sie? Und welche Motive hatten sie, sich in die "Höhle des Löwen" freiwillig zu begeben, wo sie unter der Dunstglocke des Geheimdienstes KGB arbeiten mussten, ständig gegen eine Wand der Verbote rannten, und wo sie keinen Zugang zu der sowjetischen Machtelite hatten?
Julia Metger hat mit ihrer Dissertationsschrift am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin eine Studie vorgelegt, die diese Forschungslücke in großem Maße schließen hilft. Es wäre ein kaum zu bewältigendes Forschungsobjekt gewesen, hätte sie die gesamte westliche Korrespondentenschar in der damaligen Sowjetunion im Blick gehabt. Es sind die westdeutschen Berichterstatter, die Gegenstand der Studie sind, auch wenn vereinzelt damalige US-amerikanische und andere westliche Medienvertreter einbezogen werden. Der Untersuchungszeitraum umfasst im Wesentlichen zwei Jahrzehnte. Er beginnt mit dem Jahr 1955, als die ersten Berichterstatter der alten Bundesrepublik nach Moskau gehen durften; er endet Mitte der 1970er Jahre, nachdem im Zuge der Entspannungspolitik sich die wichtigsten westdeutschen Presse-, Hörfunk- und Fernsehhäuser in Moskau etablieren konnten.
Obwohl die Arbeit der Korrespondenten, vor allem in den Anfangsjahren, durch eine massive Zensur nicht nur behindert, sondern oft auch deformiert wurde, durchbrachen sie "allein durch ihre Anwesenheit und ihre Kontakte das geschlossene (Informations-)System der sowjetischen Gesellschaft." (233)
Die Autorin definiert ihr neun Kapitel umfassendes Werk als "Schnittstellenstudie" (9), durch die auch der Ost-West-Konflikt tiefer untersucht wird. Die Denk- und Handlungsspielräume der damaligen Korrespondenten zeichnet sie in den wichtigsten Umrissen nach. Als Quellen hat sie hier u.a. das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes hinzugezogen, die biografische und autobiografische Literatur, die Online-Archive des SPIEGEL, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung, der ZEIT sowie Akten des Archive des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) und des Westdeutschen Rundfunks (WDR), der innerhalb der ARD für die Berichterstattung aus Moskau zuständig war und noch ist.
Wie kam es dazu, dass die Sowjetunion und die inzwischen neu entstandene Bundesrepublik Deutschland zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die ersten Korrespondenten in ihrem jeweiligen Land zuließen? Es war Anfang 1955, also vor dem historischen Besuch von Bundeskanzler Adenauer in Moskau im September des gleichen Jahres, als der Prawda-Redakteur Pawel Naumow einen Antrag auf ständige Akkreditierung als Korrespondent in Bonn stellte. (Die Autorin bezeichnet die Prawda allerdings ungenau als "parteinahe sowjetische Tageszeitung" (18). Diese war aber die führende und allseits richtungsweisende Parteizeitung der KPdSU, deren Sprachrohr sie für das In- und Ausland darstellte.) Der Bundeskanzler selbst wurde auf Initiative des Bundespresseamtes aufgrund der Brisanz des Vorgangs mit dem Antrag befasst. Nach anfänglicher Ablehnung durch Adenauer erhielt der Prawda-Mann Naumow Monate später doch eine Zusage, nachdem die sowjetische Seite ihre Bereitschaft zugesichert hatte, "auf der Basis der Gegenseitigkeit auch westdeutsche Korrespondenten dauerhaft in Moskau zu akkreditieren." (22)
Zu den ersten westdeutschen Korrespondenten gehörte Hermann Pörzgen, der schon von 1937 bis 1941 für die Frankfurter Zeitung aus Moskau berichtet hatte. Er geriet als deutscher Presseattaché in Sofia 1944 in sowjetische Gefangenschaft, kam 1955 mit den letzten Kriegsgefangenen frei - und ging 1956 wieder als Korrespondent nach Moskau zurück. Zu den publizistischen Nachkriegs-Pionieren gehört vor allem der ARD/WDR-Journalist Gerd Ruge. Er war von 1956 bis 1959, dann wieder von 1977 bis 1981 und schließlich von 1987 bis 1993 in Moskau tätig. Leider wurde Ruge als Zeitzeuge von der Autorin nicht befragt, der aufgrund seines Fachwissens, seiner Sprachkenntnisse und seiner weit größeren Moskau-Erfahrung der wohl ergiebigere Gesprächspartner gewesen wäre als dessen WDR-Kollege Fritz Pleitgen. Ruge musste noch unter der Vorzensur arbeiten, die in der Studie anschaulich beschrieben wird, ebenso wie ihre Abschaffung im Jahre 1961. (Kapitel 3)
Einen guten Überblick über die Informationssuche und die Nachrichtenquellen, die Konkurrenz untereinander, die Atmosphäre der Spionage-Paranoia und die Kontakte der Korrespondenten zu den Dissidenten liefert die Autorin in den Kapiteln 4 bis 6. Allerdings datiert sie die Rückkehr des Physikers und Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharow auf 1985 statt auf 1986. (212)
Die Umstände, das politische Tauziehen oder die technischen Schwierigkeiten beim Aufbau der beiden deutschen Fernsehstudios (ARD und ZDF) in Moskau Anfang der 1970er Jahre stellt die Autorin sehr detailliert dar. Es war eine (medien-)politische Zäsur, denn "auf eine andere Art und Weise als die Zeitungs- und Radioberichterstattung brachen die Fernsehbilder den Eindruck einer abgeriegelten Sowjetunion auf und weiteten den Blick der westdeutschen Öffentlichkeit." (167)
Julia Metger hat eine überzeugende Studie vorgelegt, an der lediglich die Auswahl der Interview-Partner zu bemängeln ist. Neben dem oben erwähnten Gerd Ruge erschließt sich auch nicht, warum der 1961 aus der Sowjetunion ausgewiesene Botho Kirsch (Frankfurter Rundschau), der sich ebenfalls mit Ende 80 noch recht guter Gesundheit erfreut, nicht zu Metgers Gesprächspartnern gehörte, dafür aber die Korrespondentinnen Ina Ruck (ARD) und Anne Gellinek (ZDF), die in der postsowjetischen Zeit in Moskau arbeiteten.
Ignaz Lozo