Michael Ploetz / Mechthild Lindemann / Christoph Johannes Franzen (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1985, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016, 2 Bde., XCI + 2037 S., ISBN 978-3-11-040628-3, EUR 149,95
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Mechthild Lindemann / Christoph Johannes Franzen (Bearb.): Akten zur auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1961, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018
Am 2. Februar 1985 sprachen die Professoren Walter Bußmann und Andreas Hillgruber beim Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Meyer-Landrut vor und regten eine Edition der Akten zur Außenpolitik der Bundesrepublik ab 1949 an. Diese Anregung wurde aufgegriffen (Nr. 17). Mit einigen - für 1985 in Anmerkungen dokumentierten - Anläufen erschienen seit 1994 jährlich nach Ablauf der üblichen 30 Jahresfrist Jahresbände die "Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland". Dieser nunmehr 23. Band der Serie für den Berichtszeitraum ab 1963 (es gibt einige Bände 1949ff.) folgt der Präzision eines Uhrwerks, das in dem vergleichbaren Umfeld international seinesgleichen sucht. Ein solches Uhrwerk muss man nicht immer wieder beschreiben (vgl. meine Rezension: http://www.sehepunkte.de/2014/05/24886.html oder http://www.sehepunkte.de/2011/05/19779.html), aber einige Züge sind angesichts der im Kern glücklich gewählten Editionsgrundsätze doch erneut hervorzuheben. Die AAPD haben vor allen internationalen Editionen einen großen Vorsprung erhalten; nur die US-amerikanischen FRUS können halbwegs konkurrieren, doch haben diese - nach Präsidentschaften sachthematisch angeordnete Bände - für die Reagan-Administration 1981-1988 zwar 50 Bände angekündigt, aber erst einen für die Achtzigerjahre vorlegt. Die früher gelegentlich auch dreibändigen Jahreseditionen von AAPD, jetzt immer nur zwei von fast 2000 Seiten, sind mustergültig erschlossen, streng chronologisch geordnet. Zu Anfang Regesten aller Dokumente, hervorragendes Namen- und Sachregister stechen weiter hervor.
Inhaltliche Schwerpunkte waren 1985 die Entwicklungen in der Sowjetunion nach dem Tod Tschernenkos im März und der Inauguration Gorbatschows. Schon seit seinem Thatcher-Besuch Ende 1984 setzen Kreml-Deutungen aller Art an, die Zäsur nicht nur generationell zu bewerten. Durchweg wurde nicht klar, was das bedeuten sollte. Auch nach etlichen Gesprächen des neuen Generalsekretärs mit westlichen Staatsleuten, über die man sich untereinander eifrig austauschte, dominierte die Ansicht, das sei nur im Ton milder, die sowjetischen Ziele blieben sich gleich. Kanzler Kohl etwa erkannte in ihm früh einen "Kronprinzen" (160 zu Thatcher), warnte später im Jahr, Gorbatschow als Liberalen zu bezeichnen und spekulierte, er könne es auf eine Art Gulaschkommunismus abgesehen haben (1416, 1429) - ein Jahr vor seinem berüchtigten öffentlichen Vergleich mit Goebbels.
Den größten Raum nehmen die diversen innerwestlichen Konsultationen im EG-Rahmen, in der NATO, im Viererkreis der BRD mit den drei westlichen Siegermächten u.a. ein. Einen Höhepunkt des Jahres bildete der Weltwirtschaftskongress in Bonn im Mai. Es dominieren die Aufzeichnungen von Gesprächen vor allem von Kanzler Kohl und Außenminister Genscher mit hochrangigen Politikern aller Länder, sodass ein Gutteil der Welt in den entsprechenden Tours d'horizons einmal vorkommt, wenn deren Außenminister etwa über die Lage ihrer Länder berichten. Bemerkenswert viele dieser Gespräche fanden am Rande großer internationaler Treffen statt - von den Beisetzungsfeierlichkeiten Tschernenkos über die 10-Jahresfeiern zur KSZE in Helsinki bis zur UN-Vollversammlung. Solche Aufzeichnungen sind häufig um die 15 Seiten lang, geben also oft genaue Paraphrasen, ja fast einen Wortlaut wieder. Bisweilen bestehen sie aus Referaten eines Außenministers darüber, was diesem zuvor ein anderer Außenminister gesagt habe - also einem Informationsaustausch über Unterredungen oder Besuchen - zumal bei Westlern aus Osteuropakontakten. Das mag eine Art "stille Post" bedeutet haben, zeugt jedoch von Vertrauen innerhalb dieser Kommunikationsgemeinschaften.
Die Vielfalt der dokumentierten Themen ist groß; technologische Fragen spielen eine wichtige Rolle, zumal bei SDI, den US-Plänen für ein Weltraumabwehrsystem, das zumeist von privaten Firmen entwickelt werden sollte. Aber auch die Frage chemischer Waffen, ihrer Stationierung und Kontrolle wird breit belegt. Dankenswerterweise wird die Fonds-Edition primär aus den Akten des AA ergänzt durch solche des Kanzleramtes und aus dem Archiv Kohl. Das ist auch erforderlich, denn ein großer Teil der Unterredungen bestand aus Gesprächen des Kanzlers (sowie seines Beraters Teltschik) mit anderen Regierungschefs - ein gewisser Dualismus mit dem AA war nicht erst 1985 ausgebildet. In die gleiche Richtung deuten ausführliche Briefe Kohl an Reagan (u.a. Nr. 85, 190, 280, 284) sowie an Gorbatschow (Nr. 235). Offensichtlich legte der Kanzler Wert auf die authentische Entwicklung seiner eigenen Position - und dies trotz zahlreicher persönlicher Begegnungen.
1985 jährte sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 40. Mal. Mit Besorgnis wurden sowjetische Vorbereitungen für die gängigen Siegesfeiern beobachtet, denen bundesdeutsche Vertreter fern blieben, nicht jedoch die der Westmächte, die ihrerseits die gegenwärtige Bundesrepublik zumeist unter Verzicht auf Anspielungen über deutsche Verantwortung etc. "schonten". Natürlich wird auch der verunglückte Besuch Reagans in Bitburg dokumentiert - aber dessen Bedeutung erschließt sich aus AAPD eher am Rande.
An Quellengattungen überwiegen die bereits genannten Gesprächsaufzeichnungen, in denen sich die BRD-Politik naturgemäß zumeist in taktischer Verpackung dokumentierte. Die früher im Druck so beliebten Runderlasse, mit denen die bundesdeutschen diplomatischen Vertretungen nicht nur unterrichtet, sondern zur Vertretung einer bestimmten Sprach(regelung) gegenüber den Gastländern angehalten wurden, finden sich seltener. Dafür dominiert dankenswerterweise der Abdruck von Positionspapieren von hohen Ministerialbeamten, hervorstechend quantitativ und qualitativ der Abteilungsleiter Politik Gerold von Braunmühl (der ein Jahr später von der RAF ermordet wurde). Das sind zum Teil "Sachstandsberichte", zumeist aber Analysen, die einen künftigen Kurs in einer Sach- oder Regionalfrage vorschlagen, strategische Papiere ohne den Filter eines externen Gesprächspartners.
Die Edition ist insgesamt mustergültig. Einen kleineren Punkt sollten die Editoren aber doch künftig überlegen. Die Überschriften jedes Dokuments dokumentieren zumeist, wer an wen schrieb (Gesandter x an AA; Staatssekretär y an Botschaft z) oder geben "Aufzeichnung von xx". Das ist guter Standard, auch international, aber doch informationsarm. Die anderen Titel: Gespräch Minister Genscher mit Außenminister zz sagen da schon mehr. Zumeist erfährt man dann aus der Betreffzeile, welche Themen eigentlich angesprochen wurden - oft aber auch gar nicht. Hier sollte die Edition ihre vornehme, gleichsam objektiv den Personenverkehr umschreibenden Kopfzeilen aufgeben. Zumeist sagt die Betreffzeile im Dokument, worum es geht. Häufig muss man sich aber mühsam ins Dokument einlesen, um zu kapieren, wer mit dem wem zu tun hat und welches Thema behandelt wird. Zwei Beispiele: "informelles AM-Treffen [...] in Luxemburg" (Nr. 295): kein Hinweis, um welche Außenminister es sich handelt - das sieht man erst im Text. Gewiss gibt das Regest zu Anfang der Edition an, dass es sich um EG-Mitglieder handelt - aber wer blättert schon gern immer 1000 Seiten zurück? Oder: es geht um die Lagerung chemischer Waffen in der BRD, "Besprechung bei Herrn StS" (Nr. 220). Dann redet u.a. ein General; man muss sich mühsam zusammensammeln, dass hier AA und Verteidigungsministerium eine gemeinsame Besprechung veranstalteten.
Eine weitere kleine Kritik: häufig ist eingangs davon die Rede, dieses Protokoll sei noch nicht gebilligt (etwa von Genscher). Ob es dann noch gebilligt wurde, erfährt der Leser nicht. Einen einzigen Fehler habe ich gefunden: Genscher empfing den französischen Außenminister in seiner Privatwohnung nicht in Wachtenberg-Pech (Nr. 225), sondern in Wachtberg-Pech. Wenn das die einzige Ungenauigkeit ist, spricht das für die Qualität der Edition, der nach wie vor nicht nur ein hohes Lob für technische Gestaltung zukommt. Sie bleibt ein unentbehrliches Mittel historischer Forschung zur Außenpolitik der Bundesrepublik.
Jost Dülffer