Rezension über:

Alexander C. T. Geppert / Till Kössler (Hgg.): Obsession der Gegenwart. Zeit im 20. Jahrhundert (= Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft; 25), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 287 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-36425-3, EUR 50,00
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Rezension von:
Fernando Esposito
Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Fernando Esposito: Rezension von: Alexander C. T. Geppert / Till Kössler (Hgg.): Obsession der Gegenwart. Zeit im 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 12 [15.12.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/12/28634.html


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Alexander C. T. Geppert / Till Kössler (Hgg.): Obsession der Gegenwart

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Alexander C.T. Geppert, Associate Professor an der NYU New York und Shanghai, und Till Kössler, Professor für die Sozialgeschichte des Aufwachsens und der Erziehung an der Ruhr Universität Bochum, haben ihrer Einleitung das berühmte Diktum von Hans Rothfels vorangestellt und mit einem Bindestrich versehen: Heute ist es die Zeit-Geschichte, sprich die Zeit als Gegenstand der Geschichtswissenschaft, die eine (dringliche) Aufgabe darstellt. [1] Eine Zeit-Geschichte des 20. Jahrhunderts, so der Vorschlag der Herausgeber, habe die "Leitdichotomien" (19) der bisherigen Geschichte historischer Zeiten - "Standardisierung vs. Pluralisierung", "Disziplinierung vs. Flexibilisierung" sowie "Beschleunigung vs. Eigenzeiten" - zu überwinden und sich an den Fluchtlinien "Verzeitlichung", "Rhythmus" und "Gleichzeitigkeit" zu orientieren. Der Band selbst, so muss kritisch vorweggenommen werden, lotet die Potentiale dieser Fluchtlinien bedauerlicherweise nicht explizit aus. Es scheint vielmehr, als seien Beiträge und Einleitung ihrerseits "gleichzeitig" entstanden. Das ist indes kein Einwand gegen Gepperts und Kösslers Unterfangen. Im Gegenteil, eine intensivierte Auseinandersetzung mit dem Gewordensein divergierender Zeitverständnisse und temporaler Kategorien, mit der politischen Gestaltung von Zeit, mit "konkurrierende[n] Zeitordnungen" (18) und mit der Genese unseres gegenwärtigen Problems mit der Zeit ist längst überfällig, und der Band versammelt zu diesem Themenfeld eine ganze Reihe anregender Beiträge.

Von der Leibniz-Clarke beziehungsweise -Newton-Kontroverse um das Wesen von Raum und Zeit seinen Ausgang nehmend, widmet sich Lucian Hölscher dem Wandel historiographischer Zeitkonzepte seit dem 18. Jahrhundert und dem allmählichen Siegeszug der gefüllten (Leibniz'schen) über die leere (Newton'sche) Zeit. Hölscher erinnert etwa daran, dass es Schiller war, der 1789 im Rahmen seiner Geschichtstheologie überhaupt erst die Begriffe und somit auch die Zeiträume Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in die deutsche Geschichtswissenschaft einführte. Penelope Cornfield nimmt sich der intellektuellen Verwerfungen an, die von der Rezeption von Einsteins Relativitätstheorie (1905 sowie 1915/17) beflügelt wurden. Hätte man auch gerne mehr über die "Krise der Wirklichkeit" [2] erfahren, welche die Gesellschaften der Zwischenkriegszeit in der Folge der Revolutionierung des physikalischen Wissens erfasste, so wird man mit einem - nicht zwingend an Einstein rückgebundenen - Überblick über den Umgang mit und die Thematisierung von Zeit in den Geisteswissenschaften im "Zeitalter der Relativität" doch entschädigt.

Mit Tom Reichards Beitrag zur "Zeit der Zigarette" wendet sich der Band konkreteren Fallstudien zu. Der Übergang von Pfeife und Zigarre zur Zigarette, so Reichard in Übereinstimmung mit Gustav Stresemann und der Beschleunigungsdiagnose, zeigte auch einen Wandel von einem beschaulichen Leben zu einem von "Hast und Unruhe" (93) an. Die Zigarette und ihr Konsum galten gar als Signaturen einer beschleunigten Moderne. Katja Schmidtpott wie auch Till Kössler befassen sich mit einem zentralen Aspekt von Chronopolitik, und zwar mit staatlich verordneten Versuchen zur effizienteren Nutzung der knappen Ressource Zeit, und das heißt mit der temporalen Disziplinierung, Rationalisierung und somit Modernisierung eines Landes. Während Schmidtpott die japanischen Zeiterziehungsbemühungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in den Blick nimmt, stehen bei Kössler die von der Franco-Diktatur zu Beginn der 1960er Jahre eingeleiteten Zeitreformen im Zentrum der Aufmerksamkeit. War es das Ziel der japanischen Ministerialbürokratie, "durch diszipliniertes Zeitverhalten zur Stärkung der japanischen Nation beizutragen" (154), so galt es in Spanien nicht zuletzt, den Makel des Anachronismus zu beseitigen, sprich sowohl das Bild südländischer "Rückständigkeit" gegenüber dem "fortschrittlichen" Norden Europas zu korrigieren als auch die Zeitgemäßheit der "Entwicklungsdiktatur" vor Augen zu führen. Mit seiner Analyse der (größtenteils scheiternden) franquistischen Zeitreformen und ihrer Ziele legt Kössler auch eine Revision des Bildes des autoritären Regimes nahe, das keineswegs ausschließlich vergangenheitsfixiert und transformationsfeindlich gewesen sei, sondern künftig als ein "autoritäre[r] Pfad einer gemeinsamen europäischen Nachkriegsgeschichte" (217) in den Blick genommen werden müsse.

Der nationalsozialistischen Diktatur widmet sich Christopher Clark, der die Eigenart nationalsozialistischer Zeitlichkeit gegenüber jener der italienischen Faschisten und der Bolschewisten aufzuzeigen versucht. Hierzu nimmt Clark zunächst das Revolutionsmuseum in Berlin und das Museum der Deutschen Erhebung in Halle in Augenschein und kontrastiert diese von SA-Männern errichteten musealen Feiern der "nationalen Erhebung" kursorisch mit der von führenden modernistischen Künstlern, Architekten und Designern gestalteten Mostra della Rivoluzione Fascista, die 1932 in Rom eröffnet wurde. Mag die Disparität in der ästhetischen Gestaltung der Revolutionsschauen auch enorm gewesen sein, die Divergenz der entworfenen "Zeitschaften" (chronoscapes) ist weit weniger dramatisch, als dies Clark nahelegt. Nördlich wie südlich der Alpen grassierte ein unverhohlener Antihistorismus, der hüben wie drüben auf eine "Vernichtung der Geschichte" im Sinne Eliades beziehungsweise auf eine "flight from history" (179-182) und auf eine Verquickung revolutionärer und zeitloser, ewigwährender Zeitlichkeit hinauslief.

Alexander C.T. Gepperts Artikel behandelt die temporalen Implikationen des Weltraumzeitalters. Diese betreffen zum einen die Gegenwartsdiagnose "Space Age" selbst, deren begriffliche Morgendämmerung sich bereits vor dem Sputnikflug im Oktober 1957 ereignete und von einer "spezifische[n] Version technoszientistischer Modernität" (227) kündete. Zum anderen gingen mit dem sogenannten Astrofuturismus utopische Zukunftsvorstellungen einher, die nicht zuletzt auf eine Beherrschung von Zeit und die Eroberung der Unendlichkeit hinausliefen. Und schließlich relativierte die Weltraumfahrt das irdische Zeitempfinden im Allgemeinen - und nicht nur dasjenige der Astro- und Kosmonauten, die selbst im All gewesen waren.

Der abschließende Beitrag Jonathan Gershunys zur gegenderten (Alltags-)Zeitnutzung in der "developed world" kommt demgegenüber etwas geerdeter daher. Das von Gershuny gezeichnete Bild ist hinsichtlich der unterschiedlichen nationalspezifischen Arbeits- und Kinderbetreuungsregime zwar wesentlich differenzierter, sein betrüblicher Befund lässt sich dennoch folgendermaßen zusammenfassen: Weiterhin sind es meist die Frauen, die sich aus dem Arbeitsmarkt zugunsten der Kindererziehung zurückziehen; in Folge des Rückzugs vermindert sich allein die Menge der bezahlten Arbeitszeit, wodurch sich die Einkommensunterschiede zwischen den Geschlechtern zuungunsten der Frauen erhöhen. Trotz aller Produktivitätssteigerungen sowie technologischen Innovationen und im Gegensatz zu den diesbezüglichen Prognosen/Verheißungen ist die Menge bezahlter und unbezahlter Arbeitszeit für beide Geschlechter keineswegs zugunsten einer Zunahme von Freizeit zurückgegangen, sondern seit 1960 mehr oder weniger konstant bei 500 Minuten plus/minus 40 pro Tag geblieben. Wie relativ der Terminus "developed world" auch angesichts dieses Befundes ist, mögen die Leserinnen und Leser selbst entscheiden.

Der lesenswerte Band, dem noch eine nützliche und umsichtig erstellte Auswahlbibliographie angehängt ist, leistet jedenfalls einen wichtigen Beitrag zur vorläufigen Kartierung eines noch kaum vermessenen Forschungsfeldes. Es steht zu hoffen, dass er das Interesse auch der Nicht-Spezialisten zu wecken vermag, denn, ob mit oder ohne Bindestrich, im Kern ist alle Geschichte Zeit-Geschichte.


Anmerkungen:

[1] Hans Rothfels: Zeitgeschichte als Aufgabe, in: VfZ 1 (1953), 1-8.

[2] Zur "Krise der Wirklichkeit" siehe: Otto Gerhard Oexle: Krise des Historismus - Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne, in: Krise des Historismus, Krise der Wirklichkeit: Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880-1932, hg. von Otto Gerhard Oexle, Göttingen 2007, 11-116, insbesondere 79-85.

Fernando Esposito