Kadri-Rutt Hahn / Matthias Thumser / Eberhard Winkler (Hgg.): Estnisches Mittelalter. Sprache - Gesellschaft - Kirche (= Schriften der Baltischen Historischen Kommission; Bd. 20), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2015, 217 S., ISBN 978-3-643-13259-8, EUR 29,90
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Madlena Mahling / Klaus Neitmann / Matthias Thumser (Bearb.): Liv-, Est- und Kurländisches Urkundenbuch. Erste Abteilung. Band 13: 1472-1479, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018
Matthias Thumser (Hg.): Epistole et dictamina Clementis pape quarti. Das Spezialregister Papst Clemens IV. (1265-1268), Wiesbaden: Harrassowitz 2022
Der Sammelband mit acht Beiträgen zum estnischen Mittelalter eröffnet mit einem Vorwort der Herausgeber. Er ist aus Referaten einer Tagung entstanden, die die Baltische Historische Kommission am 18. und 19. Juni 2011 unter der Prämisse 'Ausgewählte Probleme des estnischen Mittelalters' in Göttingen veranstaltet hat. Den Beiträgen hat Matthias Hardt einen Blick über den gegenwärtigen Stand der Forschungen zur Ethnogenese im frühmittelalterlichen Europa vorgeschaltet.
Ein Blick über die Verteilung der Finnougrier im Ostseeraum klärt darüber auf, dass die heutige estnische Standardsprache von Sprechern des nordestnischen Dialekts vermittelt worden ist, während das Südestnische kaum noch Sprechergruppen hat. Fördernd wirkten hierbei die Bemühungen einer Reihe von protestantischen Reformatoren, eine allgemeinverständliche estnische Gemeinschaftssprache zu schaffen und schriftlich festzuhalten. Die im Mittelalter bestehenden estnischen Exklaven im heutigen Lettland lassen sich dagegen nur noch mit Hilfe historischer Nachrichten belegen. Von großer Bedeutung für die Entwicklung war die Herausbildung der Kultur- und Religionsgrenze zwischen den abendländischen und den russisch geprägten orthodoxen Christen im Spätmittelalter. Sie trennten einheitliche Sprach- und Siedlungsgebiete voneinander, was sich auch anhand von Grabbeigaben vom 13. bis zum 16. Jahrhundert nachweisen lässt. Zudem ergaben sich große regionale Unterschiede zwischen Nord- und Westestland einerseits und Südestland andererseits, wo sich der Brauch der Schmuckbeigaben in Gräbern und die Feuerbestattung am längsten hielt. Sogar Assimilationsprozesse ließen sich durch archäologische Befunde bestätigen.
Testamente spiegeln nicht nur das häufig vertraut-familiäre Verhältnis zwischen der städtischen deutschen Oberschicht und ihren zumeist estnischen Bediensteten wider, sondern lassen auch erkennen, dass vornehmlich die oft enge Beziehung zwischen Hausfrau und Magd zu gegenseitiger Beeinflussung führte. Dies förderte die Verbreitung von deutscher Sprache und westlicher Lebensformen in den unteren Schichten und gelegentlich umgekehrt, öffnete das Deutsche für estnische Lehnwörter, half bei der Versorgung des Dienstpersonals und sogar bei den nicht seltenen Eheschließungen zwischen Dienstherrn und Magd.
Das Zusammenwirken von eingewanderten Deutschen und der autochthonen Bevölkerung war während des Spätmittelalters besonders auf militärischem Gebiet ausgeprägt, zumal es seit dem frühen 13. Jahrhundert eine Art von Heerespflicht für die Bauern gab. Vom 15. Jahrhundert an ist allerdings eine stete Abnahme der bäuerlichen Militärdienste festzustellen, die sich mit der gleichzeitigen Zunahme des Söldnerwesens erklären lässt. Um den mit den Söldnereinsätzen gestiegenen Finanzbedarf zu befriedigen, haben die Landesherren Alt-Livlands die Landbevölkerung nach und nach zu entsprechenden Steuerleistungen herangezogen. Dies wiederum führte zur allgemeinen Verschlechterung der gesellschaftlichen Lage der Bauern, die gegen Ende des 15. Jahrhunderts in die auf Frondiensten beruhende Gutswirtschaft mündete. Von daher überrascht es, dass die Mehrzahl der leibeigenen Bauern im 16. Jahrhundert kreditwürdig sowohl für Gutsbesitzer als auch für Gläubiger auf dem freien Markt war; denn die bäuerlichen Schuldner waren zumeist imstande, ihre Kredite nach der Ernte im Herbst abzulösen.
Wie tief bei der livländischen Landbevölkerung die Verwurzelung im offiziell abgelegten Heidentum noch im 15. Jahrhundert war, davon kündet eine Reihe von Bestimmungen der Rigaer Provinzialsynoden. Kirchlich nicht sanktionierte Ehen, fehlende Taufen oder Bestattungen auf Waldlichtungen waren weit verbreitet. Dabei waren seit der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts besonders die sprachkundigen Dominikaner bemüht, mit ihrer Missionsarbeit auch die Landbevölkerung zu erreichen. Da ihre Predigten - und darin besonders die tagespolitischen Zusätze - allgemein beliebt waren, betrachteten die Reformatoren die Dominikaner als gefährliche Konkurrenz, die es zu beseitigen galt.
Die Themen der Beiträge zum estnischen Mittelalter sind gut aufeinander abgestimmt. Der Leser kann somit einen ausgewogenen Eindruck vom Stand der derzeitigen Forschung gewinnen. Davon abgesehen, dass immer noch von 'Pruzzen' statt von 'Prußen' gesprochen wird, wirkt lediglich der erste Beitrag etwas aufgepfropft. [1] Wird doch dem einenden Band der gemeinsamen Sprache - wie beispielsweise vermittels der Wulfila-Bibel normiert - bei der Beschreibung der ethnogenetischen Prozesse kaum noch Aufmerksamkeit zuteil. Dies mag nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass die Forschung die gemeinsame Sprache in einem Atemzug mit früheren Vorstellungen von der Abstammungsgemeinschaft behandelt hat.
Anmerkung:
[1] Erich Keyser: Der Name der Prußen, in: Alt-Preußen 5 (1940) 9 f.; s. auch Erich Maschke: Preußen. Das Werden eines deutschen Stammesnamens, in: Ostdeutsche Wissenschaft 2 (1955) 116-156; Neudruck in: Ders.: Domus hospitalis Theutonicorum. Europäische Verbindungslinien der Deutschordensgeschichte. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1931-1963 (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 10), Bonn-Bad Godesberg 1970, 158-187.
Dieter Heckmann