Julie V. Gottlieb: 'Guilty Women', Foreign Policy, and Appeasement in Inter-War Britain, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2015, xii + 340 S., ISBN 978-0-230-30429-1, GBP 70,00
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Hillary Clinton hat es nicht geschafft, amerikanische Wählerinnen zu begeistern. Aber war die Hoffnung auf "die Frauenstimme" von Anfang an eine Illusion - wählen Menschen wirklich geschlechtsspezifisch? Mit dieser Frage beschäftigt sich auch Julie Gottliebs Buch über britische Wählerinnen und die Appeasementpolitik. Schon der Titel Guilty Women ist originell gewählt. 1940 publizierte ein anonymes Autorenteam den Bestseller Guilty Men - eine Abrechnung mit Chamberlains Appeasementpolitik. Das Buch war der Beginn einer Debatte, die bis heute anhält. Im Laufe der Jahrzehnte verteidigten Revisionisten immer wieder die Appeaser und wurden dafür postwendend angegriffen.
Übersehen wurde bei dieser Debatte jedoch ein wichtiger Punkt: die Rolle der britischen Wählerinnen. Es ist Julie Gottliebs großes Verdienst, sich dieser Forschungslücke angenommen zu haben. Gottlieb hat bereits in der Vergangenheit mit Büchern über britische Faschistinnen reüssiert. An den Anfang ihrer neuen Monografie setzt sie jetzt ein längst vergessenes Pamphlet - das 1941 erschienene "Guilty Women" von Richard Baxter. Während wir mittlerweile wissen, wer das berühmte Pendant "Guilty Men" geschrieben hat, ist Richard Baxter ein Phantom geblieben. Seine These ist jedoch alles andere als verschwommen: Baxter macht britische Wählerinnen für die verhängnisvolle Appeasementpolitik verantwortlich (1). Frauen seien per se Kriegsgegner und hätten zu einer Feminisierung der Außenpolitik beigetragen. Ihr Einfluss sei unter anderem auch dadurch gestiegen, dass sie als Lehrerinnen ihre Schüler auf gefährliche Weise indoktrinieren könnten (64). Baxters gesamtes Pamphlet ist eine lange Aufreihung von kruden Argumenten, aber es spiegelt einen wichtigen Teil des damaligen Zeitgeistes wider, und Gottlieb nimmt es zum Anlass, den Geschlechterkämpfen der 1930er-Jahre nachzugehen. Darüber hinaus stellt sie die Frage, welche Rolle Frauen denn nun tatsächlich in der Appeasementpolitik spielten.
Aus einer Fülle von bisher unbekannten Quellen setzt sie ein vielschichtiges Bild zusammen, das uns wichtige neue Einblicke in das Wahlverhalten von Frauen gibt und darüber hinaus zeigt, wie die "Frauenstimme" propagandistisch benutzt wurde. Gottlieb beginnt mit den bekannten britischen Bewunderinnen des Nationalsozialismus - Lady Douglas-Hamilton und den unvermeidlichen Mitford-Schwestern Diana und Unity. Abgesehen von dieser Groupie-Gruppe, gab es vor allem in Chamberlains engstem Kreis Frauen, die aus Vernunftgründen eine Beschwichtigung Deutschlands befürworteten. Dazu gehörten seine patente Ehefrau Annie, die bei konservativen Wählerinnen ausgesprochen beliebt war, sowie seine Schwestern. Vor allem Chamberlains Briefwechsel mit ihnen ist bis heute eine wichtige Quelle. Schon Zeitgenossen beklagten den Einfluss der Chamberlain-Schwestern. Der parlamentarische Privatsekretär Channon schrieb: "the PM gets all his mental stimulus and confidence from his two maiden sisters with whom he corresponds constantly." (70)
Gottlieb interessiert sich jedoch nicht nur für diese weibliche Elite, sondern für Frauen aller Schichten. Hier gestaltet sich der Quellenzugang naturgemäß sehr viel komplizierter. Einer der ersten Gallup-Umfragen von 1938 zeigte, dass aufgrund der schwellenden Sudetenfrage die Appeasementpolitik großen weiblichen Zuspruch erhielt. Auch die unzähligen Dankesbriefe an Chamberlain schrieben vor allem Frauen. Doch kurz nach dem Münchner Abkommen wurde das Bild wieder unübersichtlicher. Bei Nachwahlen zum Unterhaus im Oktober 1938 standen sowohl eine Anhängerin als auch eine starke Kritikerin der Appeasement-Politik zur Wahl. Wie ihre männlichen Konkurrenten mussten sie feststellen, dass es vor allem die lokalen Probleme waren, die am Ende wahlentscheidend wirkten. Gottlieb zeigt, dass Frauen vor allem durch Schicht- und Parteizugehörigkeiten geprägt waren. Anhängerinnen der Labour Party misstrauten sowohl dem Appeasement-Kritiker Churchill als auch dem Premier Chamberlain. Eine wortstarke Gruppe von liberal gesinnten Frauen wiederum unterstützte Churchill. Das bisherige Bild der appeasementbegeisterten Frauen ist daher weniger eindeutig als vermutet. Nach dem Zusammenbruch der Beschwichtigungspolitik wurde es jedoch ein ausgesprochen nützliches Bild, um Frauen als politisch inkompetent zu diskreditieren.
Amerikanischen Wählerinnen sind sicher nicht Guilty Women geworden, weil sie nicht den Erwartungen der Demoskopen entsprachen. Geschlechterspezifisch abzustimmen würde niemand von Männern erwarten. Gottliebs großes Tableau zeigt uns wie wichtig es ist, sehr viel genauer hinzuschauen - und Demoskopen zu misstrauen.
Karina Urbach