Peter Longerich: Hitler. Biographie, München: Siedler 2015, 1296 S., 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-8275-0060-1, EUR 39,99
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Wolfram Pyta: Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse, München: Siedler 2015, 846 S., ISBN 978-3-8275-0058-8, EUR 39,99
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Harald Sandner: Hitler - Das Itinerar. Aufenthaltsorte und Reisen von 1889 bis 1945, Berlin: Berlin Story 2016, 4 Bde., 2432 S., ISBN 978-3-95723-090-4, EUR 399,00
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Matthias Uhl / Thomas Pruschwitz / Jean-Luc Leleu u.a. (Hgg.): Die Organisation des Terrors. Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943-1945. Hg. im Auftrag des Deutschen Historischen Instituts Moskau, München / Zürich: Piper Verlag 2020
Johannes Hürter / Thomas Raithel / Reiner Oelwein (Hgg.): »Im Übrigen hat die Vorsehung das letzte Wort «. Tagebücher und Briefe von Marta und Egon Oelwein 1938-1945, Göttingen: Wallstein 2021
Lars Lüdicke: Hitlers Weltanschauung. Von »Mein Kampf« bis zum »Nero-Befehl«, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016
Volker Ullrich: Adolf Hitler. Die Jahre des Aufstiegs, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2013
Mathias Middelberg: "Wer bin ich, dass ich über Leben und Tod entscheide?". Hans Calmeyer - "Rassereferent" in den Niederlanden 1941-1945, Göttingen: Wallstein 2015
Peter Longerich: Heinrich Himmler. Biographie, München: Siedler 2008
Wolfram Pyta (Hg.): Das europäische Mächtekonzert. Friedens- und Sicherheitspolitik vom Wiener Kongress 1815 bis zum Krimkrieg 1853, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009
Peter Longerich: Außer Kontrolle. Deutschland 1923, Wien: Molden Verlag 2022
Hitler erklären - das fiel der Geschichtswissenschaft wie der Gesellschaft in der Bundesrepublik lange sehr schwer. Die erste große, ungemein materialreiche und klarsichtige Hitler-Biografie, vorgelegt bereits 1936/37 vom Münchner Journalisten und Exilanten Konrad Heiden, wurde nach 1945 kaum rezipiert und - wie sein Autor - weitgehend vergessen [1]. So war es der britische Historiker Alan Bullock, der die zunächst als "gültig" anerkannte Biografie verfasste [2]. Er zeichnete Hitler als "prinzipienlosen Opportunisten", dessen Aufstieg durch einen spezifisch deutschen Sonderweg begünstigt gewesen sei. Die westdeutsche Historiografie modifizierte dieses Bild, indem sie entweder Ideologie und Programm Hitlers als treibende Kraft in den Mittelpunkt rückte (Andreas Hillgruber, Eberhard Jäckel u.a.) oder aber die monokratische Allmacht des Diktators mit Hinweis auf die polykratischen Strukturen des NS-Herrschaftssystems bezweifelte (Martin Broszat, Hans Mommsen u.a.). Doch einer umfassenden wissenschaftlichen Biografie versagte sich die bundesdeutsche Historikerzunft, zumal in den 1970er Jahren die Konjunktur der Strukturgeschichte eine personenzentrierte Geschichtsschreibung als rückständig erscheinen ließ. So war es mit Joachim Fest ein Publizist außerhalb der Forschung, der eine Biografie vorlegte, die lange als "definitiv" angesehen wurde, aber nicht erst aus heutiger Sicht in vielen Punkten irritiert - vor allem in der spürbaren Faszination für einen, wenn auch "bösen", so doch kaum mit menschlichen Maßstäben zu messenden Modernisierer Hitler und in der weitgehenden Ausblendung des Holocaust [3].
Der riesige Publikumserfolg der Biografie Fests, die geradezu zum deutschen Hausbuch über Hitler avancierte, schien eine weitere biografische Studie dieses Umfangs obsolet zu machen. Für das kleinere Format hatte man den essayistischen Geniestreich von Sebastian Haffner, der ebenfalls nicht zu den "zünftigen" Historikern gehörte [4]. In der Folgezeit differenzierte sich der Forschungsstand über die nationalsozialistische Herrschaft und Gesellschaft jedoch immer weiter aus, und es galt, den "Faktor Hitler" in die neuen Deutungen einzuordnen. Wieder war es kein deutscher, sondern ein britischer Historiker, der die große Synthese wagte und politische Biografik mit moderner Gesellschaftsgeschichte verband. Ian Kershaw versuchte die funktionalistischen und intentionalistischen Erklärungsansätze miteinander zu versöhnen. Er interpretierte Herrschaft als "soziale Praxis" einer Gesellschaft, die dem "Führer" Charisma zuschrieb und ihm "entgegenarbeitete", ohne dass Hitler persönlich an allen Entscheidungen beteiligt sein musste [5]. Dieser strukturalistische Ansatz überwand endgültig den Hitler-Zentrismus der älteren Forschung, erkannte aber zugleich die zentrale Rolle des Diktators und seiner ideologischen Fixierung auf die "Judenfrage" und den "Lebensraum" durchaus an. Dennoch wurde, etwa von Klaus Hildebrand, nicht ohne Grund kritisch gefragt, ob Kershaws Gewichtung der "komplementären Elemente" Persönlichkeit und Gesellschaft der tatsächlichen Bedeutung Hitlers als "Führer" ganz gerecht werde.
Nach dem Opus magnum von Ian Kershaw machte sich nicht nur in der Wissenschaft die Meinung breit, dass Hitler nun, wieder einmal "gültig" und "definitiv", auf der Höhe der Zeit erklärt, quasi "ausgeforscht" sei - endlich genug von Hitler! Umso überraschender war, dass sich nur etwas mehr als ein Jahrzehnt später eine neue "Hitler-Welle" entwickelte. Es hing wohl auch mit dem Ende der Urheberrechte an Hitlers autobiografischer Programmschrift "Mein Kampf" zum 31. Dezember 2015 und der Ankündigung einer wissenschaftlichen Edition dieses Schlüsseltextes durch das Institut für Zeitgeschichte zusammen, dass Hitler plötzlich wieder da war. Nicht nur Journalisten, Filmproduzenten, Buchverlage und findige Romanschreiber wie Timur Vermes förderten und nutzten das neue Interesse, sondern auch die deutsche Zeitgeschichtsforschung. Die mediale Debatte um die "Mein Kampf"-Edition lenkte die Aufmerksamkeit wieder stärker auf Hitler als Ideologen [6]. Unter den NS-Experten macht sich ein gewisser Wahrnehmungswandel bemerkbar: eine Rückbesinnung auf die Rolle der Persönlichkeit Hitlers, auf die Wirkmächtigkeit seines Programms und seiner Politik. Oder ist es vielmehr ein Rückschritt von der gesellschaftsgeschichtlichen Kontextualisierung der Herrschaft Hitlers zu einer erneuten "Hitlerzentrik"? Entspricht dies gar einem stillen gesellschaftlichen Bedürfnis, sich von einer historischen Bürde zu befreien, indem man Hitler wieder - wie in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik - eine Macht zuschreibt, gegen die kein Kraut und schon gar nicht "die" Deutschen gewachsen waren?
Seriösen Historikern die Agenda zu unterstellen, Hitler aus der deutschen Gesellschaft herauszulösen, ginge allerdings entschieden in die falsche Richtung und bestätigte nur unsere Probleme im Umgang mit diesem Teil unserer Vergangenheit. Vielmehr soll im Folgenden anhand von wenigen besonders wichtigen und signifikanten Publikationen der letzten Jahre nach dem (vorläufigen) wissenschaftlichen Ertrag der jüngsten Hitler-Konjunktur gefragt werden. Der Wert anderer Veröffentlichungen - zu nennen sind vor allem der erste Band der groß angelegten Hitler-Biografie von Volker Ullrich mit einem gewissen Schwerpunkt auf dem "privaten" Hitler sowie die weiterführenden Detailstudien von Othmar Plöckinger und Thomas Weber zur maßgeblichen Formierungsphase im und kurz nach dem Ersten Weltkrieg [7] - soll durch die Auswahl nicht geschmälert werden.
Das Buch Peter Longerichs mit dem lakonischen Titel "Hitler. Biographie" ist überhaupt die erste umfassende Hitler-Biografie eines professionellen deutschen Historikers. Sie besticht durch die souveräne Beherrschung und Bündelung des erreichten Wissens, den schnörkellosen, wenn auch konventionellen, weitgehend chronologischen Aufbau sowie die, ebenfalls schnörkellose, verständliche sprachliche Vermittlung, vor allem aber durch eine konsequent vertretene und durchgehaltene These. Der Autor markiert bereits auf den ersten Seiten seinen eigenen Standpunkt und grenzt sich von nahezu allen maßgeblichen Interpretationsansätzen der vergangenen Jahrzehnte ab. Hitler war für Longerich keineswegs primär Projektionsfläche, Katalysator und Medium gesellschaftlicher Kräfte, abhängig von dem ihm zugeschriebenen Charisma als zentraler Machtressource, und erst recht kein "in mancher Hinsicht schwacher Diktator" (Hans Mommsen). Auch die neuen Forschungen zur "Volksgemeinschaft" als Kern des NS-Herrschaftssystems können den Autor nicht überzeugen. Doch ebenso wie von den funktionalistischen, strukturalistischen und gesellschaftsgeschichtlich orientierten Hitler-Deutungen distanziert er sich von der intentionalistischen Annahme, Hitler habe sich starr an ein ideologisches Programm und einen "Stufenplan" gehalten.
Das präsentierte Gegenbild ist das eines, wie man in Anlehnung an Mommsen formulieren kann, in jeder Hinsicht starken Diktators, eines höchst aktiven Politikers, der zwar auf sein utopisches Ziel eines rassenbiologisch geordneten Imperiums fixiert blieb, diese Fixierung aber mit "skrupelloser Flexibilität" hinsichtlich der Mittel sowie der genauen zeitlichen, räumlichen und strukturellen Ausgestaltung kombinieren konnte. Hitler rückt bei Longerich wieder ohne Wenn und Aber in das Zentrum eines "personalistischen" Herrschaftssystems. Der Diktator ist hier der große Gestalter, der lediglich bei seinem Wechsel aus der Randexistenz eines Niemand in die öffentliche Welt der Politik von äußeren Kräften gezogen wurde, dann aber mit Energie und Geschick überall die Führung ansteuerte. In Longerichs Lesart geht es um Hitlers Partei, Hitlers Machtübernahme, Hitlers Staat und Hitlers Krieg. Seine personalisierte Herrschaft war demnach von direkten, entformalisierten Entscheidungswegen und weitreichenden Eingriffen in alle Politikfelder geprägt. Das habe vor allem auch die Radikalisierungsschübe in der Kriegführung, Besatzungsherrschaft und Rassenpolitik seit 1939 betroffen.
Die wichtigste Subthese der Hauptthese vom starken Diktator und seiner fast unbegrenzten Machtfülle bezieht sich auf das Verhältnis von Diktatur und Gesellschaft. Longerich widerspricht der Annahme, dass Hitler als charismatischer Herrscher auf die Zustimmung der zur "Volksgemeinschaft" verbundenen Mehrheitsgesellschaft angewiesen gewesen sei. Das Charisma war für den Autor nur Fassade, die Volksgemeinschaft nur ein Propagandakonstrukt. Er verweist auf die auch nach 1933 bestehenden Gegensätze und Unterschiede in der deutschen Gesellschaft, auf die Zugehörigkeitsgefühle zu sozialen Klassen, Schichten und Milieus, auf die konfessionellen Bindungen. Daher stützte sich Hitlers Macht, so Longerich, viel weniger auf kollektive Zustimmung als auf die Machtmittel der Diktatur: auf den Repressionsapparat, die Kontrolle der Bevölkerung durch die Partei, die Beherrschung der Öffentlichkeit durch die Propaganda. Hitler habe streng darauf geachtet, dass diese Mittel konsequent und brutal eingesetzt wurden, um - erst recht im Krieg - die eigene Bevölkerung zu disziplinieren. Wie wirksam Hitlers System auch ohne "Charisma" und "Volksgemeinschaft" war, zeigt sich für Longerich auch darin, dass das "Dritte Reich" erst mit dem Tod des fast allmächtigen Diktators unterging, also lange nachdem das eine aufgebraucht und das andere als Propagandafloskel abgenutzt gewesen sei.
Longerichs Buch setzt einen wichtigen, ja notwendigen Akzent gegen eine Tendenz in der jüngeren Täterforschung, Hitler hinter dem Geflecht tatbeteiligter Technokraten, Bürokraten und Gewaltakteure, Verwaltungen, Stäbe und Organisationen als "schwach", ja fast schon entbehrlich erscheinen oder ganz verschwinden zu lassen. Das Plädoyer für die Autonomie der handelnden Persönlichkeit am Beispiel Hitlers richtet sich implizit auch gegen die Nivellierung der Abstufung von Verantwortung und Mitwirkung im NS-Unrechtssystem. Denn das Konstrukt einer korrumpierten und auf Linie gebrachten Mehrheitsgesellschaft sowie eines insgesamt durch und durch kriminellen Staats- und Parteiapparats lässt kaum mehr individuelle Unterschiede zu, macht schlichtweg alle zu Tätern und entlastet damit den Einzelnen, der sich dann nur so verhalten hätte wie "die" Deutschen insgesamt. Alles zerfließt im Mahlstrom der Vergemeinschaftung, auch Individualismus, Egoismus und Differenz. Das birgt wohl ungewollt ein größeres Exkulpationspotenzial als das Narrativ einer Herrschaft, die von Hitler ausging, von bestimmten Akteuren getragen wurde und sich auf Repression, Kontrolle und Propaganda stützte. Hier schwamm man nicht nur mit, sondern musste sich entscheiden.
Longerich treibt allerdings seinen Gegenentwurf so weit, dass umgekehrt die Gesellschaft und komplizierte Herrschaftsstruktur hinter Hitler zu verschwinden drohen. Seine Erzählung von einem omnipotenten Diktator fällt teilweise hinter den Forschungsstand zurück, der inzwischen sowohl in der Analyse der immer wieder auch Eigeninitiative entwickelnden Akteure als auch mit dem heuristischen Begriff "Volksgemeinschaft" in Hinblick auf die sozialen Praktiken von Vergemeinschaftung und Ausgrenzung erreicht worden ist. Die deutsche Gesellschaft war eben nicht nur einer brutalen Gewaltherrschaft und ihren Manipulationen ausgesetzt, sondern fügte sich zu großen Teilen bereitwillig in sie ein, profitierte und agierte in ihr, gestaltete sie in vielerlei Hinsicht mit. Dass Longerich diese Aspekte erheblich unterschätzt, fördert die Komplexitätsreduktion, zu der das Metier der Biografik ohnehin neigt. So kann der Autor nur bedingt seinen eingangs formulierten Anspruch einlösen, aus der Biografie Hitlers ein Gesamtbild der NS-Diktatur entstehen zu lassen. Was bleibt, ist eine aktuelle Synthese der Hitler-Forschung auf hohem professionellem Niveau und der thesenstärkste wissenschaftliche Beitrag zu Hitler seit vielen Jahren - ein entscheidender Schritt zur Korrektur der Schieflage, das "Dritte Reich" nahezu ohne Hitler erklären zu wollen.
Während Longerichs Hitler-Biografie für die wichtige Neuakzentuierung der politikgeschichtlichen Deutung einer personalisierten Herrschaft steht, vollzieht sich in der biografischen Studie von Wolfram Pyta die methodische Öffnung der Hitler-Forschung für Ansätze des Cultural Turn, insbesondere des Performative Turn. Dadurch gelingt ihm der originellste und intellektuell anspruchsvollste Beitrag zur Hitler-Forschung seit Langem. Das Buch ist keine Biografie, sondern eine detaillierte Analyse der Herrschaftsformen und -techniken Hitlers, die allerdings in ihrer chronologischen Anordnung der Karriere des Diktators folgt. Im Mittelpunkt stehen sein Selbstverständnis als Künstler und seine Selbst(er)findung als performativer Künstler-Politiker Anfang der 1920er Jahren sowie die Übernahme des totalen militärischen Oberbefehls als "Feldherrn-Genie" im Zweiten Weltkrieg. Um jedem Missverständnis vorzubeugen, betont der Autor, dass die Begriffe "Künstler" und "Genie" nicht moralisch oder normativ benutzt werden, sondern als analytische Kategorien der Selbstdeutung und Fremdzuschreibung.
Pytas Neudeutung der Herrschaft Hitlers mit den heuristischen Mitteln der politischen Kulturgeschichte erfolgt in drei Schritten. Erstens greift die Studie Walter Benjamins Diktum von der "Ästhetisierung der Politik" auf und zeigt, wie sich Hitler die Darstellungs- und Erscheinungsmodi sinnlicher Wahrnehmung strategisch zunutze machte, um den notwendigen Massenanhang zu gewinnen. Als Künstler besaß er, so die These, eine besondere Sensibilität für die Theatralität und Performativität des Politischen. Er habe aber nicht nur - die Begriffe sind Hans Ulrich Gumbrecht entlehnt - die Präsenzkultur des Auftritts, sondern auch die Sinnkultur textbasierter Diskurse zur Legitimation seiner Herrschaft genutzt. In dieser Hinsicht sei das Ton-Bild-Wort-Raum-Gesamtkunstwerk Richard Wagners das ästhetische Vorbild des "politischen Performanzkünstlers" Hitlers gewesen. Pyta beschreibt den Transfer Hitlers, der auch in dieser Interpretation 1918/19 zunächst noch ein politisch weitgehend unbeschriebenes Blatt war, vom Künstler zum Politiker in aufschlussreichen Analysen des präsenzkulturell agierenden Redners und des sinnkulturellen Textproduzenten von "Mein Kampf".
Zweitens folgt Pyta, wie Ian Kershaw, dem Max Weberschen Konzept der charismatischen Herrschaft. Das überrascht nicht, diente doch das "Charisma" schon in der Hindenburg-Biografie des Autors zur Erklärung, warum der persönlich biedere Feldherr und Reichspräsident so populär und erfolgreich war [8]. Im Vergleich dazu war das Medienereignis Hitler geradezu ein Super-Charismatiker. Das Erstaunliche war aber, wie Pyta völlig zurecht darlegt, dass Hitler seit 1942 kaum mehr öffentlich auftrat und es offenbar nicht mehr nötig hatte, sein Charisma durch performative Akte zu erneuern. Warum blieb seine Herrschaft trotzdem stabil? Pyta führt eine neue Legitimationsressource ein, nämlich die Zuschreibung von "Genie". Indem Hitler, so die zentrale These des Autors, den seit dem 18. Jahrhundert etablierten Geniekult zur Legitimation seines militärischen Führungsmonopols mobilisierte, "potenzierte er die herrschaftlichen Ressourcen seiner charismatischen Herrschaft" (22) - nach dem Vorbild des roi-connétable Friedrich II. von Preußen. Das habe in der zweiten Kriegshälfte seinen Charismaverlust kompensiert und dafür gesorgt, dass seine Herrschaft trotz aller Niederlagen bis zuletzt nahezu unangefochten war.
Drittens rekurriert der Autor auf die viel zu wenig beachtete Feststellung von Bernd Wegner, dass Hitler seit 1939/40 in erster Linie "Feldherr" und Warlord - und nur noch im "Nebenberuf" Parteiführer und Reichskanzler gewesen sei. Wie viel Zeit und Intensität das Staatsoberhaupt für die militärischen Lagebesprechungen in seinem "Hauptquartier" aufbrachte, ist in der Geschichte des 20. Jahrhunderts beispiellos. Es ist daher so erfreulich wie notwendig, dass hier erstmals in der Hitler-Biografik die überragende historische Bedeutung der militärischen Führung durch Hitler angemessen berücksichtigt wird. Damit wird ein Versäumnis aufgeholt, das symptomatisch für die jahrzehntelange Vernachlässigung militärgeschichtlicher Themen und Ansätze in der Zeitgeschichtsforschung ist. Pyta widmet der kulturgeschichtlich fundierten Analyse der militärischen Führungsentscheidungen und Kulturtechniken Hitlers den weitaus größten Teil der Untersuchung. Auch hier verweist er auf die Relevanz der spezifischen Verbindung von Ästhetik und militärischem wie politischem "Führertum": Der Künstler Hitler versuchte als Feldherr seine Kompetenz als Theatraliker durch eine "orale Herrschaftstechnik" in den zahllosen militärischen Besprechungen sowie seine visuelle Begabung durch die eigenmächtige Deutung militärischer Lagekarten auszuspielen. Auch ist seine Doktrin unbedingten Haltens, die sich zur Manie steigerte, nach der schlüssigen Interpretation Pytas ohne seine visuelle Fixierung auf den Raum und sein Selbstbild als Architekt, der sich zum "größten Festungsbauer aller Zeiten" erklärte, kaum zu verstehen.
Pyta seziert die erstaunliche Entwicklung des ambitionierten militärischen Laien vom formalen Obersten Befehlshaber der Wehrmacht zum tatsächlichen und allmächtigen Generalissimus, der die Mitsprache der Professionals aus dem Generalstab immer weiter zurückdrängte. Dies ist kein Nebenthema für Spezialisten, sondern ein Kernthema der NS-Geschichte mit weltgeschichtlichen Auswirkungen, denn diese militärische Machtaneignung beeinflusste den Verlauf des Zweiten Weltkriegs und war außerdem eine Voraussetzung für die Realisierung des rassenideologischen Mordprogramms. Kann der Autor bereits in seinem ersten Teil, über die Genese des Künstler-Politikers, mit zahlreichen neu- und wiederentdeckten Quellen aufwarten, so hält erst recht der zweite Teil über Hitler als Feldherrn eine solche Fülle an überraschenden Belegen bereit, dass die Forschung vermutlich noch länger auf diesen Fundus zurückgreifen wird - hingewiesen sei nur auf den hochrelevanten, bisher leider nicht frei zugänglichen Nachlass des Generalfeldmarschalls Erich von Manstein, der bei Pyta zum großen Gegenüber Hitlers aus der Generalstabstradition wird.
Mit seinen militärhistorischen Detailanalysen begibt sich Pyta auf ein Terrain, das seit der jüngeren Konjunktur der Militärgeschichte teilweise bereits gut vermessen ist. Entsprechend reizen einige Ergebnisse zum Widerspruch. Nähere Hinweise auf mögliche Spezialdebatten würden hier zu weit gehen. Von generellem Interesse und kritisch zu hinterfragen ist jedoch die erstaunlich dichotomische Sicht auf das Verhältnis zwischen dem Diktator-Feldherrn und der Generalstabselite der Wehrmacht. Dieser Gegensatz durchzieht den zweiten Teil der Studie wie ein roter Faden und wird nach Meinung des Rezensenten viel zu stark gesehen. Die angeblich so hohe wissenschaftliche Professionalität, die Pyta den generalstabsmäßig ausgebildeten Offizieren und Heerführern fast durchgehend zuschreibt, führte doch immerhin - nur zwei Beispiele von vielen - zur Fehlanlage des "Unternehmens Barbarossa" ohne Alternativplan und zum sinnlosen Vorhetzen der eigenen Truppen bis vor die Tore Moskaus, ganz zu schweigen von den verbrecherischen Implikationen des Vernichtungskriegs, die von der Wehrmachtselite mitgetragen wurden. Auch die militärischen Fehler bei der Offensive von 1942, vor und in Stalingrad, bei der Schlacht von Kursk, bei der Abwehr der Invasion etc. gehen keineswegs so einseitig auf das Konto Hitlers, wie Pyta das darstellt. Der Generalstabsmythos der Nachkriegszeit, dass der militärische Dilettant Hitler den "Erben Schlieffens" im Generalstab alles vermasselt habe, ist von der militärgeschichtlichen Forschung inzwischen entzaubert worden. Die berechtigte Betonung der Bedeutung von Hitlers Oberbefehl sollte daher nicht dazu führen, die Übereinstimmungen der Militärelite mit dem Nationalsozialismus und die zahlreichen politisch-ideologischen und militärisch-professionellen Verfehlungen dieser Elite zu unterschätzen.
Ungeachtet dieser Kritik besteht an der Qualität dieser Studie, die in vielerlei Hinsicht die Forschung anregen kann, kein Zweifel. In ihren Ergebnissen gleichen sich die Bücher Pytas und Longerichs: Die Herrschaft Hitlers wird von beiden Autoren als personenzentrierte Herrschaftsform mit einem starken, ja omnipotenten Diktator gedeutet, wobei der Schwerpunkt bei Longerich auf dem Politiker, bei Pyta auf dem Feldherrn liegt. Während Longerich diese Allmacht vor allem auf Repression und Propaganda gestützt sieht, wird sie von Pyta insbesondere mit der bereits bekannten Kategorie Charisma und ihrer Verbindung mit der - ästhetischen Diskursen entlehnten - Zuschreibung von Genie erklärt. Die Gesellschaft in der NS-Diktatur kommt in beiden Studien kaum vor, schon gar nicht als vielgestaltiger, durchaus auch eigenständiger Akteur in einer vielseitigen sozialen Praxis. So wichtig die auf die Macht der Persönlichkeit fokussierten Akzente, die Longerich und Pyta setzen, nach einer längeren Phase der Unterschätzung des Faktors Hitler auch sind, so unverzichtbar bleibt doch die Verknüpfung der Hitler-Forschung mit der modernen Gesellschaftsgeschichte, für die besonders Ian Kershaw steht.
Als dritte wichtige Publikation der letzten Zeit zur Biografie Adolf Hitlers sei abschließend auf ein Hilfsmittel hingewiesen, das in gewisser Weise komplementär zu den beiden grundlegenden monografischen Neudeutungen von Peter Longerich und Wolfram Pyta ist. Der Kaufmann Harald Sandner hat in grandioser Kleinarbeit, wie sie wohl nur ein leidenschaftlicher Sammler und Geschichtsinteressierter außerhalb der Wissenschaft leisten kann, über mehr als 30 Jahre hinweg möglichst alle verfügbaren Daten zu den Aufenthaltsorten und Reisen Hitlers zusammengetragen, dazu etliche Zusatzinformationen an Fakten, Quellenzitaten und Fotos passend zu den jeweiligen Aufenthalten und Besuchen. Mit dem kleinen, aber umso engagierteren Berlin Story Verlag hat sich ein Verleger gefunden, der den Mut hatte, aus dieser einmaligen Materialsammlung ein aufwendiges Buch zu gestalten und auf den Markt zu bringen. Herausgekommen ist eine dichte Chronologie Tag für Tag, vereinzelt sogar Stunde für Stunde, mit dessen Hilfe sich wortwörtlich der Weg Hitlers von der Geburt bis zum Selbstmord verfolgen lässt. Die Mobilität des ubiquitären "politischen Performanzkünstlers" (Pyta) wird dadurch ebenso empirisch fassbar wie die langen, von ständigen Besprechungen und Entscheidungen geprägten Aufenthalte auf dem Obersalzberg und in den Führerhauptquartieren des Kriegsherrn im Zweiten Weltkrieg. Auch das bestätigt den Befund über einen höchst aktiven Politiker und Oberbefehlshaber.
Mehr als ein Wermutstropfen ist allerdings, dass der Autor auf Einzelbelege für die zahllosen Daten und Zitate verzichtet. Das mindert den wissenschaftlichen Nutzen des Werkes ganz erheblich. Dies ist umso bedauerlicher, da das Quellen- und Literaturverzeichnis eine Fülle entlegener Ressourcen ausweist, etwa Gemeindearchive, Ortschroniken und Lokalpresse. Sandner begründet sein Itinerar in der Einleitung mit den "zahlreichen Fehlern, Lücken, Irrtümern und widersprüchlichen Aussagen in der bisher veröffentlichten Literatur und in Fernsehsendungen" (24) und nennt dafür Beispiele. Man darf davon ausgehen, dass seine akribische Arbeit viele dieser Fehldatierungen und Fehlannahmen korrigiert. Allein: Auch die von ihm präsentierten Daten und Fakten müssen wissenschaftlich überprüfbar sein. Sein Argument, dass genaue Nachweise den "ohnehin schon großen Umfang endgültig gesprengt hätten" und "Fußnoten auch problematisch sein können" (26), ist nicht plausibel. Ein exaktes Belegsystem wäre deutlich wichtiger gewesen als die Exkurse über Hitlers Reisegewohnheiten, Wohnungen und Verkehrsmittel oder die Sonderchronologie über den Verbleib von Hitlers Leichnam. Auch hätte man die Auflistung bloßer Durchgangsstationen der Reisen Hitlers erheblich straffen können, um Platz für Belege zu schaffen.
Immerhin ist wenigstens die Provenienz der 2211, zum größeren Teil unveröffentlichten Fotos, die eine Fundgrube für künftige bildhistorische Analysen zu Hitler und der NS-Diktatur sind, eindeutig nachzuvollziehen. Nützlich ist auch die Beigabe einer CD-ROM mit einer pdf-Datei des Gesamttextes, die auf Schlagworte durchsucht werden kann. Insgesamt hat Sandner trotz des erwähnten gravierenden Mangels ein willkommenes Hilfsmittel geschaffen, das die künftige Hitler-Forschung ausgiebig nutzen wird. Denn eines lässt sich mit Sicherheit vorhersagen: Es ist des Forschens über Hitler kein Ende.
Anmerkungen:
[1] Konrad Heiden: Adolf Hitler. Eine Biographie, Bd. 1: Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit, Zürich 1936, Bd. 2: Ein Mann gegen Europa, Zürich 1937. Jüngst wird der Autor wiederentdeckt, vgl. etwa Stefan Aust: Hitlers erster Feind. Der Kampf des Konrad Heiden, Reinbek 2016.
[2] Alan Bullock: Hitler. Eine Studie über Tyrannei, vollständig überarbeitete Neuausgabe, Düsseldorf 1971 (englisch 1964, Erstausgabe 1952).
[3] Joachim C. Fest: Hitler. Eine Biographie, Berlin/Frankfurt a.M./Wien 1973.
[4] Sebastian Haffner: Anmerkungen zu Hitler, München 1978.
[5] Ian Kershaw: Hitler 1889-1936, Stuttgart 1998; ders.: Hitler 1936-1945, Stuttgart 2000.
[6] Vgl. Hitler: Mein Kampf. Eine kritische Edition, im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München - Berlin hrsg. v. Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel, München 2016, sowie die Dokumentation der öffentlichen Diskussion, in: http://www.ifz-muenchen.de/das-institut/presse/pressematerial-mein-kampf/.
[7] Volker Ullrich: Adolf Hitler. Biographie, Bd. 1: Die Jahre des Aufstiegs 1889-1939, Frankfurt a.M. 2013; Thomas Weber: Hitlers erster Krieg. Der Gefreite Hitler im Weltkrieg - Mythos und Wahrheit, Berlin 2011; Othmar Plöckinger: Unter Soldaten und Agitatoren. Hitlers prägende Jahre im deutschen Militär 1918-1920, Paderborn 2013; Thomas Weber: Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde. Vom unpolitischen Soldaten zum Autor von "Mein Kampf", Berlin 2016. Bemerkenswert ist außerdem die vorbildlich allgemeinverständliche Vermittlung des Forschungsstands an ein jüngeres und unkundiges Lesepublikum durch Thomas Sandkühler: Adolf H. Lebensweg eines Diktators, München 2015.
[8] Wolfram Pyta: Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007.
Johannes Hürter