Thomas Großbölting / Rüdiger Schmidt (Hgg.): Gedachte Stadt - gebaute Stadt. Urbanität in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz 1945-1990 (= Städteforschung. Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster. Reihe A: Darstellungen; Bd. 94), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2015, XXVII + 345 S., ISBN 978-3-412-22381-6, EUR 40,00
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Dieser Band vereint 13 Beiträge einer im März 2013 veranstalteten Tagung des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster. Der Band folgt dem Konzept einer integrierten deutschen Nachkriegsgeschichte im Sinne einer "Verflechtungsgeschichte". Ziel ist es, eine deutsch-deutsche Perspektive einzunehmen und Ähnlichkeiten, Verflechtungen und Abgrenzungen auf der Ebene der Stadtgeschichte in den beiden deutschen Staaten herauszuarbeiten.
Am Anfang stehen zwei Aufsätze zur Planungs- und Baugeschichte in der DDR und der Bundesrepublik. Bot der Sozialismus Raum für "Urbanität"? So fragt Frank Betker, der nach einer konzisen Phasenbeschreibung des Städtebaus in der DDR zum Schluss kommt, dass im Laufe der 1970er und in den 1980er Jahren eine "Hinwendung" zur Innenstadt wahrnehmbar - ähnlich wie in der Bundesrepublik - und ein "Geltungsanspruch des Urbanen" (Beispiel Rostock) virulent gewesen sei (16). Die Aneignung der Stadt als urbaner Raum sei nicht erst mit den Bürgerbewegungen seit 1989, sondern schon zuvor erfolgt (Beispiel Halle). Tendenzen der Vielfalt und Individualisierung mit dem Wunsch nach entsprechendem Wohnraum waren bereits zu Zeiten der DDR konstatiert worden. Thomas Großbölting beschreibt die Entwicklungslinien im Westen Deutschlands. Die DDR erscheint "als Referenzgröße", der Bau des West-Berliner Hansaviertels in den 1950er Jahren als Antwort auf die "Stalinallee" im Osten der Stadt. Die seit den 1960er Jahren propagierte Förderung des "Eigenheimbaus" sollte als Bollwerk gegen "die Bedrohung der kollektiven Mächte des Ostens" dienen, so eine zeitgenössische Zielbestimmung (38).
Nach diesen allgemeinen Vermessungen folgen Fallstudien zu den Städten Magdeburg (Rüdiger Schmidt), Hannover (Lu Seegers), Halle-Neustadt und Wulfen (Lena Kuhl) sowie Braunschweig (Thomas Tippach). Magdeburg als der Westgrenze am nächsten gelegene Großstadt sollte, so die Vorgabe aus dem Jahr 1968, die Ideen des Marxismus-Leninismus "in überzeugender Weise zum Ausdruck bringen" (57). In den 1970er Jahren wurde eine Wende hin zur stärkeren Berücksichtigung kulturhistorisch bedeutender Bauten vollzogen - Bauten, die wie vordem diverse Kirchen früher abgerissen worden wären. Doch städtebauliche Sünden ließen sich auch im Westen erkennen. Wer aus Braunschweig oder Hannover nach Magdeburg kam, "konnte sich seiner Überlegenheitsattitüde keineswegs sicher sein" (61). Städtebauliche Parallelen und Konvergenzen, aber auch divergente Entwicklungen skizziert Lena Kuhl in ihrem mit dem Titel "Zwischen Planungseuphorie und Zukunftsverlust" überschriebenen Beitrag anhand der in den 1960er Jahren geplanten und in den 1970ern mit unterschiedlichen Abstrichen realisierten neuen Städten Halle-Neustadt und Wulfen. Vom Verlust der Idee einer planbaren Idealstadt hin zur Politik der "kleinen Schritte" - so lässt sich der Wandel anhand des westdeutschen Beispiels in der ersten Hälfte der 1970er Jahre beschreiben. In der DDR hingegen wurden neue Organisationsmethoden aufgegeben, die im Zuge der Reformen in den 1960er Jahren eingeführt worden waren - von konvergierenden zu divergierenden Tendenzen, so der Befund.
Beiträge sehr unterschiedlichen Zuschnitts sind im Abschnitt "Nationale Identität und politische Bühne" zusammengefasst. Dominik Geppert beschäftigt sich unter der etwas irreführenden Überschrift "Nation mit 'Bundesdorf'. Bonn und Berlin als Hauptstadt" mit dem "Notbehelf" Bonn und dessen Ausbau als Hauptstadt der alten Bundesrepublik. Harald Bodenschatz widmet sich ausführlich und reich illustriert der städtebaulichen Teilung Berlins als Voraussetzung für das Zusammenwachsen der Stadt ab 1990. Dabei werden erstaunliche Konvergenzen sichtbar. Dies betrifft ein "staatswirtschaftliches" System, das hier von der dominanten SPD, dort von der SED gelenkt worden war. Dies klingt provokant, denn beides fand im systemisch konträr organisierten Rahmen statt. Dennoch gilt, dass auch im Westteil der Stadt Stadtplanung und Wohnungsbau letztlich staatlich gelenkt wurden. In beiden Stadthälften lässt sich ab den 1980er Jahren die Rehabilitierung der historischen Stadt und das Ost-West-übergreifende Konzept der kritischen Rekonstruktion des Stadtgrundrisses erkennen. Eine behutsame Stadterneuerung folgte dem Konzept der "Kahlschlagsanierung" bzw. dem Verfall der Altbaukerne mit gleichzeitigem Bau von Großsiedlungen an der Peripherie.
Beate Binder spürt den Narrativen der Teilung nach. Wie verändern sich diese, welche Bedeutung haben sie für die Neugestaltung der vereinten Stadt als Hauptstadt? Ein Befund lautet, dass das Narrativ vom Ende der Teilung an Bedeutung zu verlieren scheint gegenüber dem Diktaturenvergleich, der die Möglichkeit berge, von der demokratischen Grundhaltung des vereinten Deutschland zu sprechen. "Erzählungen" über die Stadt sind auch das Thema von Monica Riera (Berlin in Postwar Films, 1945-1965), die sich diversen in Berlin spielenden und zumeist auch dort produzierten Filmen der Nachkriegszeit zuwendet: Eine Entwicklung vom sogenannten Trümmerfilm bis hin zu Streifen, in denen die unterschiedlichen sozialen Realitäten zunehmend in Konkurrenz der beiden Systeme abgebildet werden sollten. Dieser Beitrag zeigt Berlin als idealen Ort der Identitätskonstruktion - auch dies eine Ebene "gedachter Stadt" und ihrer Realität.
Im letzten Abschnitt des Bandes geht es um "Öffentlichkeit und Privatheit" im städtischen Raum. Christoph Bernhard macht deutlich, dass jenseits der offiziellen Hierarchie Aushandlungsprozesse stattfanden, in denen lokale und regionale Akteure Interessen (Ressourcenzuteilung) vertraten und das zentralistische Prinzip unterliefen. Man könne bei zentraler Rahmung von einer Struktur sprechen, die aus "Herrschaft" und "Partizipation" bestanden habe, ein Befund, der für das Verständnis des Systems DDR wesentlich ist. Dass ein differenzierter Blick auf dieses System erforderlich ist, zeigt der Beitrag Christoph Lorkes. Gab es Segregation im real-sozialistischen Deutschland? Kaum bestritten ist, dass Tendenzen der Segregation, vor allem sozialer Art, nach anfänglich egalisierenden, weil allgemein gleich schlechten Wohn- und Lebensbedingungen in der marktwirtschaftlichen Bundesrepublik ab den 1960/70er Jahren erkennbar wurden. Aber kann man auch die DDR, die den Anspruch erhob, diese dem Kapitalismus zugeschriebenen Erscheinungen auszulöschen, in eine solche Fragestellung einbinden? Der Beitrag fördert bei allen unbestreitbaren Systemunterschieden segregierende Tendenzen auch in der DDR zu Tage, Tendenzen, die übrigens in der DDR-Forschung selbst in den 1980er Jahren konstatiert worden waren. Frappierend ist die Gemeinsamkeit von Begrifflichkeiten: "Asoziale" wurden hier wie da als Bewohner bestimmter Wohnlagen ausgemacht. In der DDR zeigte sich vor allem ein Auseinanderdriften der Alt- und der Neubaugebiete. Gerade in den unsanierten Altbaurevieren konzentrierten sich Bewohnergruppen, die nach offizieller Lesart als "Asoziale" galten, dazu kamen alte Menschen und unangepasste Gruppen politischer und kultureller Dissidenz. Zum anderen war in der DDR die mit den Neubauten angestrebte soziale Durchmischung keinesfalls erreicht worden. Auch in der DDR suchten sich beispielsweise Hochschullehrer und sonstige Gruppen der "Intelligenz" bestimmte Wohnbezirke (290).
Der letzte Beitrag von Thomas S. Carhart geht der häufig kolportierten Behauptung nach, dass sich mit der deutschen Einheit die Besitzverhältnisse an Grund- und Wohneigentum zuungunsten der Ostdeutschen entwickelt hätten. Aufgrund akribischer Recherchen kann Carhart am Beispiel von vier Städten in Thüringen und Sachsen nachweisen, dass diese Behauptung nicht den Gegebenheiten entspricht, im Gegenteil Westdeutsche als Eigentümer eindeutig in der Minderheit gegenüber Ostdeutschen sind.
Dieser Beitrag fällt aus dem Ensemble des Bandes heraus, wenngleich er für die sachliche Bewertung der Folgen der Einheit von großem Wert ist. Mit dieser Ausnahme zeichnet den Sammelband weitgehende thematische Stringenz aus; der Verflechtungsbezug ist nicht in allen Beiträgen vorhanden, kennzeichnet jedoch einen Grundzug der Perspektiven. Der Blick auf die Stadt, auf Ideen ihrer Planung und die Phasen und Brüche der Realisierung eröffnet insgesamt eine nicht nur ergänzende, sondern sehr grundlegende Sicht auf die deutsche Geschichte seit 1945. Systemkonkurrenz, Abgrenzung und Verflechtung sind tragende Pfeiler dieser Geschichte, bei der mitunter überraschende Gemeinsamkeiten zu Tage treten. Zu dieser Perspektive einer integrierten deutschen Zeitgeschichte leistet dieser Band einen erkenntnisreichen Beitrag.
Detlev Brunner