Niels Birbaumer / Dieter Langewiesche: Neurohistorie. Ein neuer Wissenschaftszweig? (= Reihe Pamphletliteratur; Bd. 6), Berlin: Vergangenheitsverlag 2017, 139 S., ISBN 978-3-86408-217-7, EUR 14,99
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In ihrer Monographie greifen die Autoren ein bereits in den frühen 2000er Jahren kontrovers diskutiertes Thema auf. Im Zuge der Fortschritte der Neurowissenschaften wurde mehrfach versucht, die Relevanz dort gewonnener zentraler Erkenntnisse für andere, auch geisteswissenschaftliche Disziplinen aufzuzeigen. In der deutschsprachigen Debatte erfolgte dies vor allem durch die Neurowissenschaftler Wolf Singer und Gerhard Roth, die sich zunächst für die inkompatibilistische Annahme eines neurowissenschaftlich begründeten Determinismus bei gleichzeitiger Negierung menschlicher Willensfreiheit aussprachen.[1] In diesem Kontext unternahm der Mediävist Johannes Fried den kontrovers diskutierten Versuch, eine "Vision einer künftigen Geschichtswissenschaft" zu entwerfen, der letztlich in der Forderung nach einer radikalen neurowissenschaftlichen Neuausrichtung mündete.[2]
Vor diesem Hintergrund ist der Beitrag der Autoren zu verstehen. Schon der Titel zeigt jedoch an, dass es dabei nicht darum geht, offensiv für die Etablierung eines neuen Wissenschaftszweigs zu werben, sondern vor allem darum, zu einer vorsichtig abwägenden Haltung beizutragen. Dabei liegt der Schwerpunkt der Beschäftigung auf der Frage, worin der Nutzen einer Zusammenarbeit zwischen Geschichts- und Neurowissenschaften liegen könnte. Nach einigen einleitenden Bemerkungen zum "Streit um Hegemonie auf dem Wissenschaftsmarkt und in der Gesellschaft" (11-20) wird anschließend im ersten Abschnitt (23-25) eine Begründung dafür geliefert, die vertiefte Thematisierung des Problems der Willensfreiheit auszusparen. Es lohnt sich diese ausführlich zu diskutieren, weil sie typische Probleme der Debatte aufzeigt.
Den Autoren zu Folge gibt es zwei Sphären, die sich durch unterschiedliche Zugriffe auszeichnen und nicht aufeinander reduziert werden können. Für die Sphäre der historischen Fächer könne festgehalten werden, dass menschliches Handeln in Teilen als vom sozial-gesellschaftlichen Raum konditioniert verstanden werde. In diesem Kontext wird auf die "Prägekraft" von "Konditionierungsagenturen" (23) verwiesen, wie sie etwa aus religiösen Strukturen erwachsen. Zwar sei es sinnvoll, auch Konditionierungen, wie sie in der naturwissenschaftlichen Sphäre benannt werden, in geisteswissenschaftliche Analysen einzubeziehen. Dabei dürfe es aber nicht dazu kommen, dass die neurowissenschaftlichen den gesellschaftlich-sozialen Prägungen übergeordnet würden.
Auch wenn es natürlich legitim ist, die Frage nach der Willensfreiheit zurückzustellen, können die dafür angeführten Argumente der Autoren nicht überzeugen. Die Argumentation offenbart den Versuch, sich gegen das Anliegen eines neurowissenschaftlichen Reduktionismus zu immunisieren. Offenbar um sich nicht angreifbar zu machen, verzichten die Autoren für beide Sphären darauf, den Status und die Reichweite der benannten "Prägekräfte" (23) zu erläutern. Die entscheidende Frage bleibt doch aber, ob und inwiefern Menschen qua ihres Willens dazu in der Lage sind bzw. wären, sich über diese Kräfte hinwegzusetzen. Zudem wird nicht plausibel begründet, warum neurowissenschaftliche Konditionierungen nicht den gesellschaftlichen Prägungen überzuordnen sind. Sollte der Mensch auf neurowissenschaftlicher Ebene in einer freiheitsausschließenden Weise determiniert sein, wäre es abwegig und hinsichtlich historischer Werturteile sogar unethisch, in Bezug auf sozial-gesellschaftliche Kontexte von Handlungsspielräumen auszugehen. Wird die Einschätzung geteilt, dass es sich bei den Geschichtswissenschaften um ethisch argumentierende Disziplinen handelt, wäre es wünschenswert gewesen, zumindest auf die Tragweite der Problematik um die Willensfreiheit hinzuweisen.
Im sich anschließenden Abschnitt (27-31) werden mit den Positionen von Johannes Fried und Daniel Lord Smail "zwei gegensätzliche Ansätze zu einer Neurohistorie vorgestellt" (27), die auf unterschiedliche Weise für eine neurohistorische Erneuerung der Geschichtswissenschaft plädieren. Die Autoren betonen, dass sich ihre eigene Position insbesondere von der Frieds unterscheide. Das gilt insbesondere hinsichtlich der Bewertung der Ergebnisse der Neurowissenschaften in ihrer Relevanz für die Geschichtswissenschaft. Dies wird in der sich anschließenden Kritik an Frieds Position deutlich. Für Fried geht die Fähigkeit des Erinnerns mit einer "Deformation" des Erinnerten einher. (35) Während die Autoren dieser Annahme in abgeschwächter Form folgen - sie sprechen allerdings von Umformung - (38) lehnen sie Frieds These ab, wonach sich erst durch eine genaue neurowissenschaftliche Kenntnis des Erinnerungsaktes sogenannte "Verformungstypen" (44) herausarbeiten ließen. Diese könnten, so Fried, anschließend genutzt werden, um abschätzen zu können, was von einer Quelle zu erwarten sei, um dadurch an den Kern der "ursprünglichen Wahrnehmung" und der "wirklichen Sachverhalte" zu gelangen. (46) Die Autoren begegnen dieser Idee mit dem deutlich formulierten antipositivistischen Argument, vergangene Wirklichkeit sei ohnehin nicht abbildbar, vielmehr gehe es vor allem um die Thematisierung menschlicher Konstruktionsleistungen.
Daran anknüpfend, fragen die Autoren danach, ob und inwiefern aus dem Umstand, dass Vergangenheit immer subjektiv wahrgenommen wird, dennoch Probleme resultieren. Sie halten fest, dass dieser Umstand weniger als Problem denn als Chance für die Geschichtswissenschaft verstanden werden kann. Dies sei zumindest dann der Fall, wenn Historiker nicht mono-, sondern multiperspektivisch vorgingen und die einzelnen Perspektiven auf ihren Entstehungskontext hin überprüften. Unter Bezug auf zahlreiche eindrucksvolle Beispiele gelingt es den Autoren überzeugend nachzuweisen, dass sich eine entsprechende Praxis über Jahrhunderte innerhalb der Geschichtswissenschaft etabliert hat. Zudem weisen sie darauf hin, dass bereits seit der Antike über den Status menschlicher Vorstellungen von Geschichte reflektiert wird. Die Folge ist, dass sich der Stellenwert der vermeintlich innovativen Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften zumindest relativiert.
Im letzten Abschnitt zum Verhältnis von Neuro- und Vergangenheitswissenschaften stellen die Autoren zunächst "Gemeinsamkeiten in theoretischen Positionen" der Fächerverbünde vor. Deutlich werden Übereinstimmungen insbesondere in der Einschätzung von Wahrnehmungen und Erinnerungen als konstruktive mentale Fähigkeiten. Abschließend benennen und erläutern die Autoren mögliche "gemeinsame Forschungsfelder". Exemplarisch sei auf die gemeinsame Arbeit an einer neurowissenschaftlich informierten Ergänzung des geschichtswissenschaftlichen Instrumentariums der Quellenkritik verwiesen. In diesem Zusammenhang kann den Autoren nur zugestimmt werden, dass entsprechende Projekte nicht zuletzt auch einen Beitrag zur Verbesserung des zum Teil spannungsbehafteten Verhältnisses zwischen Natur- und Geisteswissenschaften leisten können. Mit ihrer Arbeit ist ihnen das zweifellos gelungen: Auch wenn die Begründung für die Aussparung der Willensfreiheitproblematik nicht überzeugen kann, zeigen die Autoren viele interessante Perspektiven auf, ohne die Forderung nach radikalen Neuausrichtungen zu forcieren. Durch ihren klaren, unaufgeregten Stil dürften sie einen breiten Adressatenkreis ansprechen, der auch interessierte Leser außerhalb der beiden durch die Autoren prominent vertretenen Disziplinen einschließt.
Anmerkungen:
[1] Wolf Singer: Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören von Freiheit zu sprechen; sowie: Roth, Gerhard: Worüber dürfen Hirnforscher reden - und in welcher Weise? Beide zu finden in: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit - Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt am Main 2004.
[2] Johannes Fried: Geschichte und Gehirn. Irritationen der Geschichtswissenschaft durch Gedächtniskritik in: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit - Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt am Main 2004.
Christopher Wosnitza