Dieter Langewiesche (Hg.): Kleinstaaten in Europa. Symposium am Liechtenstein-Institut zum Jubiläum 200 Jahre Souveränität Fürstentum Liechtenstein 1806 - 2006 (= Liechtenstein. Politische Schriften; Bd. 42), Schaan: Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft 2007, 263 S., ISBN 978-3-7211-1068-5, EUR 42,00
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Die Aufnahme Liechtensteins als souveränes Fürstentum in den Rheinbund im Juli 1806 bildete den Anlass für ein Kolloquium im September 2006, das sich die historische Reflexion über die Bedeutung von europäischen Kleinstaaten seit der Frühneuzeit auf die Agenda gesetzt hatte. Es ist prinzipiell ein aufschlussreiches Thema, politische Macht nicht nur als Konsequenz materieller und militärischer Ressourcen der großen Monarchien zu behandeln. Gerade in kleinräumigen politischen Gebilden, wo Herrscher und Beherrschte fast schon in Sichtweite miteinander agierten, waren besondere Techniken und Praktiken gefragt, um zum Interessenausgleich zu gelangen. Personale Netzwerke, Kommunikation unter Anwesenden, Gerüchte, Rituale oder Proteste, um nur einige Beispiele zu nennen, dürften eine andere Virulenz entfaltet haben als in den großen Flächenstaaten. Ebenso wichtig ist die Frage, wie sich Kleinstaaten zwischen Großmächten zu behaupten versuchten, und zwar nicht nur mittels außenpolitischer Strategien im engeren Sinne, sondern auch mittels symbolischer oder künstlerischer Selbstdarstellung. [1]
Anton Schindling, Heinz Duchhardt und Peter Geiger haben in ihren Beiträgen solche Strategien der Kleinen im Kontext der Großen ausdrücklich berücksichtigt. Von den anderen, auf die Innenpolitik von Kleinstaaten zielenden Fragen ist in diesem Band aber nur wenig die Rede. Auch lassen sich einige der Autoren, nämlich Alois Riklin, Andreas Kley und Christoph Maria Merki, gar nicht auf das Thema ein. Ihre Aufsätze sind - und das muss so drastisch gesagt werden - wissenschaftlich ebenso wenig anschlussfähig wie der abgedruckte Festvortrag von Gerard Batliner.
Die Fluchtlinien der anderen Beiträge des Sammelbands zielen mehr oder weniger explizit auf eine historische Einordnung der Staatswerdung des Fürstentums Liechtensteins und seines Fortlebens in einer Staatenordnung, die eher auf die Großen zugeschnitten war. Die Frühneuzeit bot für solche Fragen allerdings wenig Anknüpfungspunkte, was in diesem Band jedoch kaum thematisiert wird: Wenn nämlich im 17. und 18. Jahrhundert von Liechtenstein die Rede war, dann waren damit Personen gemeint, die ihre Aktivitäten auf die höfische Gesellschaft Wiens konzentrierten - und das sollte noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts so bleiben. Das Alpenterritorium, das die Familie um 1700 erwarb, war nur das materielle Substrat einer schon vorher erworbenen Reichsfürstenwürde. Anton Schindling, Peter Blickle und Heinz Duchhardt fragen daher, ob und wie andere kleine politischen Einheiten der Vormoderne als Kleinstaaten thematisiert werden können.
Duchhardt weist dabei zu Recht darauf hin, dass man von einem Kleinstaat überhaupt nur dann sprechen kann, wenn dieser keinen Lehensbindungen mehr unterstand und durch die großen Mächte als souverän anerkannt worden war. Die 1719 zum Reichsfürstentum erhobene Doppelherrschaft Vaduz-Schellenberg war davon ebenso weit entfernt wie die mittleren und mindermächtigen Reichsstände. Für Durchhardt können daher allenfalls die Schweiz oder Lothringen als solche Kleinstaaten gelten. Auch Schindling spricht eher von Kleinterritorien, wenn er zu Recht die politische und kulturelle Bedeutung der kleineren Reichsstände hervorhebt. Sein Beitrag zeigt aber auch, dass die Eigenheiten so unterschiedlicher Gebilde wie einer Reichsstadt oder eines geistlichen Kurfürstentums durch den Sammelbegriff Kleinstaat eher verunklart werden.
So bleibt schließlich noch die notorische Problematik des Begriffs Staat bei der Beschreibung vormoderner Gegebenheiten. Für Peter Blickle vollzog sich frühmoderne Staatsbildung nicht nur in den großen Monarchien, sondern auch auf der Ebene der Gemeinde. Diese traf in Form der Gemeindeversammlung für alle verbindliche Entscheidungen und erfüllte deswegen ohne Zweifel politische Funktionen. Wenn Blickle zum Beleg einige Beispiele aus der Klosterherrschaft Irsee zusammenträgt - und selbst wenn man seine langjährigen Forschungen zu diesem Thema im Hinterkopf hat -, so lässt sich dieser empirische Befund dennoch nicht gegen den Idealtypus Staatsbildung ausspielen.
Der Begriff Staat erschöpft sich sicher nicht in der vielzitierten Trias Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt. Aber gerade deswegen ist bei der historischen Applizierung Vorsicht geboten. Denn 'Staat' fungiert in erster Linie als Selbstbeschreibung des modernen, ausdifferenzierten politischen Systems, dessen Genese Wolfgang Reinhard im Detail beschrieben hat. Das Vorkommen des Begriffs Staat in frühneuzeitlichen Quellen heißt noch nicht, dass damit das gleiche gemeint ist wie heute. Denn das Kennzeichen eines modernen Staates ist, dass er der Gesellschaft als distinkte und überindividuelle Autorität entgegentritt, die ihre Macht im Alltag auf Verwaltungsinstitutionen, im Extremfall aber immer auch auf physische Gewalt gründet. Das Funktionieren einer Gemeindeversammlung beruhte aber gerade nicht auf einer solchen Form von Autorität, sondern auf der persönlichen Anwesenheit der Bauern, auf der Suche nach Ausgleich und Konsens, nicht auf klaren Mehrheitsentscheidungen und Erzwingungsmechanismen - und damit auf typisch vormodernen Praktiken der Willensbildung. Dabei handelte es sich sicherlich um genuin politische Praktiken. Vollzog sich Staatsbildung aber deswegen auch im Dorf bzw. im 'Kleinstaat' - oder nicht eben doch eher in Frankreich und England, Preußen oder Bayern?
Diese Problematik endete für kleine Territorien selbst im 19. Jahrhundert noch nicht. 1806 wurde nämlich kein Staat Liechtenstein zum Souverän erhoben, sondern der Fürst persönlich, dem Napoleon noch einen Gefallen schuldete. Es klingt daher vielversprechend, wenn Dieter Langewiesche die 'Kleinstaaten' als 'zusammengesetzte Staaten' in der Tradition der Frühneuzeit untersuchen will. Beispiele dafür waren die Schweiz, das Alte Reich, der Deutsche Bund, Großbritannien usf. Diesen unterschiedlichen Gebilden war gemeinsam, dass sie anstelle einer strikten Zentralisierung regionalem Pluralismus und daher auch Kleinstaaten Existenzchancen boten.
Aber auch hier ist die Frage, ob der Staatsbegriff nicht eher die spezifischen Probleme verdeckt als sie zu fassen: Waren es wirklich in erster Linie (abstrakte) Staaten, zwischen denen die Existenzbedingungen der Mindermächtigen ausgehandelt wurden, oder nicht auch nach 1800 Fürsten, Monarchen und eine Politik, die immer noch von Ehrvorstellungen und Patronagepraktiken durchdrungen war? Jürgen Müller thematisiert mit der Kleinstaatenbildung ohne Nation wiederum ein Spezifikum am Fall Liechtensteins: Dort, aber auch in Andorra, San Marino und Monaco, führte die enge Kooperation mit den benachbarten Nationen, denen man sich kulturell, historisch und sprachlich verwandt fühlte, zur Delegation von Souveränitätsrechten (diplomatische Vertretung, Verteidigung, Währung), die bis heute andauert. Auch diese Beobachtung lädt erneut dazu ein, sich über die genauen Konturen von Kleinstaatlichkeit Gedanken zu machen. Müller betont zudem die historischen Zufälligkeiten, die die Fortexistenz dieser Mikrostaaten ermöglichten. Stringente historische Traditionen, die zur Ausbildung moderner Kleinstaaten in Europa führten, gab es nicht. Allerdings lassen sich typische Überlebensstrategien in Kriegs- und Krisenzeiten ausmachen, wie Peter Geiger verdeutlicht.
Der Band ist wohl in erster Linie ein Geburtstagsgeschenk, das das Liechtenstein-Institut dem Fürstentum gemacht hat - und zwar bevor 2008 der Steuerskandal und die damit einhergehende globale Stigmatisierung als Steueroase das Liechtensteiner Selbstverständnis massiv irritiert hat. Man fragt sich, was gewesen wäre, wenn die Tagung nach dieser 'Epochenwende' stattgefunden hätte. Sicher wären dann die Festreden anders ausgefallen. Vor allem aber hätte man wohl auch einen Beitrag zur Geschichte des Finanzplatzes Liechtenstein aufgenommen. Denn dass gerade die Banken einen unersetzlichen Beitrag zur Fortexistenz dieses Kleinstaats leisteten, kommt in der historischen Aufarbeitung durch diesen Sammelband etwas zu kurz.
Anmerkung:
[1] Vgl. dazu den grundlegenden und weiterführenden Beitrag von Matthias Schnettger: Kleinstaaten in der Frühen Neuzeit. Konturen eines Forschungsfelds, in: HZ 286 (2008), 605-640.
André Krischer