Stéphane Boissellier / John Tolan (eds.): La cohabitation religieuse dans les villes Européennes, Xe-XVe siècles. Religious cohabitation in European towns (10th-15th centuries) (= Religion and Law in Medieval Christian and Muslim Societies; 3), Turnhout: Brepols 2014, 326 S., ISBN 978-2-503-55252-1, EUR 75,00
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Der dritte von insgesamt neun Bänden der Forschergruppe RELMIN (The legal status of religious minorities in the Euro-Mediterranean world) ist dem Zusammenleben ebenso wie den Spannungen zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften gewidmet, die sich besonders gut bei einem Kontakt auf engem Raum in mittelalterlichen Städten untersuchen lassen, wie Stéphane Boissellier in der Einleitung betont. Der Band mit insgesamt 15 französisch-, englisch- und spanischsprachigen Beiträgen (sowie Einleitung und Schluss), die jeweils regionale, zeitliche oder thematische Einzelaspekte oder Fallbeispiele behandeln, ist in vier "ateliers" unterteilt. Eine Ordnung der Beiträge nach bestimmten Kriterien innerhalb dieser Gruppen ist nicht zu erkennen.
Der erste Abschnitt über die Textgrundlagen des Rechtsstatus religiöser Minderheiten beginnt mit einem interessanten Aspekt: Alexandro García-Sanjuán untersucht das Verhältnis zwischen Muslimen und "Ungläubigen" anhand der Grußvorschriften im Koran, bei Mālik ibn Anas († 795) und in der Folgezeit. Sie lassen Hierarchie und Reserven erkennen, schreiben in jedem Fall aber die Antwort auf einen Gruß vor. Diego Quaglioni beschreibt das Verhältnis der Christen zu den Juden anhand einer Ritualmordanklage im Jahr 1475 in Trient, Tahar Mansouri mamlukische Kanzleidokumente, die den "dhimmis" gegen eine Schutzabgabe ihr normales Leben in ihrem Milieu zugestanden. Die Frage, ob solche Vorschriften auch eingehalten wurden, wird nicht gestellt. Aufschlussreich von einer scheinbaren Randfrage her ist der Beitrag von Farid Bouchiba über Ernährungsvorschriften im hochmittelalterlichen Córdoba, mit Verboten des Verzehrs von nichtmuslimischem Jagd- und Opferfleisch oder Käse, aber unterschiedlichen Ansichten der Autoren der "malikitischen Schule" zu diesem Problem.
Der zweite Abschnitt ist mit Aljama und Getto der städtischen religiösen Topografie gewidmet. Aleida Paudice erläutert den gegenüber der Ausübung griechisch-orthodoxer und jüdischer Religionen relativ toleranten, aber sehr kontrollierten Umgang der Venezianer in Kreta. Die stark besteuerten Juden wohnten in eigenen, vor dem 14. Jahrhundert jedoch nicht ummauerten Vierteln. Während die von Dominique Valérian betrachteten Verträge christlicher Städte mit muslimischen Kaufleuten sich auf den Schutz von Person und Waren beschränkten, erhielten die omnipräsenten christlichen Kaufleute im mamelukischen Ägypten (Pierre Moukarzel) vom Sultan gemäß Verträgen mit den europäischen Handelsstädten weitreichende Freiheiten, waren letztlich aber vom Sultan abhängig und lebten in der Spannung zwischen ihrer Bedeutung für den Handel und strenger Kontrolle. Eine Wohngemeinschaft mit Muslimen war ihnen nicht erlaubt. Brian Catlos sieht der ethno-religiösen Diversität in den Städten Grenzen aus dem Minderheitenstatus gesetzt, entnimmt einschlägigen Quellen des 14. Jahrhunderts ganze Serien von Verbrechen und vertritt die These, dass ein Leben auf dem Land mehr Sicherheit bot als in der Stadt.
Im dritten Abschnitt über die Auswirkungen städtischer "Promiskuität" auf das Religionsrecht zeigt Elisheva Baumgarten an einem jüdischen Kalender des späten 13. Jahrhunderts aus Paris (mit Zeichnungen über Sternenordnung und Zeitrechnung), welches Wissen über christliche Feste und Heilige in jüdischen Kreisen vorhanden war. Öffentliche Badehäuser im islamischen Spanien hatten allem Anschein nach, wie Olivia Remie Constable ausführt, getrennte Badezeiten sowohl für die beiden Geschlechter als auch für die einzelnen Religionen, wenngleich Warnungen, Regelungen und Strafen hier immer wieder auf Übergriffe hinweisen. Maria Filomena Lopes de Barros geht umgekehrt dem christlichen Rechtsverhalten gegenüber Muslimen im spätmittelalterlichen Portugal nach und stellt, bei allen lokalen Unterschieden, fest, dass den Muslimen die Rechtsprechung nicht völlig aus der Hand genommen wurde.
Im letzten Teil über gerichtliche Konfliktregelungen stellt Ahmed Oulddali anhand eines Einzelfalls, einer fatwa (eines Rechtsgutachtens) des Jahres 1446 im algerischen Tlemcen, fest, dass "Ungläubige" strafrechtlich den Muslimen gleichgestellt sein sollten, um zugleich die Bedeutung solcher Gutachten hervorzuheben, die, anders als Gesetze, jeweils die aktuelle Situation berücksichtigen konnten. Katalin Szende erkennt auf der Grundlage städtischer Statuten im spätmittelalterlichen Ungarn einen regen geistigen und wirtschaftlichen Austausch zwischen Juden und Christen und ein Vertrauen in die christliche Administration. Hingegen betont Youna Masset im katalanischen Tortosa die enorme Differenz zwischen den die Religionen rechtlich weitgehend gleich stellenden Statuten und der weit ungünstigeren Rechtspraxis. Am Beispiel der im Jahr 1382 in Kreta zum Christentum konvertierten Maria (Elie) Cornario fragt abschließend Rena Lauer nach Spuren weiblicher Aktivitäten in den lateinischen Notars- und Hofakten als Korrektur zu den bisher ausschließlich behandelten rabbinischen Quellen und stellt erhebliche Kontakte zwischen Juden und Christen fest, an denen auch Frauen partizipierten.
In seiner Zusammenfassung betont John Tolan neben den Quellenproblemen noch einmal, dass den auf christlicher wie muslimischer Seite recht klaren gesetzlichen Vorgaben (minderberechtigt, aber geschützt) überall weitreichende Unterschiede zwischen Norm und Praxis gegenüberstehen und dass es enge, nicht selten aber verurteilte Kontakte gab. Das resümiert treffend einen Band, dessen Wert in der Aufarbeitung vieler einzelner, interessanter, aber disparater Spezialfälle und -aspekte besteht, der aber auch andeuten mag, welche Diskrepanz nicht nur zwischen Rechtsnorm und Praxis, sondern auch zwischen "Normvorstellungen" und Praxis bestanden hat.
Hans-Werner Goetz