Tilmann Siebeneichner: Proletarischer Mythos und realer Sozialismus. Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse in der DDR (= Zeithistorische Studien; Bd. 55), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, 579 S., ISBN 978-3-412-22377-9, EUR 64,90
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"Die diszipliniert marschierenden Kampfgruppen der volkseigenen Betriebe wurden von den Berlinern begeistert begrüßt und waren eine unmissverständliche Warnung an alle Agenten und Saboteure. Sie ließen keinen Zweifel darüber, dass die Arbeiterfäuste bei jeder neuen Provokation schnell und unerbittlich hart zuschlagen werden. Die Demonstration bewies überzeugend das weiter erstarkte Vertrauen der werktätigen Bevölkerung zur Politik der Regierung und der Partei der Arbeiterklasse." So beschrieb die "Berliner Zeitung" den ersten großen öffentlichen Auftritt von Betriebskampfgruppen am 1. Mai 1954 in Ost-Berlin. Die Kampfgruppen, als Konsequenz aus den Erfahrungen des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 gegründet, sollten auf diese Weise bei öffentlichen Kundgebungen die enge Verbundenheit zwischen SED-Führung und Werktätigen demonstrieren. Die wesentlichen Züge der Organisationgeschichte der Betriebskampfgruppen sind hinlänglich bekannt. [1] Allerdings fand bislang keine dezidiert gesellschaftsgeschichtliche Auseinandersetzung mit diesen paramilitärischen Verbänden statt. Diese Lücke füllt Tilmann Siebeneichner mit seiner nunmehr gedruckt vorliegenden Dissertation. Eindrücklich arbeitet er heraus, wie die Kampfgruppen als Herrschaftsinstrument zur Mobilisierung und Disziplinierung der DDR-Gesellschaft - "ein gegen die Bevölkerung gerichtetes Machtinstrument der Partei" (108) - aufgebaut wurden. Dabei hatten sie nicht nur die Aufgabe, die Parteidiktatur gegen den inneren und äußeren Feind mit der Waffe zu verteidigen, sie waren auch das Produkt der "Vorstellung einer permanenten, subversiven wie offenen Bedrohung" durch diesen Feind (468f.). Somit waren sie Ergebnis und gleichzeitig Teil des proletarischen Mythos vom immerwährenden Ausnahmezustand des revolutionären Kampfs.
Indem Siebeneichner dem doppelten Zweck der Kampfgruppen - Symbol für das loyale und stets kampfentschlossene Proletariat und gleichzeitig Instrument gegen nichtloyale Bürger -nachspürt, legt er nicht nur Strukturen und Mechanismen zur Herrschaftsstabilisierung offen. Ihm geht es vielmehr darum, menschliche Handlungsweisen, soziale Praktiken und die Herausbildung kollektiver wie individueller Dispositionen abzubilden. Methodisch fußt er auf einer "erfahrungsorientierte[n] Gesellschaftsgeschichte" (27) und verbindet sozial- und geschichtswissenschaftliche Ansätze. Er untergliedert die fast vierzigjährige Geschichte der DDR-Kampfgruppen in vier Teile, die sich nacheinander der Arbeiterbewegung in den 1920er Jahren und dem 17. Juni 1953 als den beiden konstitutiven Grundlagen, der folgenden Aufbauzeit, der Phase vom Mauerbau bis zum Ende der Ulbricht-Ära sowie der Honecker-Zeit bis zur friedlichen Revolution 1989 zuwenden. Siebeneichner schränkt den Untersuchungsraum nachvollziehbar und gut begründet ein. Mit Halle und Magdeburg wählt er zwei DDR-Bezirke, die in den 1920er Jahren als Hochburgen der kämpferischen Arbeiterbewegung - Halle für die KPD und Magdeburg für die SPD - galten und somit den unmittelbaren Link zur Tradition des proletarischen Mythos aufweisen. Darüber hinaus waren beide Bezirke Brennpunkte des Volksaufstands vom 17. Juni 1953, zugleich verzeichneten die Betriebskampfgruppen hier im DDR-weiten Vergleich einen überdurchschnittlichen Zulauf. Die Studie stützt sich auf eine breite Quellenbasis. Neben der zentralen Überlieferung zu den Kampfgruppen aus den Beständen des Ministeriums des Innern und des ehemaligen SED-Parteiarchivs im Bundesarchiv nutzt der Autor vor allem Archivalien der Landes- und Kreisebene und hier nicht nur die entsprechenden Hinterlassenschaften aus dem Partei- und Staatsapparat, sondern beispielsweise auch Bestände einzelner Betriebe. Eingaben von Kampfgruppenangehörigen zieht der Autor als individuelle Artikulationen heran. Veröffentlichte Kampfgruppen-Chroniken, durch Broschüren und Periodika ergänzt, gewähren einen Blick auf kollektive Aneignungsstrategien und Traditionsbildung. Hinzu kommen Interviews mit fünf Zeitzeugen, die wiederum individuelle Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizonte vermitteln.
Die Untersuchung der Entwicklung, Zusammensetzung und Aufgaben der Kampfgruppen bringt mehrfach die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zum Vorschein. Dies wird beispielsweise bei der Bewaffnung deutlich. Das eigene Gewehr war Sinnbild des kampfbereiten Proletariers und auch integraler Bestandteil des Selbstverständnisses der alten SED-Führungsriege - der "letzten Revolutionäre". Somit verkörperten auch die Kampfgruppenangehörigen dieses Bild vom wehrhaften und damit klassenbewussten Arbeiter. Die Verwaltung der eigenen Waffen oblag allerdings nicht ihnen, sondern der Volkspolizei - eine Vorsichtsmaßnahme, die letztlich der tiefen Verunsicherung der Parteiführung durch den 17. Juni 1953 geschuldet war. Den Widerspruch zwischen politischer und alltäglicher Realität zusammenfassend, bezeichnet Siebeneichner die Kampfgruppenangehörigen als "lebensweltliche Doppelgänger": "Als Arbeiter waren sie der moralischen Ökonomie ihrer lokalen Lebenswelt unterworfen, als Kämpfer sollten sie ausschließlich den Direktiven der SED verpflichtet sein." (472) Ab den 1960er Jahren wurde ein Generationenproblem bei der Rekrutierung zu den Betriebskampfgruppen wirksam. Die sogenannten Kämpfer der ersten Stunde und Männer aus der Aufbaugeneration - die einen sozialisiert während der Weimarer Republik, die anderen während NS-Diktatur und Zweitem Weltkrieg - waren leichter anzuwerben als die nachfolgende, in der DDR sozialisierte Generation. Die vielfach beschworenen "revolutionären Traditionen", die den proletarischen Mythos ausmachten, passten immer weniger in die Zeit. "Mythen leben [jedoch] von einem nachvollziehbaren Gegenwartsbezug." (31, 480) Und wie Siebeneichners Studie zeigt, verblasste mit dem Verschwinden des Gegenwartsbezugs auch der proletarische Mythos. Am Ende führte die Losung der friedlichen Revolution "Wir sind das Volk" die von der SED-Führung stets heraufbeschworenen Feindbilder ad absurdum. Die gewaltfreie Praxis der Oppositionsbewegung konterkarierte das politische Selbstverständnis vom fortwährenden Ausnahmezustand des Klassenkampfs, dem die Führungsriege der SED nach wie vor verhaftet geblieben war, das "Volk" jedoch nicht. Für den Autor liegt darin das entscheidende Moment, das zum Ende nicht nur der Betriebskampfgruppen, sondern des gesamten SED-Regimes führte.
Tilmann Siebeneichner hat mit seiner Studie einen fundierten und quellengesättigten Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte der DDR vorgelegt, in dem zukünftige Forschungsarbeiten zahlreiche Anregungen finden können. Das Buch ist mit Genuss zu lesen, was in erster Linie auf den Verfasser zurückgeht, aber sicherlich auch einem hervorragenden Lektorat zu verdanken ist.
Anmerkung:
[1] Vgl. Armin Wagner: Die "Kampfgruppen der Arbeiterklasse" im System der DDR-Landesverteidigung. Wahrnehmung, Literatur, Quellen, Forschungen, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2000/2001, 159-186; Armin Wagner: Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse (1953-1990), in: Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, hgg. von Torsten Diedrich / Hans Ehlert / Rüdiger Wenzke, Berlin 1998, 281-337.
Elke Stadelmann-Wenz