Tilmann Siebeneichner (Hg.): »Selbstentwürfe«. Neue Perspektiven auf die politische Kulturgeschichte des Selbst im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2021, 190 S., ISBN 978-3-8353-3842-5, EUR 24,90
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Der vorliegende, von Tilmann Siebeneichner herausgegebene Sammelband geht auf eine Bernd Weisbrod zu seinem 70. Geburtstag gewidmete Tagung des Zeithistorischen Arbeitskreises Niedersachsen von 2016 zurück - bereits zum dritten Mal geriet dabei vor allem die politische Ebene sich wandelnder Selbstverhältnisse im 20. Jahrhundert in den Fokus. [1] Der Band reiht sich damit in eine ganze Reihe neuerer Studien ein, die das Selbst als historisch unterschiedlich hergestellt rekonstruieren und dabei gezielt nach Anschlussmöglichkeiten an gesellschaftsgeschichtliche Fragestellungen im breiteren Sinne suchen. Nach einer kurzen Einführung des Herausgebers entfalten acht Beiträge in vier Abschnitten ein breites Tableau an Themen, die vor allem die deutsche Zeitgeschichte des Selbst in den Blick rücken.
Die beiden Beiträge des ersten Abschnitts verfolgen eine vorrangig intellektuellen- und biographiegeschichtliche Perspektive. Kerstin Thieler widmet sich dem Historiker Percy Ernst Schramm und dessen widersprüchlichem Umgang mit dem Nationalsozialismus. Anhand von veröffentlichten wie auch unveröffentlichten Stellungnahmen von oder in Bezug auf Schramm untersucht sie nicht nur dessen "Aufklärungsarbeit" zum Nationalsozialismus, sondern vor allem auch dessen Weigerung, sich kritisch mit der eigenen Rolle und Verantwortung als sogenannter Kriegstagebuchschreiber im Obersten Heereskommando auseinanderzusetzen. Thieler bietet eine interessante Fallstudie zur akademischen "Vergangenheitspolitik" zwischen "Selbstbehauptung, Selbstentnazifizierung, Selbstverpflichtung und auch Selbstgefälligkeit" (29) und verhandelt in diesem Rahmen einen durchaus wichtigen Aspekt der Zeitgeschichte des Selbst nicht nur, aber insbesondere in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Eine etwas andere Form der akademischen "Vergangenheitspolitik" rückt der folgende Beitrag von Philipp Kufferath in den Blick. Er widmet sich dem Wirken des Politikers und Politologen Peter von Oertzen in den 1950er bis 1990er Jahren und interessiert sich in diesem Zusammenhang insbesondere für dessen "intellektuellen Selbstentwurf" als "Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Politik". (47)
Eine eher didaktische und propädeutische Perspektive nehmen die beiden Beträge von Juliane Haubold-Stolle und Jens-Christian Wagner im zweiten Abschnitt ein. In Form eines kurzen Essays plädiert Haubold-Stolle überzeugend dafür, die Bedeutung von Dingen in historischen Museen zu stärken, um "Menschen zum Sprechen zu bekommen, die vermeintlich sprachlos sind". (69) Anhand von überlieferten Häftlingszeichnungen aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern thematisiert Wagner daran anschließend die "Selbstbehauptung" der Häftlinge und ihre durchaus unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten in den Konzentrationslagern. In diesem Sinne sollten historische Gedenkstätten die Gefangenen und Ermordeten "nicht nur als Opfer, sondern auch als Akteure wahrnehmen" und erinnern. (88)
Der dritte Abschnitt behandelt demgegenüber geradezu klassische Themen einer inzwischen boomenden Zeitgeschichte des Selbst und verfolgt eine therapeutisierungs- und politikhistorische Perspektive im engeren Sinne. Maik Tändler beschäftigt sich in seinem Beitrag mit den denkbaren Kontinuitäten zwischen "linksalternativen" und "neoliberalen" Subjektivierungs- und Optimierungsprozessen in und seit den 1970er Jahren - im Schatten eines angeblich polymorphen, hybriden, ambivalenten Liberalisierungsprozesses um und nach "1968". Er konzentriert sich dabei jedoch auf programmatische Überlegungen, die jedoch nicht empirisch belegt werden. Der folgende Beitrag von Benjamin Möckel folgt jenen "linksalternativen" Subjektivierungsprozessen in die 1980er Jahre und bietet eine sehr quellengesättigte Analyse der zunehmenden Moralisierung und Politisierung von Konsumpraktiken in diesem Zeitraum. Anhand von englisch- und deutschsprachigen Konsumratgebern stellt er das "moral selving" [2] durch Konsum und Konsumkritik in das Zentrum seines Interesses. Ohne die Rolle der Ratgeber zu überschätzen, rät Möckel zu Recht dazu, "keine allzu klare Trennlinie" (123) zwischen derartigen Ratgebern und einem vermeintlich ganz anderen Alltagshandeln zu ziehen.
Der vierte Abschnitt schließlich entwickelt eine vorrangig gewalt- und geschlechterhistorische Perspektive. Tilmann Siebeneichner beschäftigt sich in diesem Rahmen mit den Selbstverhältnissen britischer Söldner seit den 1970er Jahren. Anhand der Autobiographien einzelner Akteure kann er zeigen, dass und wie Söldner die Gewalt im Kampf dabei regelmäßig in den Mittelpunkt ihrer Selbstwerdung und gerade auch ihrer Vergeschlechtlichung rückten. Demgegenüber widmet sich der letzte Beitrag von Habbo Knoch einer breit angelegten Relektüre von Theodor Adornos Überlegungen zur "bürgerlichen Kälte" als der womöglich habituellen Grundlage des industriellen Massenmords im Nationalsozialismus. Der Nationalsozialismus erscheint in diesem Zusammenhang als "dialektische Selbstzerstörung" (161) der bürgerlichen Gesellschaft und jedweder Selbstwerdung.
Auch wenn die ersten vier Beiträge ihren Bezug zur Zeitgeschichte des Selbst lediglich en passant herstellen und die beiden Beiträge von Tändler und Knoch insgesamt einen eher konzeptionellen Charakter besitzen, entwirft der vorliegende Sammelband ein interessantes Panorama an vielversprechenden Themen. Der Band bemüht sich in dieser Hinsicht ersichtlich, aber unaufdringlich um Anschlussmöglichkeiten. Gerade die ersten vier Beiträge zeigen dabei, wie sich die Untersuchung von Selbstverhältnissen im 20. Jahrhundert ebenfalls mit bereits etablierten Formen der Intellektuellen- und Biographiegeschichte verbinden lässt, was bislang eher selten der Fall ist, und wie sie darüber hinaus auch einen teilweise neuartigen Blick auf die Museums- und Gedenkstättenarbeit eröffnet. Zu Recht hebt der Band die politische Ebene sehr verschiedenartiger Subjektivierungsprozesse hervor und unterstreicht in diesem Rahmen zugleich, wie wichtig und fruchtbar es ist, den Begriff des Politischen entsprechend zu erweitern. Vor allem die letzten vier Beiträge zeigen, dass politische oder politisierte Probleme und Konflikte auch - und seit "1968" immer stärker - auf der Ebene des Selbst und der scheinbar individuellsten und intimsten Aspekte eines Menschen verhandelt werden und dort vielfältige Effekte zeitigen.
Anmerkungen:
[1] Siehe hierzu die Tagungen des Arbeitskreises von 2007 zu "Neue Subjektivität. Subjektkulturen und Selbstverhältnisse in der Bundesrepublik in den 60er und 70er Jahren" und von 2010 zu "Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung. Psychowissen und Politik im 20. Jahrhundert".
[2] Rebecca Anne Allahyari: Visions of Charity. Volunteer Workers and Moral Community, Berkeley 2000.
Pascal Eitler