Martin Lücke: Männlichkeit in Unordnung. Homosexualität und männliche Prostitution in Kaiserreich und Weimarer Republik (= Geschichte und Geschlechter; Bd. 58), Frankfurt/M.: Campus 2008, 360 S., ISBN 978-3-593-38751-2, EUR 39,90
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Zwar boomt die Sexualitätsgeschichte und ohne Zweifel gehören die Geschichte der Prostitution und die Geschichte der Homosexualität zu den best erforschten Themenbereichen auf diesem Feld der Körper- und Geschlechtergeschichte. Die Geschichte männlicher Prostituierter allerdings und deren Bedeutung für die Herstellung und Veränderung männlicher und vor allem homosexueller Identitäten blieb dabei bislang weitestgehend unberücksichtigt. Es ist das große Verdienst der vorliegenden Untersuchung, diesem Mangel zumindest im Fall des Deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik abgeholfen zu haben. Dass eine solche Pionierstudie hier und dort offene Enden aufweist, wird man ihr nicht vorwerfen können.
Martin Lücke beginnt seine Studie, die 2007 an der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen wurde, mit einigen - recht ausführlichen - theoretischen Selbstverständigungen. In das Zentrum des Interesses rückt dabei eine kritische Diskussion der Überlegungen von Robert Connell zum Begriff der "hegemonialen Männlichkeit". Mit Verweis auf die von ihm in den Blick genommenen männlichen Prostituierten betont der Autor - im Anschluss an Martina Kessel und andere - die Multidimensionalität von Maskulinitätskonzepten, die Verwicklungen und Ungenauigkeiten im geschlechtergeschichtlichen Identitätsdschungel. Man mag diese fortwährende Betonung von Differenzen und Ambivalenzen notwendig und überzeugend oder aufgesetzt und ein wenig altklug finden - die große Stärke dieser Arbeit liegt nach meinem Dafürhalten nicht auf der Ebene der Theorie, sondern auf der Ebene der Empirie. Der Autor nähert sich der Geschichte der männlichen Prostituierten im Wesentlichen auf vier Untersuchungsfeldern: auf dem Feld der Sexualwissenschaften, des Strafrechts, der Jugendfürsorge und der sogenannten "Homosexuellen-Bewegung", bevor er in einem letzten Schritt versucht, das Alltagsverhalten der männlichen Prostituierten schlaglichtartig zu beleuchten. Zu Recht betont Martin Lücke vor dem Hintergrund dieser vier Untersuchungsfelder die Heterogenität seines Quellenmaterials und die mannigfachen Schwierigkeiten, die der Versuch mit sich bringt, eine Geschichte zu schreiben, über die "nur ungern Auskunft" gegeben würde (326).
Nicht ohne Grund widmet sich die vorliegende Untersuchung daher zuerst der Sexualwissenschaft - diese gab seit ihrer Entstehung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nämlich durchaus und nicht "nur ungern Auskunft" über die Sexualität und Identität von Homosexuellen; nicht selten geriet dabei auch die männliche Prostitution in den Fokus des Interesses. So unterschiedlich Männer liebende Männer auch bezeichnet und bewertet wurden, als "Urninge" auf der einen, als "Perverse" oder "Päderasten" auf der anderen Seite, kennzeichnend für die Mehrzahl der Sexualwissenschaftler im Kaiserreich und der Weimarer Republik war erstens eine Identifizierung beziehungsweise Stigmatisierung von männlichen Prostituierten als Homosexuellen und zweitens eine meist scharfe Verurteilung dieser Form der Homosexualität oder besser "Pseudo-Homosexualität" - so der überaus einflussreiche Sexualwissenschaftler Iwan Bloch (83). Stets ging diese systematische Verurteilung der männlichen Prostituierten mit deren tendenzieller Verweiblichung einher. Der vielleicht erste und zudem bekannteste Sexualwissenschaftler, der diese Identifizierung beziehungsweise Homogenisierung von Praktiken und Personen durchbrach, war Magnus Hirschfeld, der im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bekanntlich zu den zentralen Figuren innerhalb der sogenannten "Homosexuellen-Bewegung" zählte. Zwar diskriminierte und denunzierte auch er die männlichen Prostituierten, doch waren diese seinem Eindruck nach zumeist nicht homo-, sondern heterosexuell.
Am Beispiel öffentlicher und halböffentlicher Debatten um eine Reform des § 175 RStGB kann der Autor sodann zeigen, wie sich zum einen noch vor dem Ersten Weltkrieg eine signifikante Unterscheidung zwischen weiblichen und männlichen Prostituierten unter Strafrechtlern durchzusetzen vermochte: Während die weibliche Prostitution in Hinblick auf vermeintlich drohende Geschlechtskrankheiten zwar scharf überwacht, aber doch letztlich geduldet wurde, sollte die männliche Prostitution schlichtweg abgeschafft werden. Zum anderen wurde nach 1909 zunehmend zwischen männlichen Prostituierten und sogenannten "einfachen" Homosexuellen differenziert. In den Fokus der Strafrechtler gerieten die "Strichjungen" dabei vor allem als "Verführer" und "Erpresser"; im Anschluss an Günther Gollner konstatiert der Autor eine sich rasch ausweitende "Verteufelung der Strichjungen" (117). Die Debatten um eine Reform des § 175 des RStGB führen den Autor geradezu zielstrebig zu einer sich anschließenden Untersuchung der Jugendfürsorge. Martin Lücke kann nicht nur zeigen, wie die Sexualität von männlichen Jugendlichen vor allem in der Weimarer Republik mehr und mehr in den Blick der Jugendfürsorge geriet. Er kann darüber hinaus ebenfalls nachzeichnen, wie sich in den zwanziger Jahren eine spezifische "Homosexuellen-Fürsorge" etablierte, die darauf zielte, "Strichjungen" in eignen Anstalten unter verschärften Bedingungen unterzubringen und auf unterschiedliche Weise "unschädlich" zu machen (232).
Doch nicht nur im Fall der Sexualwissenschaft, des Strafrechts oder der Jugendfürsorge, auch innerhalb der sogenannten "Homosexuellen-Bewegung" wurden männliche Prostituierte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts immer schärfer ausgegrenzt und dabei dem vermeintlich "einfachen" Homosexuellen gezielt gegenüber gestellt. Bereits im Kaiserreich wurden "Strichjungen" innerhalb der "Homosexuellen-Bewegung" auf ganz ähnliche Weise als "Verführer" und "Erpresser" denunziert wie unter der Mehrzahl der Strafrechtler - um nunmehr jedoch sogleich die Abschaffung des § 175 RStGB zu fordern, der die "einfachen" Homosexuellen fahrlässig und folgenschwer in die "Fänge" der "Erpresserprostitution" treibe (252). Für Identitätskonstruktionen innerhalb der "Homosexuellen-Bewegung" gewann in der Weimarer Republik schließlich insbesondere das Motiv beziehungsweise das Etikett der "Freundschaft" an Bedeutung - als offenkundige Kontrastfolie zur männlichen Prostitution; damit engmaschig verknüpft war eine Entsexualisierung des "einfachen" Homosexuellen oder besser Homophilen. Die "Strichjungen" wurden auf diese Weise, so das vielleicht wichtigste Ergebnis der vorliegenden Untersuchung, zu "zweifach Anderen" (264): Sie waren weder Mitglieder der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft noch waren sie "Freunde" unter "Freunden".
Alles in Allem bietet Martin Lücke einen vielfältig perspektivierten, überaus interessanten und empirisch belastbaren Einblick in ein bislang weitgehend unbekannt gebliebenes Themengebiet der Sexualitäts- und Homosexualitätsgeschichte. Die ebenso ausgeprägte wie fortwährende Differenzrhetorik, die der Autor in dieser Studie entfaltet, mag man begrüßen oder beklagen, doch erscheint es mir als sehr fragwürdig, die männliche Prostitution im Zusammenhang eben dieser Differenzrhetorik "als solche als eine gewiss subversive Erscheinung [zu] interpretieren" (325). Eine Praxis oder Person bereits deswegen als "subversiv" zu erachten, weil sie den Ansprüchen beziehungsweise Anrufungen einer "hegemonialen Männlichkeit" gar nicht oder nicht genug zu entsprechen vermochte, erscheint mir vorschnell.
Pascal Eitler