Florian Mildenberger / Jennifer Evans / Rüdiger Lautmann / Jakob Pastötter (Hgg.): Was ist Homosexualität? Forschungsgeschichte, gesellschaftliche Entwicklungen und Perspektiven, Hamburg: Männerschwarm Verlag 2014, 576 S., ISBN 978-3-86300-163-6, EUR 44,00
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Der 50. Historikertag, der Ende September 2014 in Göttingen stattfand, behandelte die "Geschichte der Homosexualität in Deutschland" erstmals in einer eigenen Sektion. Dass damit ein lange vernachlässigtes Thema endgültig in der deutschen Geschichtswissenschaft angekommen ist, zeigt auch ein jüngst erschienener Sammelband, der seine Leitfrage im Titel trägt: "Was ist Homosexualität?"
In der Einleitung konstatiert Florian Mildenberger, dass vor 20 Jahren die Antwort auf diese Frage relativ simpel gewesen wäre: Homosexualität sei das "Gegenteil von Heterosexualität. Nicht-Normal. Pervers." (7) Doch 2014 hat sich die Situation verändert, die Zeit der einfachen Antworten ist vorbei, heute gibt es nicht nur homo- und heterosexuelle, sondern bi-, trans-, inter- und cis-Sexualitäten. Binaritäten wie Homo- und Heterosexualität lösen sich im Gefolge der Dekonstruktion von Sexualität auf. In dieser Vielfalt von Begriffen und Zugängen zum Thema Homosexualität(en) geht gerade für diejenigen die Übersicht verloren, die sich nicht explizit mit "devianten" Sexualitäten auseinandersetzen. Hier setzt der Sammelband an, der Ordnung in das Wirr-Warr der Begriffe und Theorien bringen und "kein schwules Geschichtsbuch" (9) sein will.
Doch wird (forschungsbedingt) auf den mehr als 570 Seiten vorwiegend schwule Geschichte in den Blick genommen, lesbische Geschichte dagegen zumeist nur in Nebensätzen abgehandelt oder ausschließlich von Forscherinnen bearbeitet. Ebenfalls sind Trans*Geschichten nur mit einem Beitrag (Katie Sutton, "From Sexual Inversion to Trans*. Transgender History und Historiography") vertreten. Dennoch muss fairerweise betont werden, dass die Herausgeber dieses Defizit deutlich hervorheben, in der Hoffnung, dass sich dies in Zukunft ändern wird. Um Ordnung herzustellen, wäre auch eine Vorstrukturierung des Inhaltsverzeichnisses von Vorteil gewesen. Die einfache Auflistung der 22 Aufsätze kommt "der Idee eines Readers" (9) leider nicht nahe, obwohl sich die Beiträge problemlos in drei größere Abschnitte einteilen ließen: Begriffe und Geschichten; Homosexualitäten und die Wissenschaften; Homosexualitäten in der Gesellschaft.
In den ersten acht Beiträgen geht es um die Verortung der Begriffe wie Tribadie, Inversion, Sodomie, Homo-, Hetero- und Bisexualität, Transgender und Queer. Franz X. Eder beginnt mit einer historischen Einordnung der Begrifflichkeiten zum Themenkomplex Homosexualität - z.B. Päderastie und Effeminierung - und endet bei der Definition des Begriffs Queer. Sylvia Mieszkowski fragt anschließend danach, was Homosexualitätsforschung im 18./19. Jahrhundert war, wie sie sich im 20. Jahrhundert durch soziologische und philosophische Einflüsse veränderte und wie sie heute als Queer Studies definiert werden könnte, um alle (Homo-)Sexualitäten mit einem Begriff zu fassen, der nicht dem binären Code homo- oder heterosexuell entlehnt ist. Queer ist somit ein Sammelbegriff für jedwede sexuelle Orientierung.
Besonders erhellend sind die Beiträge von Heiko Stoff und Thomas K. Gugler. Beide Autoren legen ihr Augenmerk auf die historische Bedingtheit von gegenwärtigem sexuellem Begehren. Heiko Stoff geht den Konzepten um Heterosexualität in der Geschichte nach, zeigt auf, was qua natura das Normale, schon immer Dagewesene zu sein scheint - und belehrt die Leserinnen und Leser eines Besseren. Er beschreibt nämlich, wie Heterosexualität als "kulturelle Praxis" stetig und in neuen Formen eingeübt wurde, um "intime Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu ermöglichen" (74). Thomas K. Gugler geht auf die Herkunft des allgegenwärtigen Vorurteils ein, Homophobie sei "typisch rückständig islamisch", wobei sie eigentlich "ein europäischer Export ist" (142). Der Autor arbeitet heraus, wie im Zeitalter der Kolonisation das negativ besetzte europäische Konzept von Homosexualität auf die weit gefächerten und nicht pejorativ definierten Sexualitätskonzepte in Indien und in der islamischen Welt übertragen wurden.
Eine zweite Gruppe von Aufsätzen befasst sich mit den Verbindungen und wechselseitigen Beziehungen zwischen Wissenschaften und Homosexualität. In acht Beiträgen werden die Kulturwissenschaften, die Naturwissenschaften, die Philosophie, die Psychologie, die Soziologie und die Kunst- sowie Musikwissenschaft in Hinblick auf den Umgang mit Homosexualität als Lebensform sowie als Analysekategorie unter die Lupe genommen. Die oft mit Homosexualität in Verbindung gebrachten Bereiche Musik und Kunst stellen sich als wissenschaftliche Disziplinen als äußerst homophob heraus. Eva Rieger (Musik) und Wolfgang von Wangenheim (Kunst) zeigen, wie schwer es ist, den Begriff Homosexualität als Kategorie in die gegenwärtige Forschung einzubinden, und wie in der Vergangenheit gleichgeschlechtliches Begehren aus den Biografien von Musikerinnen und Musikern oder Künstlerinnen und Künstlern entfernt wurde. Hervorzuheben ist auch der Aufsatz von Udo Rauchfleisch, der festhält, dass es bis heute im Bereich der psychoanalytischen Ausbildung Institute gibt, die lesbische und schwule Bewerber aufgrund ihrer (offenen) Homosexualität ablehnen. Er erläutert, woher diese Ablehnung homosexueller Psychologinnen und Psychologen kommt, und verweist auf gegenwärtige Tendenzen, die seiner Ansicht nach in die richtige Richtung weisen - so das Beispiel, dass jüngere Auszubildende gezielt nach Inhalten bezüglich der Homosexualität(en) fragen und diese thematisch im Ausbildungsplan verankert haben möchten.
Der dritte Schwerpunkt umfasst den Alltag von Homosexuellen in einer heterosexualisierten Gesellschaft. Es geht um Fragen, wie sich homosexuelle Lebenswelten entwickelten (Manfred Herzer), wie das vermeintliche "Normalkind" in der Erziehung und Bildung stillschweigend angenommen wurde (Martin Lücke), wie Homosexualität am Arbeitsplatz und in der Wirtschaft artikuliert und aufgenommen wird (Dominic J.T. Frohn) und wie sich die schwule Medienlandschaft seit 1945 veränderte (Peter Rehberg und Bradley Boovy).
Alles in allem bietet der Band einen guten Einstieg in die Geschichte und Begrifflichkeiten der Homosexualitäten sowie der gegenwärtigen Theorien zur queeren Forschung, den man sich sonst mühsam erarbeiten müsste. Für die Experten gibt er darüber hinaus eine gelungene Gesamtschau der gängigen Quellen und wichtigen queeren Theorien, die Forschungsdesiderate benennt und einer neuen Generation von Forscherinnen und Forschern Perspektiven eröffnet.
Maria Borowski