Elisa Heinrich: Intim und respektabel. Homosexualität und Freundinnenschaft in der deutschen Frauenbewegung um 1900 (= Sexualities in History - Sexualitäten in der Geschichte; Bd. 1), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022, 320 S., 14 s/w-Abb., ISBN 978-3-8471-1311-9, EUR 50,00
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Elisa Heinrichs Dissertation eröffnet die Schriftreihe Sexualities in History bei Vandenhoeck & Ruprecht und setzt damit die derzeit boomende historische Homosexualitätsforschung fort.[1] Heinrich untersucht die "Aushandlung intimer Beziehungen" (10) innerhalb der Deutschen Frauenbewegung von 1870 bis 1914. Dafür erweitert sie das Analysekonzept der Homosexualität zugunsten des Konzepts frauenbezogener Lebens- und Beziehungsformen. Begrifflich fasst sie Intimität als "nahe und vertraute Verhältnisse [...] ohne sie schablonenhaft als freundschaftlich, romantisch oder sexuell zu definieren" (16), da für diese nicht Sexualität, sondern Respektabilität die entscheidende Bezugsgröße war. Heinrichs interessiert die Reaktion der Frauenbewegung auf das Konzept weibliche Homosexualität angesichts ihrer gelebten Praxis frauenbezogener Intimität. Ausgangspunkt ihres Forschungsinteresses ist die ältere These des Schweigens der ersten deutschen Frauenbewegung zum Thema weibliche Homosexualität. Mit Foucault fragt sie nach "der diskursiven Aushandlung bzw. den Ordnungen des Sagbaren von 'weiblicher Homosexualität' in der Frauenbewegung" (20). Indem sie diese mit den internen sozialen Beziehungen der Bewegung in Bezug setzt, stellt sie eine Verbindung zwischen der bewegungsinternen Diskursgeschichte weiblicher Homosexualität und der Sozialgeschichte intimer Praxen in der Bewegung her. Die Quellenbasis bilden Publikationen der Frauenbewegung, darunter acht überregionalen Zeitschriften, interne Vereinsmaterialien und biographische Quellen. Punktuell ergänzt sie diese um sexualwissenschaftliche und juristische Korrektivquellen.
Kapitel zwei (43-85) stellt verschiedene Organisationen der Frauenbewegung und deren Entwicklung vor. Dabei wird gezeigt, wie diese sich zunehmend an Debatten über Sittlichkeit, Ehe, Sexualreform und Bevölkerungspolitik beteiligten, wobei sexualwissenschaftliche Konzepte die Grenzen des für Frauen Sagbaren erweiterten.
Kapitel drei (87-160) widmet sich den Formen frauenbezogener Beziehungspraxen und -modellen. Heinrich präsentiert die Frauenbewegung als homosozialen Raum mit vielfältigen Formen frauenbezogenen Lebens. Dabei zeigt sie, dass nicht Sexualität, sondern Respektabilität - im Sinne einer Orientierung am zeitgenössischen Eheideal - die entscheidende Bezugsgröße war.
Kapitel vier (161-180) zeichnet die sexualwissenschaftliche Konstruktion weiblicher Homosexualität ab 1900 nach. Heinrich vertritt die These, dass diese Kategorie nur zögerlich in Homosexualitätskonzepte aufgenommen wurde, wobei weibliche Homosexualität analog zur männlichen gedacht wurde. Sie interpretiert die Konstruktion weiblicher Homosexualität als Abwehrreaktion gegen die Frauenbewegung. So habe die Sexualwissenschaft zu weiblicher Homosexualität die Vorstellung verbreitet, dass Homosexualität in homosozialen Räumen entstünde und insbesondere in der Frauenbewegung stark vertreten sei.
Darauf aufbauend widmet sich Kapitel fünf (181-214) der bewegungsinternen Auseinandersetzung mit der Kategorie weibliche Homosexualität bis 1909. Bewegungszeitschriften thematisierten emotionale Bindungen zwischen Frauen und besprachen Romane mit homoerotischem Subtext. Eine Auseinandersetzung mit der sexualwissenschaftlichen Kategorie wurde jedoch vermieden. In anderen Publikationen hingegen weist Heinrich Äußerungen nach, die von produktiven Aneignungen bis zur Ablehnung der Kategorie reichen. Die Grenze des innerhalb der Frauenbewegung Sagbaren zieht sie bei der Identifikation als homosexuell. Sich so positionierende Akteurinnen wurde abgesprochen, Teil der Bewegung zu sein und für sie sprechen zu können. Die Gründe für die mehrheitliche Ablehnung der Kategorie sieht Heinrich darin, dass Sexualität für bewegungsinterne Frauenpaare kein Bezugsfaktor gewesen sei und die sexualwissenschaftliche Verknüpfung weiblicher Homosexualität mit männlichen Eigenschaften von den Aktivistinnen als einschränkend empfunden wurden.
Kapitel sechs (215-232) und sieben (233-275) beschäftigen sich mit der zwischen 1909 und 1912 angedachte Ausweitung der Strafbarkeit homosexueller Handlungen auf Frauen. Ersteres liefert den Kontext des Strafrechtsreformprozesses ab 1902. Letzteres analysiert die dadurch ab 1910 intensivierte Auseinandersetzung der Frauenbewegung mit weiblicher Homosexualität. Heinrichs unterscheidet dabei nach Öffentlichkeit (Bewegungs- oder externe Zeitschriften, interne Debatten). Während ein Teil der Bewegung nach außen strategisch schwieg, grenzten sich andere öffentlich von weiblicher Homosexualität ab, um eigene Lebensmodelle zu schützen. Identifikationspotenzial habe das sexualwissenschaftliche Konzept noch immer kaum geboten.
Das Buch gehört in die Tradition der Frauengeschichtsforschung, die seit den 1980er Jahren nach dem Zusammenhang zwischen der sexualwissenschaftlichen Konstruktion weiblicher Homosexualität und der ersten Frauenbewegung fragt. [2] Die große Stärke der Arbeit liegt in ihrer kritischen Prüfung der These des Schweigens der Frauenbewegung zu weiblicher Homosexualität. Mithilfe bisher vernachlässigter Quellen weist sie eine intensive interne Auseinandersetzung und nach außen eine bewusste Strategie zwischen Schweigen und Positionierung nach. Der Zugang zu frauenbezogenen Lebenskonzepten über Intimität und Repräsentativität ermöglicht es ihr, die Skepsis der Frauenbewegung gegenüber dem sexualwissenschaftlichen Konzept weiblicher Homosexualität überzeugend darzustellen. Gegenstimmen bleiben hingegen erklärungsbedürftig. In Kapitel vier wird deutlich, dass Heinrich ihren Anspruch nur bedingt einlöst, "Sexualitätsgeschichte und Frauenbewegungsforschung [...] in eine produktive Auseinandersetzung" zu bringen (27). Ihre Studie vernachlässigt die ersten 30 Jahre sexualwissenschaftlicher Konstruktion weiblicher Homosexualität. [3] Sie stützt sich hier nur auf nach 1900 publizierte Quellen [4] und bezieht die Homosexualitätsgeschichtsforschung unzureichend ein. Dadurch übernimmt sie die These der Frauenforschung, dass weibliche Homosexualität erst in Ableitung von männlicher Homosexualität und als Abwehrreaktion gegen die erstarkende Frauenbewegung konstruiert worden sei (179-180). Der Komplexität sexualwissenschaftlicher Homosexualitätsdeutungen wird sie durch diese Selektivität nicht gerecht. [5] In der Summe ergibt sich eine Studie mit großem Mehrwert in der empirischen Arbeit, die bei der größeren Einordnung allerdings nicht vollends überzeugt.
Anmerkungen:
[1] Benno Gammerl: Anders fühlen: schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte, München 2021; Forschungsprojekt Lesbische* Lebenswelten im deutschen Südwesten: https://www.uni-heidelberg.de/fakultaeten/philosophie/zegk/histsem/mitglieder/patzel-mattern/lesbischelebenswelten.html (aufgerufen am 12.12.2022).
[2] Hanna Hacker: Frauen und Freundinnen. Studien zur weiblichen Homosexualität am Beispiel Österreich 1870-1938, Weinheim 1987.
[3] Philippe Weber: Der Trieb zum Erzählen. Sexualpathologie und Homosexualität, 1852-1914, Bielefeld 2008.
[4] Hauptquelle für die These, dass weibliche Homosexualität von männlicher abgeleitet worden sei, bildet etwa eine 1912 veröffentlichte Auflage des erstmals 1886 erschienenen und seitdem mehrfach überarbeiteten Werkes Psychopathia Sexualis von Richard von Krafft-Ebing.
[5] Valentina Escherich: "Il potenziale emancipatore della medicalizzazione delle relazioni omosessuali nel Secondo Reich", in: Diacronie. Studi di Storia Contemporanea, N. 47, 3, 2021, 24-45.
Valentina Escherich