Michael Mayer / Michael Schwartz (Hgg.): Verfolgung - Diskriminierung - Emanzipation. Homosexualität(en) in Deutschland und Europa 1945 bis 2000 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Bd. 126), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, VII + 245 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-108538-8, EUR 24,95
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Der in der "Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" erschienene Sammelband 'Verfolgung-Diskriminierung-Emanzipation. Homosexualität(en) in Deutschland und Europa 1945-2000' beleuchtet die Geschichte der Homosexualität(en) in Deutschland in einer Zeit, die von 'tiefgreifender historischer Transformation' geprägt ist. Von einer Kontinuität der strafrechtlichen Verfolgung nach 1945 mit der NS-Zeit bis hin zur zunehmenden Integration und Normalisierung von Homosexualität nach der AIDS-Krise wird die Geschichte der Homosexualität(en) entlang der Dimensionen Verfolgung, Diskriminierung und Emanzipation bearbeitet. Der Sammelband ist in vier Abschnitte unterteilt, die jeweils drei bis vier Beitrage umfassen.
Im ersten Abschnitt werden die Kontinuitäten zur NS-Zeit thematisiert. Der Aufsatz von Johann Karl Kirchknopf arbeitet beispielsweise die 'Kontinuitäten und Brüche' des Strafrechts und der strafrechtlichen Verfolgung von Homosexuellen in Österreich heraus. Kirchkopf verortet eine Kontinuität zwischen der zweiten Republik und dem Nationalsozialismus in der gleichbleibenden und mitunter sogar steigenden Intensität der Verfolgung von Homosexuellen in den 1950er Jahren. Der Verwehrung der Anerkennung des NS-Opferstatus von homosexuellen Männern in der BRD und DDR widmet sich der Beitrag 'Politik des Verdrängens' von Esther Abel. Abel zeigt die Verknüpfung zwischen der Verwehrung des NS-Opferstatus und der Beibehaltung des im Nationalsozialismus verschärften § 175 auf, die damit einherging, dass die Verfolgung von homosexuellen Männern nicht als 'typisches NS-Unrecht' verstanden wurde. Auch in der DDR, die im Unterschied zur BRD das explizit Nationalsozialistische der Fassung des § 175 von 1935 anerkannte, wurden nur aus politischen, religiösen oder aus rassischen Gründen verfolgte als 'Opfer des Faschismus' anerkannt.
Der zweite Teil des Sammelbandes beschäftigt sich mit den Repressionen und widerständigen Momenten der Nachkriegszeit in der DDR und BRD. Andrea Rottman erzählt die Geschichte von Hilde Radusch einem queer-lesbischen KPD-Mitglied in der DDR, die nach dem Ende des zweiten Weltkrieges das von KZ-Überlebenden gegründete Komitee 'Opfer des Faschismus' leitete. Anhand von drei Quellenbeispielen rekonstruiert Rottman einen Komplott gegen Radusch, der zu ihrem Austritt aus der KPD und einem Rücktritt von ihrer Stelle führte. Später wurde ihr auch der Status als Opfer des Nationalsozialismus aberkannt. Rottman arbeitet in ihrem Beitrag heraus, wie diese Ereignisse mit Hilde Raduschs Homosexualität und ihrem Geschlecht zusammenhingen. Der Beitrag 'Antilesbischer Zwang' von Kirsten Plötz nimmt die in akademischen Debatten bis heute wenig thematisierte spezifisch rechtliche Diskriminierung lesbischer Frauen, die in Deutschland nicht vom § 175 betroffen waren, in den Blick. Plötz zeigt, dass insbesondere das Eherecht, das eine Autorität der Ehemänner über ihre Frauen und die Kinder vorsah, eine Scheidung und ein daran anschließendes lesbisches Zusammenleben für viele Frauen prekär bis hin zu unmöglich machte. Erst 1977 trat eine Reform des Ehe- und Familienrechts in Kraft, die es Frauen gestattete, eine Ehe gegen den Willen ihres Mannes zu beenden. Allerdings wurde, wie Plötz am Beispiel von Rheinland-Pfalz darlegt, lesbischen Müttern bis in die späten 1990er Jahre das Sorgerecht für ihre Kinder aufgrund ihrer Homosexualität abgesprochen.
Der dritte Abschnitt behandelt die ambivalente Rolle der Kirchen in der Geschichte der Homosexualitäten. Im Beitrag 'Homosexualität und Christentum' von Christian Neuhierl, wird beispielsweise die wichtige Rolle der evangelischen Kirche für die homosexuelle Bewegung in der DDR - und damit eine historisch einzigartige Verknüpfung zwischen Homosexualität und Kirche - herausgearbeitet. Zwischen 1982 und 1992 formierten sich insgesamt 22 homosexuelle Arbeitskreise unter dem 'Dach' der evangelischen Kirche. Die Arbeitskreise hatten die Möglichkeit eigene Publikationen zu veröffentlichen und Veranstaltungen zu organisieren, mussten aber, Neuhierl zu Folge, ihr Selbstverständnis teilweise mit kirchlichen Themen abgleichen.
Im vierten und letzten Teil des Sammelbandes wird die 'Transformationszeit' des späten 20. Jahrhunderts in den Blick genommen. Der Beitrag 'Unter Verdacht' von Klaus Storkmann fokussiert den Umgang mit Homosexualität in der Bundeswehr von 1955-2000. Storkmann zeigt auf, dass die Richtlinien für die Sicherheitsüberprüfungen von Bundeswehrbediensteten neben 'geistigen und seelischen Störungen' und 'Trunk und Rauschgiftsucht' auch 'abnormes' sexuelles Verlangen als Sicherheitsrisiko verstanden. Begründet wurde dies zum einen mit einer Anfälligkeit für Erpressbarkeit zum anderen seien Homosexuelle dem Risiko eines Abhängigkeitsverhältnisses auf 'homosexueller Basis' ausgesetzt. Erst 1983 wurden die Sicherheitsrichtlinien überarbeitet. Eine Eignung als direkter Vorgesetzter und Ausbilder wurde Homosexuellen allerdings, wie Storkmann zeigt, bis in die 2000er Jahre abgesprochen. Der Beitrag des Herausgebers Michael Schwartz 'Zwischen Ausgrenzung und Aufwertung' befasst sich mit der AIDS-Krise in Westdeutschland. Schwartz rekonstruiert die Stigmatisierung von Homosexualität in medialen AIDS-Diskursen der 1980er Jahre, die (politischen) Debatten um den Umgang mit Aids, ebenso wie die Spaltung der schwulen Community. Schwartz arbeitet heraus, dass Westdeutschland dank der Gesundheitsministerin Rita Süssmuth und gegen Widerstände auf eine liberale Aufklärungs- und Selbstregulierungspolitik, die die schwule Community - insbesondere die Deutsche Aids-Hilfe - einband, setzte. Der Beitrag zeigt, dass die AIDS-Krise in Deutschland, trotz Stigmatisierung und Spaltung der Community auch zu einer zunehmenden Normalisierung und Integration von Homosexualität führte.
Der von Michael Mayer und Michael Schwarz herausgegebene Sammelband reiht sich in aktuelle Tendenzen der Zeitgeschichte ein, jenseits der großen Erzählungen, zu einer Marginalisierungs- und Diskriminierungsgeschichte beizutragen. Beim Lesen des Sammelbandes entsteht allerdings der Eindruck, es werde vorranging die Geschichte der Homosexualität im Singular erzählt. Das liegt vermutlich auch daran, dass die Mehrheit der Beiträge den Fokus auf die strafrechtliche Verfolgung, -Diskriminierung und -Emanzipation von Homosexualität legen. Eine Geschichte im Plural erfordert, wie auch Andrea Rottmann in dem vorliegenden Sammelband fordert, einen stärkeren Fokus auf die Rekonstruktion der 'diffusen Verwobenheit' von Homosexualität mit anderen Marginalisierungserfahrungen. So erfahren wir im Sammelband beispielsweise wenig darüber, inwiefern die Verfolgung- Diskriminierung und Emanzipation von Homosexualitäten beispielsweise mit spezifischen Milieu-Zugehörigkeiten oder geschlechter-non-konformen Aussehen interagierte. Zudem wird, anders als es der Untertitel erwarten lässt, die über Deutschland hinausgehende europäische Geschichte im Sammelband wenig aufgegriffen. Neben der Einleitung beschäftigen sich nur zwei Beiträge mit weiteren europäischen Ländern (Vereinigtes Königreich und Polen).
Dennoch gelingt es dem Sammelband, den Blick für eine Geschichte der Homosexualität(en) mit ihren Vorwärts- und Rückwärts- und Seitwärtsbewegungen zu schärfen. Solche historischen Aufarbeitungen sind insbesondere vor dem Hintergrund aktueller Angriffe auf LGBTIQA*- Personen, unsere Demokratie und Rechtsstaatlichkeit dringend notwendig. Darüber hinaus trägt der Fokus auf die spezifische West- und Ostdeutsche homosexuelle Verfolgungs- Diskriminierungs- und Emanzipationsgeschichte zu einem tieferen Verständnis aktueller homosexueller Erfahrungen und Bewegungen in Deutschland bei.
Tanja Vogler