Irene Below / Burcu Dogramaci (Hgg.): Kunst und Gesellschaft zwischen den Kulturen. Die Kunsthistorikerin Hanna Levy-Deinhard im Exil und ihre Aktualität heute, München: edition text + kritik 2016, 356 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-86916-491-5, EUR 32,00
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Die Herausgeberinnen widmen ihr Buch dem Gedenken "der 1933 bis 1945 im deutschsprachigen Raum verfolgten, vertriebenen oder ermordeten und später vergessenen Kunsthistorikerinnen", von denen nur wenige namentlich bekannt sind. Zu diesen zählt Hanna Levy-Deinhard, die 1933 als junge Kunstgeschichte-Studentin nach Paris emigrierte, dort mit einer marxistisch grundierten Kritik an Heinrich Wölfflin promoviert wurde, bevor sie 1937 auf der Flucht von den Nationalsozialisten weiter nach Brasilien zog, wo sie noch im selben Jahr eine Professur für Kunstgeschichte erlangte. 1948 übersiedelte sie nach New York und lehrte dort, unterbrochen nur durch eine einjährige Gastprofessur in Haifa 1956/57, Kunstgeschichte an der New School for Social Research, am Bard College und zuletzt am Queens College. Ab Ende der 1960er-Jahre war sie häufiger zu Vorträgen und Gastvorlesungen an deutschen Universitäten eingeladen. 1978 zog sie nach Basel, wo sie 1984 starb.
Hanna Levy-Deinhards Biografie mutet gleichermaßen abenteuerlich wie erfolgreich an. Es gelang ihr mehrmals in fremden Sprachräumen beruflich Fuß zu fassen, sie hatte in Paris und New York engen Kontakt zu den intellektuellen Emigrantenkreisen und wurde von Max Horkheimer unterstützt. Mit ihren Forschungsinteressen lag sie im Trend der Zeit: Schon als junge Wissenschaftlerin hatte sie 1937 auf dem Zweiten Internationalen Kongress für Ästhetik und Kunstwissenschaft in Paris die "Notwendigkeit einer Soziologie der Kunst" verkündet; diesen Anspruch löste sie dann 1967 mit ihrem Buch "Bedeutung und Ausdruck. Zur Soziologie der Malerei" ein, das zunächst in deutscher Sprache, 1970 in einer modifizierten Fassung auch in den USA erschien. Zuvor hatte sie in Brasilien einen Ansatz zur Auseinandersetzung mit der dortigen Architekturtradition entwickelt, der man heute als postkolonial bezeichnen würde. Man kann sie folglich als wichtige Vertreterin gesellschaftsanalytischer Forschungsperspektiven auf die Kunst ansehen. Doch tatsächlich ist Hanna Levy-Deinhard weitgehend unbekannt.
Es ist das Verdienst vor allem von Irene Below, dass dem nun Abhilfe geschaffen wurde. Bereits 1993 und 2005 hatte sie sich in Vorträgen mit Levy-Deinhards Werk und Biografie auseinandergesetzt, und auf ihre Initiative fand im Februar 2014 das Symposium "Kunst und Gesellschaft zwischen den Kulturen. Die Kunsthistorikerin Hanna Levy-Deinhard im Exil und ihre Aktualität heute" im Exilarchiv 1933-1945 in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt am Main statt, aus dem der vorliegende, von Below zusammen mit Burcu Dogramaci herausgegebene Band hervorgegangen ist. Neben einer in jahrelanger Kleinarbeit recherchierten "Lebenscollage" versammelt er achtzehn Aufsätze in deutscher und englischer Sprache, die unterschiedliche, mitunter gegensätzliche Perspektiven auf Levy-Deinhard eröffnen. Das liegt nicht nur daran, dass es sich um verschiedene Textsorten (Erinnerung, biografische Rekonstruktion, Textanalyse etc.) handelt, sondern auch an den differenten Standpunkten der Autorinnen und Autoren. Gerade diese Heterogenität der Beurteilungen und der ihnen zugrundeliegenden Maßstäbe macht die Lektüre - trotz mancher Redundanzen - kurzweilig und aufschlussreich.
Einen Schwerpunkt des Bandes bilden Rekonstruktionen der biografischen Stationen sowie die Recherche und Kommentierung der (36 bekannten) veröffentlichten und der (zehn an verschiedenen Orten aufbewahrten) unveröffentlichten wissenschaftlichen Publikationen Levy-Deinhards. Geschildert werden unter anderem ihre Jahre in Paris (Nicos Hadjinicolaou), die schwierige Übersiedlung nach Brasilien und ihre dortige Forschung (Daniela Kern, Jens Baumgarten), ihre - phasenweise prekäre - Arbeitssituation in New York (David Kettler, Elizabeth Otto), ihre Aufsätze zu Architektur und Städtebau (Burcu Dogramaci) und ihr Verhältnis zur Achtundsechziger-Generation in der bundesdeutschen Kunstgeschichte (Irene Below).
Einen zweiten Schwerpunkt des Bandes bilden die Kontextualisierung und kritische Diskussion ihrer kunsthistorischen und kunstsoziologischen Positionen. Jens Kastner sieht Levy-Deinhard als "heimliche Pionierin der Kunstsoziologie" (90) - eine doppeldeutige Formulierung, die zum Ausdruck bringt, dass sie zwar grundlegende und bis heute relevante Fragestellungen und Beobachtungen der Kunstsoziologie früh formuliert hat, doch bereits in den 1970er-Jahren nur wenig rezipiert wurde und bald aus dem Blickfeld verschwunden ist. Vorwegnahmen heutiger Forschungsperspektiven sieht Kastner vor allem in der Thematisierung des Verhältnisses von Kunstwerk, Kunstmarkt und Kunstpublikum. Levy-Deinhard konstatierte ein "enormes Anwachsen des Kunstinteresses in allen durchindustrialisierten Ländern" (zit. 95), in dessen Zuge sowohl der Kunstmarkt als auch die kunstvermittelnden Institutionen erheblichen Bedeutungszuwachs erlangten. Der Warencharakter des Kunstwerks werde immer offensichtlicher, was wiederum Konsequenzen für die Kunstproduktion wie für die Rezeption habe. Infolge der Arbeitsteilung sei ein stetig anwachsendes Kunstpublikum entstanden, das den Kunstkonsum mit Legitimations- und Prestigebedürfnissen verbindet. Laut Kastner hat Levy-Deinhard damit schon früh für die Kunstsoziologie relevante Themen angesprochen. Auch wenn sie ihre selbst gestellten Fragen nicht durchweg zufriedenstellend beantwortet habe, müsse man sie als "vergessene Stichwortgeberin" (101) würdigen.
Wolfgang Kemp hingegen betont, dass Levy-Deinhard "eine ziemlich isolierte Position eingenommen" (149) habe. In seiner Rekonstruktion des wissenschaftshistorischen Kontextes, in dem ihr Buch erschien, stellt er fest, dass sie im Grunde alle wichtigen zeitgleichen Positionen ignorierte, sei es die damals in den USA bereits existierende empirische Forschung über Freizeitverhalten und Museumspublikum, sei es Pierre Bourdieus im Jahr zuvor erschienene Studie "Les musées et leur public" oder auch die in der Entstehung begriffene deutsche Rezeptionsästhetik. Anders als etwa Susan Sontag oder Michael Fried habe sie sich auch nicht mit der zeitgenössischen Avantgarde auseinandergesetzt. Kemp konzediert jedoch, dass sie den Umbruch im Verhältnis von Kunst, Kunstmarkt und Publikum in den 1960er-Jahren weitgehend treffend beschrieben habe.
Norbert Schneider beleuchtet kritisch Levy-Deinhards kunstsoziologische Kernthese. Sie attestiert dem Kunstwerk zwei Aspekte: einerseits die "Bedeutung", die zeitgebunden sei, aber durchaus historischem Wechsel unterworfen sein könne und durch zeitgenössische, primär außerkünstlerische Diskurse konstituiert werde, andererseits den gewissermaßen überzeitlich wirksamen "Ausdruck", der in den sichtbaren Elementen des Kunstwerks, also Farbe, Linie, Komposition etc. gründe. Schneider sieht dies eher als eine kunstanthropologische denn als kunstsoziologische Konzeption und erkennt darin eine klare Abgrenzung gegenüber der Ikonologie, deren Interesse an Bedeutung gegenüber der Formanalyse durch Levy-Deinhard degradiert werde. Ähnlich wie ihr früher Mentor Max Raphael bleibe Levy-Deinhard dem Denken Wölfflins, das sie in ihrer Dissertation kritisiert hatte, letztlich eng verbunden.
Dem ließe sich hinzufügen, dass Levy-Deinhards Auffassung des Kunstwerks augenscheinlich in Wölfflins Theorie von der "doppelten Wurzel des Stils" (1911), wonach jeder künstlerische (Kollektiv- wie Individual-) Stil einerseits eine spezifische historische "Stimmung" ausdrückt, andererseits in einer "allgemeinen optischen Form" gründet, vorgeprägt wurde. Wölfflins Theorie war alsbald von Panofsky einem furiosen Verriss unterzogen worden, den Levy-Deinhard anscheinend nicht kannte, sonst hätte sie das Modell schwerlich so unhinterfragt übernehmen können. Ein positiver Effekt des Einflusses von Wölfflin zeigt sich allerdings darin, dass Levy-Deinhard das künstlerische Einzelwerk nie aus dem Blick verliert, ihre Kunstsoziologie vielmehr in der sorgfältigen Analyse von Kunstwerken fundiert ist.
Vor diesem Hintergrund schält sich immer deutlicher der Eindruck heraus, dass das Charakteristische an Levy-Deinhard - und wahrscheinlich zugleich der entscheidende Grund für ihre geringe hiesige Rezeption und Wirkung - darin besteht, dass ihr kunstsoziologischer Ansatz quer zu den etablierten Frontverläufen innerhalb des Methodenstreits der deutschsprachigen Kunstgeschichte liegt: Anders als die berühmteren Exilanten um Panofsky vertrat sie nicht die ikonologische Methode und fügte sich daher nicht in das den Konflikten der 1970er-Jahre zugrunde liegende Muster. Obwohl sie den Anliegen von Studentenbewegung und Ulmer Verein offen gegenüber stand und als Kunstsoziologin deren thematischen Interessen durchaus entsprach, traf sie mit ihrer eher sozialanthropologisch und formalästhetisch ausgerichteten Argumentation nicht den Nerv. Zudem stand sie der aktuellen Kunstentwicklung eher skeptisch, ja geradezu verständnislos gegenüber.
Das Buch von Below und Dogramaci hat insofern einen doppelten Nutzen: Es erweitert unsere noch immer bruchstückhaften Kenntnisse über die deutsch-jüdische Emigration unseres Faches um eine wichtige Emigrantin, und er bringt uns originelle und innovative Schriften zur Kenntnis, die relevante aktuelle Forschungstendenzen vorwegnehmen und doch quer zu den jeweiligen Zeitströmungen liegen - und deren Wert nicht zuletzt auch in dieser Sperrigkeit bestehen mag.
Verena Krieger