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Uwe M. Schneede: Die Kunst des Surrealismus. Dichtung, Malerei, Skulptur, Fotografie, Film, München: C.H.Beck 2006, 263 S., 59 Farb-, 53 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-54683-9, EUR 29,90
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Rezension von:
Verena Krieger
Institut für Kunstgeschichte, Universität Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Olaf Peters
Empfohlene Zitierweise:
Verena Krieger: Rezension von: Uwe M. Schneede: Die Kunst des Surrealismus. Dichtung, Malerei, Skulptur, Fotografie, Film, München: C.H.Beck 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 3 [15.03.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/03/12399.html


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Uwe M. Schneede: Die Kunst des Surrealismus

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Geradezu unermesslich ist die Literatur zum Surrealismus und dennoch fehlte bislang eine zusammenfassende Darstellung, die eine Gesamtschau dieser künstlerischen Bewegung über die Grenzen der Kunstgattungen hinweg liefert und zugleich die weit verästelte Forschung der letzten Jahrzehnte systematisiert und einem breiteren Publikum zugänglich macht. Uwe Schneede, der schon in den 70er-Jahren die Pioniertat einer Übersichtsdarstellung zur Malerei des Surrealismus unternommen hat [1], ist auf Grund seiner vielfältigen Beschäftigung mit dem Thema geradezu prädestiniert dies zu leisten. Wie schon in seiner "Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert" (2002) kann er hier seine souveräne Übersicht über die Fülle und Vielschichtigkeit künstlerischer Entwicklungen walten lassen und eine Summe seiner Erkenntnisse ziehen.

Mit dem Anspruch, "die Kunst" des Surrealismus in der Gesamtheit ihrer Gattungen zu behandeln, nimmt das Buch eine globale Perspektive ein, die seinem Gegenstand unbedingt angemessen ist: Schließlich waren die Surrealisten in den verschiedensten Kunstgattungen tätig und haben die neuen Medien Fotografie und Film zu zentralen Kunstgattungen erhoben, die neue Gattung des "surrealistischen Objekts" erfunden sowie nicht zuletzt die Ausstellung zum Kunstwerk gemacht. Die ungeheure Vielfalt surrealistischer Schöpfungen, die zuletzt 2002 in der enzyklopädisch angelegten Ausstellung in Paris und Düsseldorf vor Augen geführt wurde, macht eine wissenschaftliche Analyse in der Gesamtschau aller Gattungen strukturell nahezu unmöglich, weil sie die fachwissenschaftlichen Grenzen sprengt. Daher liegen vorwiegend gattungsspezifische Untersuchungen zur surrealistischen Dichtung, Film und den verschiedenen Bildkünsten (Malerei, Collage, Objekte, Fotografie etc.) vor.[2] Auch Schneede löst den selbst gesetzten Anspruch nur begrenzt ein, insofern er die literarischen, fotografischen und filmischen Werke des Surrealismus eher kurz abhandelt, während er der Malerei das weitaus umfangreichste Kapitel und eingehende Analysen widmet. Doch bindet er, dem aktuellen bildwissenschaftlichen Diskurs seine Reverenz erweisend, die Gattungen durch ein kurzes, aber zentrales Kapitel über das "surrealistische Bild" zusammen. Überzeugend argumentiert er hier, die Gemeinsamkeit der Surrealisten gründe nicht in einem spezifischen Stil, sondern auf der "Vorstellung vom Bild" als "veranschaulichte[r] Imagination" und "geschaffene[r] Tatsache aus Widersprüchen zu den Tatsachen der Welt", die es korrigieren solle (139).

Die schwierige Aufgabe, das vielschichtige Thema gleichermaßen diachron wie synchron zu behandeln, hat Schneede souverän gelöst, indem er eine chronologische Struktur wählte, in welche die inhaltlichen Aspekte - etwa die Struktur der Surrealistengruppe, ihre politischen Aktivitäten, ihre Auffassungen von der Künstlerrolle, ihre Schlüsselbegriffe und Bildmotive etc. - eingefügt sind. So ergibt sich eine flüssig zu lesende Erzählung, die zugleich Seitenblicke, Einzelanalysen und zusammenfassende Deutungen bietet. Nur selten entstehen kleine irritierende Brüche im argumentativen Verlauf, die durch ein gründlicheres Lektorat hätten vermieden werden können - letzteres gilt auch für einige sprachliche Patzer (etwa 95, 124, 155). Unverständlich ist weiterhin, weshalb das surrealistische ästhetische Verfahren durchgehend als "Entfremdung" statt als "Verfremdung" bezeichnet wird.

Einige sachliche Kritikpunkte: Es trifft nicht zu, dass Max Ernst mit seiner hochartifiziellen Kunst mitten in einer "Phase des ungewissen Experimentierens mit kunstlosen Bildverfahren" zum Surrealistenkreis gestoßen wäre (32), vielmehr entstand die kunstlose Gattung etwa des "cadavre exquis" zu einem Zeitpunkt, als Max Ernst längst zur Gruppe gehörte. Die Kunstlosigkeit solcher Verfahren war programmatische Absicht, weshalb sie parallel zur surrealistischen Hochkunst betrieben und nicht etwa durch diese abgelöst wurden. Weiterhin: Bretons Versuche, eine surrealistische Politik im Bündnis mit den Kommunisten unter Wahrung der eigenen Unabhängigkeit zu konzipieren, als ein "Lavieren" und "Taktieren" (77) zu charakterisieren, erscheint mir arg verkürzt. Bei allen autoritären und eitlen Zügen seiner Interventionen ist doch festzuhalten, dass Breton das avantgardistische Projekt einer universellen kulturellen Umwälzung unter Wahrung der Kunstautonomie wie kaum ein anderer Künstler auf hohem Reflexionsniveau verfolgt hat, und dies unter den schwierigsten Bedingungen.[3] Kritisch zu diskutieren wäre schließlich Schneedes Avantgardebegriff, der den Kubismus einschließt, hingegen den Surrealismus zum Erben der Avantgarden anstatt - wie Peter Bürger [4] - zu deren idealtypischen Vertreter erklärt (13f).

Bedauerlich ist, dass trotz des globalen Ansatzes des Buches mancher wichtige Aspekt außer Acht gelassen wurde: Zu nennen sind die intensive Beschäftigung der Surrealisten mit der Alchemie, die auch in Werken etwa von Max Ernst und Viktor Brauner Niederschlag gefunden hat [5], die problematische Zusammenarbeit mit Georges Batailles "contre-attaque" [6] sowie das höchst ambivalente surrealistische Weiblichkeitsbild. Es ist schon ärgerlich, dass die komplexe und kontroverse feministische Forschung völlig ignoriert wird.[7] Der traditionelle Kanon männlicher Künstler wird durch wenige, vergleichsweise kurz abgehandelte "Ausnahmekünstlerinnen" ergänzt - darunter Claude Cahun, deren Eigenständigkeit Schneede betont, als bedürfe das überhaupt einer Erwähnung (188). Und schließlich: Die Literaturliste eines so umfassend angelegten Buches dürfte gerne ausführlicher sein. Ebenso wären mehr Literaturhinweise im Text nützlich für jeden, der sich mit einem besprochenen Aspekt vertieft beschäftigen möchte. Weshalb, um ein Beispiel zu nennen, werden in der Diskussion um den Gewaltvorwurf an die Surrealisten (66) nicht die Namen derer genannt, die ihn erhoben haben (Enzensberger, Bohrer)? Auch fragt man sich, weshalb manche Autoren namentlich zitiert, andere hingegen nicht einmal einer Fußnote würdig erachtet werden. Nicht zuletzt vermisst man angesichts der Fülle angesprochener Aspekte ein Sachregister. Es würde den unstrittigen Nutzen des Buches noch deutlich steigern, wenn Autor und Verlag sich entschließen könnten, die zu erwartende zweite Auflage entsprechend anzureichern.

Die genannten Kritikpunkte wiegen nicht allzu schwer angesichts des anspruchs- und verdienstvollen Unterfangens. Sprachlich und inhaltlich prägnant wird die surrealistische Bewegung in ihrer Gesamtheit, werden ihre Protagonisten, Programme, Qualitäten und inneren Widersprüche charakterisiert. Abgerundet wird die Darstellung durch einen chronologischen Überblick. Damit füllt Schneedes Buch eine seit langem klaffende Lücke und bietet Studierenden und allen anderen Interessierten, die sich einen Überblick über das komplexe Phänomen Surrealismus verschaffen möchten, einen Einstieg auf hohem Niveau.


Anmerkungen:

[1] Uwe M. Schneede: Malerei des Surrealismus, Köln 1973.

[2] Exemplarisch einige grundlegende Titel: Peter Bürger: Der französische Surrealismus. Studien zum Problem der avantgardistischen Literatur, Frankfurt/M. 1971; Rosalind E. Krauss und Jane Livingston: L'Amour fou. Photography, and Surrealism, Washington D.C./New York 1985; Werner Spies: Max Ernst. Collagen. Inventar und Widerspruch, Köln 1988; Andreas Vowinckel: Surrealismus und Kunst. Studien zu Ideengeschichte und Bedeutungswandel des Surrealismus vor Gründung der surrealistischen Bewegung und zu Begriff, Methode und Ikonographie des Surrealismus in der Kunst 1919 bis 1925, Hildesheim 1989.

[3] Vgl. R. S. Short: Die Politik der surrealistischen Bewegung 1920-1936, in: Die europäischen Linksintellektuellen zwischen den beiden Weltkriegen, München 1967, 7-40.

[4] Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt/M. 1974.

[5] Vgl. u.a. Die Surrealisten, hrsg. von Arturo Schwarz, Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle, Frankfurt/M. 1989, 34-40; Verena Kuni: Victor Brauner. Der Künstler als Seher, Magier und Alchimist, Frankfurt/M. 1995; Marjorie E. Warlick: Max Ernst and Alchemy: A Magician in Search of Myth, Austin/Texas, 2001.

[6] Vgl. Stephan Moebius: contre-attaque. Eine politische Initiative französischer Intellektueller in den 30er Jahren, in: sozial.geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts, N.F. 18. Jg, 2003, H. 2, 85-100.

[7] Vgl. u.a. Xavière Gauthier: Surrealismus und Sexualität. Inszenierung der Weiblichkeit (1971), Wien/Berlin 1980; Mary Ann Caws, Rudolf Kuenzli und Gwen Raaberg (Hg.): Surrealism and Women, Cambridge und London 1991; Whitney Chadwick: Women Artists and the Surrealist Movement, New York 1997.

Verena Krieger