Nils Löffelbein / Silke Fehlemann / Christoph Cornelißen (Hgg.): Europa 1914. Wege ins Unbekannte, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016, 287 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-78572-5, EUR 39,90
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Seit dem Jubiläumsjahr 2014 sind zwei Trends in der Weltkriegsforschung auszumachen, die Christoph Cornelißen - sein Beitrag bildet den Abschluss des vorliegenden Bandes - unter dem Begriff "Glokalisierung" (283) zusammenführt. Diese Forschungstendenzen finden sich auch im vorliegenden Sammelband wieder, der dabei die Ergebnisse einer 2014 ausgerichteten Tagung vereint. Die Beiträge setzen sich dabei mit den "längerfristigen gesellschaftlichen und mentalen Entwicklungen am Übergang vom Frieden zum Krieg" (13) auseinander. Der Band ist in insgesamt vier Kapitel und 13 sehr innovative, interessante und gut lesbare Beiträge gegliedert. Eingeleitet wird er von einer von den Herausgebern Löffelbein und Fehlemann verfassten Einführung, in der sich das Spektrum der vielfältigen Stimmungslagen und Vorstellungen am Vorabend des Ersten Weltkrieges offenbart, in der die Autoren auf eine Gleichzeitigkeit der Gegensätze verweisen: auf die unterschiedlichen Einstellungen und Meinungen, Mentalitäten der herrschenden Eliten bzw. Gesellschaften zum Krieg, die sich auch in den einzelnen Beiträgen wiederfinden.
Im ersten Kapitel ("Kriegserwartungen") sind Beiträge, die sich den unterschiedlichen Vorstellungen und Einschätzungen eines künftigen Konfliktes, der Sozialisierung der Akteure sowie deren Kriegserfahrungen am Vorabend des Krieges aus unterschiedlichen Perspektiven nähern, versammelt. Nils Löffelbein analysiert gelungen die unter Militärärzten in zeitgenössischen Fachzeitschriften geführten Diskussionen über die Auswirkungen neuer Waffensysteme auf den Körper. Veränderungen in der Kriegsführung wurden zwar wahrgenommen, führten aber weder zu einem Wandel der vorherrschenden Kriegsvorstellungen noch flossen diese in die Sanitätsplanungen ein. Die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten, verbunden mit dem Glauben an einen rasch zu führenden Bewegungskrieg, führte nach 1914 zu ungeahnten Verlusten. Daran anknüpfend widmet sich Arndt Weinrich dem Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05, der einen transnationalen Diskursraum für Militärs öffnete. Auch zeigt er, dass Veränderungen in der Kampfführung zwar wahrgenommen und als Wendepunkte eingestuft wurden, jedoch zu keinem Umdenken führten und konstatiert daher ein Lernversagen der Militärs. Dagmar Ellerbrocks Beitrag beschäftigt sich im Anschluss mit der Frage, welchen Einfluss der "Große Krieg" auf die zivile Waffenkulturen im Deutschen Reich ausüben sollte. Sie skizziert den von Widerstand geprägten Weg zur gesetzlichen Regulierung ziviler Schusswaffen, die erst durch den Krieg Umsetzung fand. UIrike Lindner wendet sich schließlich den außereuropäischen Kolonialkriegen zu. Sie weist nach, dass das Verhältnis der Kolonialmächte nicht nur von Konkurrenz, sondern vielmehr von Kooperation, Vernetzung, Zusammenarbeit und Informationsaustausch geprägt war und auf dem Verständnis der Überlegenheit der europäischen Kolonialherren gegenüber der indigenen Bevölkerung fußte; eine Ordnung, an deren Aufrechterhaltung die Mächte gemeinsam interessiert waren. Im zweiten Kapitel ("Friedenshoffnungen") beschäftigen sich die Autoren mit der sozialistischen, bürgerlichen Friedens- sowie mit der pazifistischen Frauenbewegung. Erstere stellte zwar die größte Bewegung dar, gemeinsame Maßnahmen gegen den drohenden "Bruderkrieg" waren - wie Wolfgang Kruse nachweist - aufgrund unterschiedlichster Ausrichtungen, Interessen, aber v.a. der nationalen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen schwierig. Das bereits vor 1914 vorhandene Konfliktpotenzial zwischen den west- und mitteleuropäischen Bewegungen sowie die unterschiedlichen ideologischen Ausrichtungen bürgerlicher und proletarisch-sozialistischer Kriegsgegner erschwerten eine Zusammenarbeit. Joachim Schröder verweist in seinem Beitrag auf die Julikrise 1914, die die Akteure unvorbereitet traf. Die Müller-Mission nach Paris, deren unterschiedliche Deutungen, die schließlich auch zur Zustimmung der Sozialisten zu den Kriegskrediten führte, ließen die Konzeption der internationalen Solidarität scheitern und hinterließ tiefe Gräben. Auch die internationale Frauenbewegung hatte einen Kriegsausbruch für unmöglich gehalten. Annika Wilmers weist nach, dass der Versuch, eine internationale Frauenversammlung zum Protest gegen den Krieg einzuberufen, scheiterte. Während die überwiegende Mehrheit die Kriegsanstrengungen mittrug und sich in den Dienst des Krieges stellte, fühlten sich die Pazifistinnen gesellschaftlich isoliert. Im darauffolgenden Abschnitt ("Mobilisierungen") widmen sich die Autoren der Kriegsbereitschaft sowie der gesellschaftlichen und mentalen Mobilisierungsstrategien. Zu Beginn bietet Dittmar Dahlmann einen Überblick über die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in Russland. Er zeichnet das Bild einer stark heterogenen Gesellschaft, die trotz wirtschaftlicher und kultureller Modernisierungstendenzen wenig Konsens finden konnte. Die Reorganisation der russischen Armee als Folge der Niederlage von 1904/05 und deren Ausbau konnte vor dem Beginn des Krieges nicht beendet werden. Trotz diverser Modernisierungsschübe war Russland den Anforderungen des modernen Krieges nicht gewachsen. Die sozialen Spannungen entluden sich nicht zuletzt bei der Mobilisierung in Form von Unruhen, Aufständen und Plünderungen. Gerd Krumeich vergleicht in seinem Beitrag die Haltung der Regierungen Deutschlands und Frankreichs in der Julikrise. Er weist die Vorstellung zurück, die Bevölkerung sei in den Krieg getrieben worden. Vielmehr war diese - auf beiden Seiten - von der Notwendigkeit eines Verteidigungskrieges überzeugt. Anschließend daran, nimmt Steffan Bruendel unter Einbeziehung diverser Selbstzeugnisse die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Emotionen zu Kriegsbeginn in den Blick. Diese unterschieden sich je nach Generation, Milieu oder Geschlecht und Region. So war in Teilen der deutschen Gesellschaft eine Kriegsbegeisterung vorhanden, die von der Regierung und Presse gefördert und zum (Master-)Narrativ ausgebaut wurde. Bruendel liefert hierin auch einen historiographischen Überblick über das "Augusterlebnis". Fehlemann vergleicht die in Deutschland und Großbritannien unterschiedlich tradierten Entwürfe der Soldatenmütter und den staatlichen Umgang mit Abschied, Tod und Trauer, der sich Ende 1914 bereits zu einem ernsthaften politischen Problem auswuchs. Während in Deutschland eine trauernde, sich sorgende, aber kriegsbereite Mutter in Medien propagiert wurde, waren in Großbritannien "Heldenmütter" aktiv in die Anwerbung Freiwilliger eingebunden. Hierdurch eröffnete sich, wie die Autorin nachweist, ein erheblicher Widerspruch zwischen Propaganda und Lebenswelt. Bérénice Zunino untersucht anhand von illustrierten Kinderbüchern in Deutschland vor 1914 wie sich Vorstellungen von Krieg/Militär in die Lebenswelten der Kinder einschrieben und diese nachhaltig prägen sollten. Besonders rund um die Gedenkfeier 1913 ist eine Zunahme der Produktion patriotischer Kinderbücher festzustellen, die mithilfe nachgemalter berühmter Gemälde und stark stilisierenden Darstellungen Kinder spielerisch mit dem Militär und seinen Abläufen vertraut machten. Ab 1916 brach der Büchermarkt, nach einem ersten Boom der Kriegsbilderbücher zu Weihnachten 1914, kriegsbedingt zusammen. Anschließend rundet Christoph Cornelißen mit seinem eingangs angeführten Beitrag den vorliegenden Band ab. Insgesamt haben die Herausgeber sehr interessante, mit innovativen Fragestellungen und Zugängen aufwartende Artikel vereint, die aufzeigen, dass es sich lohnen kann, Entwicklungslinien hinsichtlich ihrer Kontinuitäten und Bruchlinien näher zu beleuchten.
Nicole-Melanie Goll