Rezension über:

Horst Dippel (Hg.): Visionen eines zukünftigen Deutschlands: Alternativen zur Paulskirchenverfassung 1848/49, Berlin: Duncker & Humblot 2017, 3 Bde., XXX + 1750 S., ISBN 978-3-428-15103-5, EUR 199,90
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Rezension von:
Frank Engehausen
Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Frank Engehausen: Rezension von: Horst Dippel (Hg.): Visionen eines zukünftigen Deutschlands: Alternativen zur Paulskirchenverfassung 1848/49, Berlin: Duncker & Humblot 2017, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 10 [15.10.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/10/30285.html


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Horst Dippel (Hg.): Visionen eines zukünftigen Deutschlands: Alternativen zur Paulskirchenverfassung 1848/49

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Bei der anzuzeigenden Publikation handelt es sich um ein Einmann-Editionsgroßvorhaben, das der Kasseler Emeritus für die Geschichte Nordamerikas und Großbritanniens unter dem Eindruck des 150. Jubiläums der Revolution von 1848/49 um die Jahrtausendwende begonnen und nun abgeschlossen hat. Als Anstoß zu dem Vorhaben macht Dippel im Vorwort seiner Edition die "Euphorie der damaligen Revolutionsbegeisterung - 1848 wie in seinem fernen Nachhall 1998" - aus, die ihn dazu bewogen habe, jenen "weit gespannten Zukunftsdiskurs", der in den Verfassungsdiskussionen der Jahre 1848/49 greifbar ist, zu dokumentieren und auszuwerten (VIII). Diese Dokumentation ist kein Selbstzweck, sondern soll der Beseitigung eines Defizits dienen, für das Dippel, mit guten Argumenten, "die bislang völlige Ausblendung des innerdeutschen Diskurses über die Verfassungsvorstellungen der Paulskirchenmehrheit und die zu diesen deutschlandweit vorgebrachten alternativen Vorstellungen" hält (VII).

Um diesen vernachlässigten Diskurs breit zu dokumentieren, präsentiert Dippel in zwei Teilbänden 100 in den Jahren 1848 und 1849 entstandene Texte: Flugschriften, die von vornherein eine breite Öffentlichkeit suchten, und Petitionen, die auf die Verfassungsberatungen der Frankfurter Nationalversammlung Einfluss nehmen sollten - Dippel kategorisiert sie unter den Bezeichnungen "Entwürfe" und "Eingaben". Für die Auswahl berücksichtigt wurden Texte, "die einen eigenständigen Verfassungsentwurf lieferten" oder "die Grundlinien einer Verfassungsstruktur erkennen" ließen, sowie solche, "die sich mit einem der Grunddokumente - Siebzehnerentwurf, Gesetz über die Grundrechte und Frankfurter Reichsverfassung - auseinandersetzte[n], sei es um eine Alternative zu konzipieren oder Gegenvorschläge zu einzelnen Abschnitten oder Klauseln zu unterbreiten oder um die vorgelegten Texte kritisch zu würdigen oder zu kommentieren" (28).

Der chronologische Rahmen der Texte spannt sich von einem Entwurf des demokratischen Jenaer Juristen Gottlieb Christian Schüler aus den ersten Märztagen des Jahres 1848 bis zu einem anonymen "warnenden Wort an das preußische Volk" aus der Reichsverfassungskampagne im Mai 1849. In dem von Dippel entworfenen Raster einer chronologisch-thematischen Zuordnung entfallen 26 Texte auf die Anfangsphase der Revolution (März und April 1848), 38 und damit das Gros beziehen sich auf den Entwurf des Siebzehnerausschusses, mit dem der sich reformierende Bundestag Einfluss auf die Beratungen der Nationalversammlung zu nehmen versuchte, zehn Texte dokumentieren Reaktionen auf die Verfassungsberatungen in der Paulskirche, 13 nehmen Stellung zu den Diskussionen um die Grundrechte, und weitere 13 spiegeln die Debatten um die in Frankfurt beschlossene Reichsverfassung wider. Die Länge der Texte variiert zwischen zwei Seiten, auf denen der Cottbuser Oberbürgermeister Johann Gottlob Rommelt Ende Mai 1848 in acht Paragrafen das "Project einer provisorischen Verfassung Deutschlands" skizzierte, und gut 60 Seiten, die der pfälzische Lehrer Ignaz Lehmann benötigte, um im Auftrag der württembergischen Abgeordnetenkammer im März 1849 die Grundrechte zu kommentieren.

Unter den Verfassern der "Entwürfe" finden sich etliche Parlamentarier, die wie Karl Biedermann, Johann Gottfried Eisenmann, Karl Hagen oder Karl Theodor Welcker nicht nur in der Paulskirche mit der Ausarbeitung der Verfassung beschäftigt waren, sondern darüber hinaus schriftstellerisch auf den öffentlichen Diskurs einzuwirken versuchten, und auch manche Personen, die nur vom eigenen Schreibtisch aus in die Debatten eingriffen: etwa der badische Theologe Joseph Beck, der Mecklenburger Ludwig Fromm, der Berliner Advokat Gustav Andreas Lautier oder der Arzt Julius Minding. Auch bei den "Eingaben" zeigt sich ein breites Verfasserspektrum: Sie stammen vielfach von Einzelpersonen, mitunter von lokalen politischen Vereinen und in einem Fall "von 2800 Bürgern zu Lörrach", die Ende Juni 1848 der Frankfurter Nationalversammlung eine "Vorstellung" unterbreiteten.

Über das Profil der Autoren, deren Kurzbiografien in einem verdienstvollen Anhang (251-278) präsentiert werden, äußert sich Dippel in dem Einführungsband (28-39), in dem er auch den "Kampf um die Verfassungsordnung" nachzeichnet, wie er sich in den ausgewählten Texten niederschlägt. Statt in der üblichen Dreiertypologie von konstitutioneller und parlamentarischer Monarchie sowie republikanischen Ordnungsvorstellungen erfasst Dippel die Konzepte in vier Kategorien, indem er den "modernen Konstitutionalismus" hinzunimmt, dessen Wurzeln er in der Amerikanischen und in der Französischen Revolution verortet und den er als ein spezifisches Zusammenspiel von Verfassungsprinzipen definiert: "Volkssouveränität, Menschenrechte, universelle Prinzipien, begrenzte Regierungsgewalt, die Verfassung als oberstes Gesetz, repräsentative Regierung, Gewaltentrennung, Verantwortlichkeit der Regierenden, Unabhängigkeit der Justiz und die Abänderbarkeit der Verfassung unter Mitwirkung des Volkes" (22f.). Zwar will Dippel nicht mehr als ein Dutzend der ausgewählten Texte dieser Kategorie zuordnen, aber in der Zusammenschau seiner Untersuchungsergebnisse hebt er doch hervor, dass die Alternativen zum vermeintlichen Leitmodell der konstitutionellen Monarchie in den Verfassungsdiskursen der Revolution 1848/49 wohl doch größer waren, als bisher zumeist angenommen: Wahrscheinlich "hätte ihre bunte Anhängerschaft sogar innerhalb der Paulskirche eine Mehrheit gehabt, hätten sie sich auf eine konkrete Alternative zur konstitutionellen Monarchie verständigen können. Indem das nicht geschah, wurde diese Chance vertan, sodass sich die Wirkungsmacht ihrer vorwärtsweisenden Perspektiven in Deutschland politisch erst entfalten konnte, nachdem die konstitutionelle Monarchie politisch zu Grabe getragen worden war und ihre erschreckende politische Hinterlassenschaft niemand antreten wollte" (182).

Um solch weitgreifende Fragen zu beantworten, werden vermutlich nur wenige Leserinnen und Leser die Bände zur Hand nehmen, die - so steht zu erwarten - wohl ohnehin hauptsächlich in den Reihen derer Aufmerksamkeit finden werden, die der Revolution von 1848/49 besonderes Interesse entgegenbringen. Diese indes werden die Quellen, die von Dippel mustergültig erschlossen worden sind, mit großem Gewinn nutzen können: nicht nur für verfassungs-, sondern auch für allgemeine politik- und mentalitätsgeschichtliche Zwecke.

Frank Engehausen