Marcel Gyr: Schweizer Terrorjahre. Das geheime Abkommen mit der PLO, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2016, 183 S., ISBN 978-3-03810-145-1, EUR 34,00
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Diverse Untersuchungen haben in den letzten Jahren herausgearbeitet, dass die Regierungen Großbritanniens, Italiens, Frankreichs, der USA sowie der Bundesrepublik pragmatisch auf den sich seit 1969/70 als veritables Sicherheitsproblem manifestierenden arabisch-palästinensischen Terrorismus reagierten. [1] Aufseiten westlicher Nachrichtendienste oder politischer Emissäre bestand hierbei auch keine ausgeprägte Zurückhaltung gegenüber Kontakten mit wichtigen Funktionären der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), in deren Namen (unterstützt von Staaten wie Syrien, Irak, Südjemen oder Libyen) Terrorakte verübt wurden - vorausgesetzt, die strikte Geheimhaltung dieser Kontakte blieb gewahrt. [2] 2009 veröffentlichte Matthias Dahlke eine Aufzeichnung, die belegt, dass ein hochrangiger PLO-Funktionär der Bundesregierung 1977 Sicherheitsgarantien anbot - und im Gegenzug diplomatischen Rückhalt Bonns für die PLO forderte. [3] Dahlkes Fund untermauert eine plausibel anzunehmende Vermutung, die aktuelle Arbeiten bestätigen. [4] Die Argumentation lautet: Israels umfassender militärischer Sieg im Junikrieg 1967 führte zu einer Radikalisierung und Fragmentierung der 1964 gegründeten PLO - wobei wiederum sich als "gemäßigt" gerierende Palästinenser versuchten, Profit aus dem den "Radikalen" angelasteten Terror zu ziehen. Erstere behaupteten, sie könnten den zumeist promarxistisch orientierten Extremisten Grenzen aufzeigen und damit zugleich verhindern, dass die Sowjetunion die PLO zu einer moskauhörigen Marionette degradierte. Für die in Aussicht gestellte Sicherheit vor dem Terror der linken antiwestlichen palästinensischen Gruppen in (West-)Europa verlangten die "Gemäßigten" von den dortigen Regierungen eine schrittweise diplomatische Aufwertung der PLO - einer Organisation, die wegen der in Israel, den besetzten Gebieten und Westeuropa begangenen Terroranschlägen international als geächtet galt.
Der Schweizer Journalist Marcel Gyr fügt der Debatte um den sicherheitspolitischen Umgang Westeuropas mit dem palästinensischen Terror seit den frühen 1970er Jahren eine neue wichtige Facette hinzu. Er legt einen akribisch recherchierten Band vor, in dessen Mittelpunkt die These steht, die Schweiz habe 1970, im Nachgang einer Reihe spektakulärer Anschläge, ein "Stillhalteabkommen" mit der PLO geschlossen. Für die Zusage der Eröffnung eines PLO-Büros in Genf habe Bern die Versicherung erhalten, künftig vor palästinensischem Terror verschont zu werden. Einziges Manko: Gyr vermag trotz intensiver Archivarbeit nicht, den ultimativen Beweis für seine Behauptung zu erbringen. Doch allein dies schmälert den Wert seines Buches nicht.
Gerade für ein nicht fachwissenschaftliches Publikum verfasst, zeichnet Gyr zunächst in den ersten fünf von insgesamt elf Kapiteln detailreich den präzedenzlosen Ausnahmezustand nach, in dem sich die Schweiz 1970 befand: Nachdem im Februar 1969 palästinensische Terroristen auf dem Zürcher Flughafen eine israelische Maschine angegriffen und den Kopiloten getötet hatten, explodierte ein Jahr später ein Flugzeug der Swissair kurz nach dem Start; 47 Menschen starben. Dieser schwerste Terroranschlag in der Schweizer Geschichte ist bis dato ungeklärt, auch wenn die Verantwortung der palästinensischen Organisation PFLP-GC für ihn feststeht. Im September 1970 entführte schließlich eine andere PLO-Gruppe, die PFLP, drei Passagierflugzeuge nach Jordanien, darunter eines der Swissair. Während der anschließenden Verhandlungen erreichten die Terroristen unter anderem die Freilassung von in der Schweiz inhaftierten Palästinensern.
Gestützt auf Akten des Schweizerischen Bundesarchivs sowie Hintergrundgespräche, rekonstruiert Gyr im zweiten Teil seines Buches das Zustandekommen eines Deals, der nicht zuletzt aufgrund von Angaben eines damals maßgeblich Beteiligten - des Schweizer Nationalrates Jean Ziegler - glaubwürdig erscheint. Schlüsselszene ist der 1970 eigens auf Verlangen des damaligen Chefs des Berner Außendepartements über Ziegler hergestellte Kontakt zu Faruq al Qaddumi. Qaddumi zählte damals zu den wichtigsten Funktionären der PLO. Er war zugleich Vertrauter Jassir Arafats und Mitglied der von Arafat gegründeten Fatah. Seit 1968 stellte sie die Führungsgruppe der PLO. Gyr zufolge soll Qaddumi während der erwähnten Flugzeugentführungen im Herbst 1970 eine vermittelnde Rolle gespielt haben, und er vereinbarte anschließend im Namen der PLO per Handschlag in einem Zürcher Hotel mit amtlichen Vertretern Berns, dass neue palästinensische Terroraktionen gegen die Schweiz unterbleiben sollten.
Nach Erscheinen von Gyrs Buch ließ der Bundesrat den gesamten Sachverhalt von einer gemeinsamen Arbeitsgruppe des Außen-, Justiz- und Verteidigungsdepartements prüfen. Allein aufgrund des fehlenden schriftlichen Beweises der Existenz des Abkommens schussfolgerte die "Interdepartementale Arbeitsgruppe '1970'", die Behauptung sei nicht zutreffend. [5] Jedoch stützten auch die Ergebnisse der Untersuchungskommission Gyrs Darstellung in wesentlichen Punkten, bestritten weder den Fakt der hervorragenden Beziehungen von Ziegler mit diversen PLO-/Fatah-Funktionären noch entkräfteten sie die Einlassungen Qaddumis gegenüber Gyr im März 2015. Der Anhang des Berichtes, der einschlägige Dokumente und Korrespondenzen enthält, fördert sogar neue Details zutage. Namhafte Forscher erklärten darüber hinaus, Gyrs Darstellung eines solchen Abkommens sei - auch wenn bisher kein schriftlicher Vertrag in Archiven aufgespürt werden konnte - vor dem Hintergrund der zwischenzeitlich erreichten Forschungsergebnisse und in Anbetracht der damaligen sicherheitspolitischen Konstellation stichhaltig. [6] Eine Meinung, der uneingeschränkt beizupflichten ist - zumal fraglich bleibt, ob solch eine Übereinkunft je schriftlich vorgenommen wurde. Selbst ein so vermeintlich treuer Verbündeter der PLO wie die DDR-Staatssicherheit hat, als Ost-Berlin sich 1979 angesichts der von Arafat betriebenen Westpolitik zum Einschreiten veranlasst sah und eine "Rahmenvereinbarung" mit der Geheimdienstabteilung der PLO schloss, dies alles auf "mündlicher" Grundlage vollzogen. [7]
Eine der beiden Stärken von Gyrs Buch ist unzweifelhaft das analytisch-reflektierte, kritische Nachhaken des Autors - das wiederum zu einer regen Debatte über drängende Fragen geführt hat. Allein die politische Resonanz, die Gyrs Buch in der Schweiz erfahren hat, zeigt, wie groß der Impuls seiner Studie ist. Längst ad acta gelegte Vorgänge zur Aufklärung terroristischer Anschläge sind wieder in Gang gekommen. [8] Der zweite Vorzug von Gyrs Darstellung liegt darin begründet, dass sie die von der PLO/Fatah angewandte außenpolitische Doppelstrategie vor Augen führt: Arafat und die Fatah stellten sich im Westen als "gemäßigt" dar und empfahlen sich als Partner. Sie erklärten, die "Radikalen" domestizieren und die PLO vor der sowjet-marxistischen Übernahme bewahren zu wollen. Der Preis, den sie hierfür verlangten, war politischer Rückhalt im Kampf gegen Israel.
Auf diesem Weg erreichte Arafat auch im Herbst 1970 gegenüber der Schweiz seinen Willen. Seit Anfang 1969 war er bestrebt, eine von der Fatah geführte "halbdiplomatische Vertretung" der PLO in Genf einzurichten. [9] Nicht in Bern, sondern am Standort der Vereinten Nationen in der Schweiz wollte Arafat präsent sein und Funktionäre seiner Fatah auf das internationale diplomatische Parkett manövrieren. 1971 öffnete eine quasi inoffizielle PLO-/Fatah-Vertretung am VN-Standort Genf. Die Schweizer Behörden ließen - als erhoffte Geste zugunsten sicherheitspolitischen Wohlwollens - einen Vertrauten Arafats als "Journalisten" tätig werden. Mit anderen Worten: Die angeblich "gemäßigten" Kräfte der PLO schlugen aus dem Terror der "Radikalen" politisches Kapital. Wenn also die PFLP-GC und die PFLP mit Bombenanschlägen und Flugzeugentführungen in Erscheinung traten, nützte dies der Fatah, unbenommen dessen, dass auch die Fatah Terroranschläge verübte. Aber im Gegensatz zur PFLP und der PFLP-GC war nur die Fatah prinzipiell zu politischen Gesprächen mit westlichen Regierungen bereit, hatte zahlreiche Angehörige bereits als Studenten in westlichen Ländern ausbilden und erste Kontakte zu dortigen Entscheidern herstellen lassen. Allein die Fatah besaß großes Interesse, in den einzelnen (zuallererst westlichen) Hauptstädten, Büros zu unterhalten. Arafat konnte in dieser Hinsicht Anfang der 1970er Jahre Erfolge verbuchen - allem Terror zum Trotz. In Paris, Bonn, London und Rom waren Funktionäre der Fatah seit 1968 politisch präsent. Ab 1971 schließlich in Genf.
Aber welchen Gewinn zogen die PFLP und die PFLP-GC aus einer der Fatah zugutekommenden politischen Aufwertung der PLO in der Schweiz? Und wie glaubwürdig konnten 1970 Qaddumis Zusagen sein, wenn er weder der PFLP noch der PFLP-GC angehörte - und sich beide Gruppen keinem vermeintlich einheitlichen PLO-Kommando unterwarfen und Weisungen Arafats oder der Fatah missachteten? Zwar adressiert Gyr diese Aspekte in seinem Buch nur mittelbar, doch konnte er zwischenzeitlich aufgrund fortgesetzter Recherchen mögliche Antworten liefern. Sie alle bestätigen aktuelle Forschungsergebnisse, die zeigen, wie komplex und verwoben das Geflecht des vermeintlich von "der" PLO begangenen Terrors war und wie autonom die einzelnen Gruppen tatsächlich agierten. Sie alle verband mit Blick auf die Schweiz jedoch ein gemeinsames Ziel: Dieser mit Neutralitätsstatus versehene Ort in der Mitte Europas war seit Anfang der 1970er Jahre aus logistischen Gründen wichtig, etwa um dort Treffen mit Kontaktpartnern abhalten zu können. Nicht zuletzt ging es ihnen um das Deponieren und Waschen von Geld. [10] Genau diese Interessen erklären möglicherweise, weshalb die Schweiz kein politisches Stillhalteabkommen mit der PFLP oder der PFLP-GC in Form eines zu eröffnenden Büros schließen musste. Effektive Kontrolle übte der Staat in Form der geduldeten Präsenz Dritter aus; ein Quidproquo. Wäre dies ethisch-moralisch verwerflich und juristisch zu ahnden? Oder bot eine solche dossierte Kontrolle nicht eine recht durchgreifende Handhabe, um Schlimmeres zu verhindern? Man darf gespannt auf die Dinge sein, die Gyr und andere im Fall Schweiz noch ergründen werden.
Anmerkungen:
[1] Vgl. u.a. Thomas Riegler: Im Fadenkreuz: Österreich und der Nahostterrorismus 1973 bis 1985, Göttingen 2011; Matthias Dahlke: Demokratischer Staat und transnationaler Terrorismus. Drei Wege zur Unnachgiebigkeit in Westeuropa 1972-1975, München 2011; Tim Geiger: Westliche Anti-Terrorismus-Diplomatie im Nahen Osten, in: Terrorismusbekämpfung in Westeuropa. Demokratie und Sicherheit in den 1970er und 1980er Jahren, hg. von Johannes Hürter, Berlin / München / Boston 2015, 259-288.
[2] Vgl. u.a. die bereits 1969 etablierten CIA-Kontakte zur PLO-Führung: Kai Bird: The Good Spy. The Life and Death of Robert Ames, New York 2014, 83-85, 147-155.
[3] Vgl. Matthias Dahlke: Das Wischnewski-Protokoll. Zur Zusammenarbeit zwischen westeuropäischen Regierungen und transnationalen Terroristen 1977, in: VfZ 57 (2009), 201-215.
[4] Vgl. Lutz Maeke: DDR und PLO. Die Palästinapolitik des SED-Staates, Berlin / Boston 2017.
[5] Vgl. Schweizerische Eidgenossenschaft, Interdepartementale Arbeitsgruppe "1970". Schlussbericht, www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/43938.pdf, abgerufen am 07.03.2017.
[6] Vgl. ebd., 153f.
[7] Dazu Maeke, DDR und PLO.
[8] Vgl. Marcel Gyr: Schweizer Terrorjahre: Brisante Hinweise aus den USA zum Fall "Würenlingen", in: NZZ, 15.09.2016, www.nzz.ch/schweiz/aktuelle-themen/schweizer-terrorjahre-brisante-hinweise-aus-den-usa-zum-fall-wuerenlingen-ld.116828, (15.09.2016); ders.: Schweizer Terrorjahre: Swissair-Absturz von 1970 in Würenlingen wird überprüft, in: NZZ, 05.07.2017, www.nzz.ch/schweiz/schweizer-terrorjahre-swissair-absturz-von-1970-in-wuerenlingen-wird-ueberprueft-ld.1304297, (05.07.2017).
[9] Vgl. PA-AA, Bestand MfAA, C 7.673, Schreiben des Generalkonsulates Kairo an das MfAA, 13.02.1969, Bl. 166.
[10] Vgl. Marcel Gyr: Schweizer Terrorjahre: Die Schweiz als Drehscheibe des globalen Terrorismus, in: NZZ, 10.03.2016, www.nzz.ch/schweiz/schweizer-terrorjahre-die-schweiz-als-drehscheibe-ld.150291, (11.03.2016).
Lutz Maeke