Michael Borgolte / Nikolas Jaspert (Hgg.): Maritimes Mittelalter. Meere als Kommunikationsräume (= Vorträge und Forschungen; Bd. LXXXIII), Ostfildern: Thorbecke 2016, 333 S., 18 Abb., ISBN 978-3-7995-6883-8, EUR 49,00
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Michael Borgolte und Nikolas Jaspert machen es spannend in ihrem theoretisch einführenden Einleitungsbeitrag des vorliegenden, auf eine Tagung des Konstanzer Arbeitskreises zu den Meeren als Kommunikationsräumen im Mittelalter zurückgehenden Sammelbandes. Wer könnte dieser "geistreiche [...] Essayist vor siebzig Jahren" (9) sein, wer dieser "Denker" (10), der scharfsinnige Überlegungen zur Natur des Menschen als Landwesen und Landtreter oder doch als meerbezogene Lebensform, als "Fischmensch" angestellt hat? "Sind wir Kinder des Landes oder der See?" (10) Schließlich lassen die Herausgeber die Katze aus ihrem Plettenberger Sack: Es war Carl Schmitt, "der Staatsrechtler" (10), ein kluger Mensch zweifellos - mit allerdings ebenso zweifellos unerträglichen Überzeugungen, die seiner wissenschaftlichen Anschlussverwertung bis heute im Wege stehen. Doch ist seine sehr grundsätzliche Frage nach Land oder See als Aufhänger für die Diskussion über die Rolle der Meere im Mittelalter gut gewählt. Denn sie öffnet die Perspektive für die hermeneutischen Herausforderungen, welche die Beschäftigung mit dem Meer bereithält, wenn man sich auf den Gedanken einlässt, dass nicht einfach eine große Menge Salzwasser ein Meer macht, sondern dass es menschliche Wahrnehmung, Erfahrung und Austausch, mithin die Kommunikation ist, welche das Meer als Raum erst schafft. Damit fordert das Meer in der modernen Geschichtswissenschaft mit ihrer Tendenz zur Globalgeschichte und "entangled history" ganz selbstverständlich seinen Platz, und es ist zu begrüßen, dass die Herausgeber die in der deutschen Mediävistik noch "vergleichsweise randständige" historische Meeresforschung (22) in den Fokus der Forschung rücken wollen. Es lässt freilich stutzen, wenn sie nach ihren sicherlich geistreichen, gedankenvollen und auf der Höhe der modernen Forschung befindlichen Überlegungen hinsichtlich der Ausrichtung des Bandes etwas kleinlaut eingestehen, dass sie erstens den Beiträgern "keinen engen Rahmen" (32) vorgegeben haben, so dass zweitens "das Novum der Tagung und des vorliegenden Bandes [...] vor allem der Gegenstand [ist], weniger eine vorgegebene Methodik oder Fragestellung" (33). Die folgenden Beiträge bestätigen dann leider alle Vorbehalte, die man angesichts dieser Expedition aufs offene Meer haben könnte: Interessant sind sie alle und verleihen dem Band in ihrer geographischen, inhaltlichen und methodischen Vielfältigkeit sowie ihrer beachtlichen Quellenfülle Handbuchcharakter für weitere Studien zum Thema Meer im Mittelalter. Nur fügen sie sich kaum zu einer konsistenten Einheit, der Band bleibt im Ergebnis so vage, wie der wenig konkrete Titel es befürchten lässt.
Jan Rüdiger widmet seinen erstaunlicherweise in der Vortragsfassung publizierten Beitrag der sehr grundsätzlichen und zentralen Frage nach mittelalterlichen Thalassokratien und der Möglichkeit einer Herrschaft zur See. Sein Beitrag zeigt freilich deutlich die Schwierigkeiten auf, eine Herrschaft zur See, die ohne nennenswerte Basis an Land auskommen soll, zu definieren und dann auch zu finden, was nicht nur ein Problem mangelnder Schriftquellen ist. Auch wenn er in Dänemark und Norwegen für die frühe Zeit thalassokratische Strukturen sieht, der Hanse und Venedig zumindest thalassokratische Anfänge zuzuschreiben bemüht ist, möchte man doch eher den Überlegungen Carsten Jahnkes zur Nordsee als verbindendem oder trennendem Element folgen, der herausstellt, dass auch die scheinbar thalassokratischen Herrschaften in diesem Bereich tatsächlich landgestützt waren, während das Meer eher Kommunikations- und Handelsraum war. Jahnkes Überlegungen zum modernen Begriff der "Nordsee", die abhängig vom Standpunkt des Beobachters eben auch eine Westsee sein kann, rufen zudem deutlich in Erinnerung, dass ein Meer und seine Bezeichnung eben nicht absolut sind, sondern von der auch geographischen Perspektive des Bezeichnenden abhängen. In diese Richtung gehen auch die Ausführungen von Jenny Rahel Oesterle zu den arabischen Darstellungen des Mittelmeers und Historiographie und Kartographie, die den Blick über den sozusagen klassischen Raum der europäischen Mittelalterforschung hinaus erweitern. Das Mittelmeer ist aus arabischer Perspektive mithin weder im geographischen noch ideellen Sinne ein Meer in der Mitte gewesen, wird aber von den arabischen Historio- und Kartographen mehr oder minder detailliert beschrieben, wobei sich die Intensität und Intention der Beschreibung mit der religiösen, politischen oder wirtschaftlichen ratio scribendi stark unterscheiden. Oesterles Ausführungen, die dem Anspruch des Bandes, Meere als Kommunikationsräume zu erschließen, gleichwohl nur wenig hinzufügen können, bieten nichtsdestoweniger einen kenntnisreichen und sehr willkommenen Einblick in die nicht nur aus sprachlichen Gründen in der europäischen Mittelalterforschung kaum rezipierten arabischen Geschichtswerke.
Ein zentrales Erkenntnisanliegen des Bandes ist die "Konnektivität", welche erst das Meer als Raum erschafft, indem es ihm den Status eines zu überwindenden "Dazwischen" verleiht. Sebastian Kolditz versucht sich in Abgrenzung zur Meistererzählung Fernand Braudels mit großem methodisch-theoretischen Geschütz an den "Horizonten maritimer Konnektivität", die er vor allem an den Wirtschaftsquellen des späteren Mittelalters aufzeigen möchte. Ein hermeneutischer Mehrwert, der über die unbezweifelten Errungenschaften der Handels- und Wirtschaftsgeschichte hinausginge, bleibt freilich etwas vage, so dass der Wert des Ansatzes eher in der Schaffung eines begrifflichen Instrumentariums und hermeneutischer Kategorien zur Beschreibung kommunikativer Zustände auf dem und am Meer liegt. In diese Perspektive lassen sich dann auch die ebenfalls quellensatten Studien von Michel Balard und Nils Blomqvist einschreiben, wobei Balard seine bekannten und einflussreichen Studien zum Schwarzen Meer und zum Schwarzmeerhandel aufnimmt, der von den italienischen Seerepubliken und deren Handel mit den Monogolen und China dominiert wurde. Nils Blomqvist widmet seine Studie der Rolle der Ostsee als einem Ort intensiver Konnektivität zwischen den Anrainerstaaten, welchem er die Rolle eines "another Mediterranean" (232) zuerkennt. Er legt zudem nahe, das Wirken der Hanse in der Ostsee als "a thalassocraty of sorts" (230) zu sehen. Georg Christ, der als Ersatzreferent eingeladen war, untersucht die Auswirkungen des päpstlichen Handelsembargos von 1308 gegen die arabischen Länder auf den Mittelmeerhandel. Sein Ergebnis, wonach das Embargo im Kontext des letztlich gescheiterten Kreuzzugsprojekts Clemens' V. zu verorten ist und weniger einer politischen Kausalität in der Auseinandersetzung mit Venedig folgte, ist zwar ohne jeden Zweifel für die politische Geschichte des frühen 14. Jahrhunderts interessant, doch bleibt der Autor eine mehr als nur zufällige Verzahnung seiner Ausführungen mit dem Konzept des Bandes schuldig.
Die Beiträge von Benjamin Scheller und Annette Schmiedchen erweitern den Blick noch einmal weit über die klassischen Interessenräume europäischer, zumal nordeuropäischer Mediävistik hinaus, indem sie sich der Atlantikexpansion der Europäer, zumal der Fernhändler im Spätmittelalter und der mittelalterlichen Kommunikation im Indischen Ozean zuwenden. Benjamin Scheller liefert einen faszinierenden Einblick in die Handelsbeziehungen und die Fremdheitserfahrungen italienischer Händler in Afrika, welcher zwar die spezifische Rolle des Meeres kaum thematisiert, aber weiterführende und traditionelle Positionen zum Wirken und Wesen der Vertreter europäischer Kulturen in Afrika auf den Prüfstand stellt. So waren die Italiener im Sinne erfolgreicher Geschäfte an guten und freundschaftlichen Beziehungen zu den afrikanischen Herrschern interessiert, die, auch im Sklavenhandel, selbst von den Aktivitäten der europäischen Kaufleute profitierten. Annette Schmiedchens Aufsatz zur Konnektivität im Indischen Ozean im Mittelalter bestätigt die Beobachtungen zum europäischen Raum, wonach zunächst Händler und Kaufleute an transmariner Konnektivität interessiert waren und eine entsprechende maritime Infrastruktur schufen, die in der Folge dann auch religiöse und unternehmerisch-handwerkliche Interessen anzog.
Der Beitrag von Ruthy Gertwagen untersucht aus meeresarchäologischer Perspektive die physischen Überreste mittelalterlicher Schiffe im Mittelmeer und liefert so einen sehr willkommenen Einblick in die schiffsbaulichen Bedingungen von Kommunikation, Krieg und Handel im mare nostrum.
Die Zusammenfassung von Daniela Rando steht merklich vor dem Problem, diesen methodisch und auch inhaltlich sehr weitgespannten Beiträgen eine Synthese abzuringen und Ergebnisse zu formulieren, welche über die letztlich recht schlichte Erkenntnis hinausgehen, dass Meere Kommunikationsräume gewesen sind. Besonders zu danken ist ihr dafür, mit der Rechtsgeschichte eine schmerzliche Leerstelle des Bandes auf den letzten Metern zumindest noch aufgerufen zu haben (310f.).
"Souverän ist, wer über die Wellen des Raumes verfügt". Der "geistreiche Essayist" (9) scheint damit den etwas disparaten Eindruck dieses lesenswerten Bandes geradezu vorwegzunehmen, der für weitere Forschungen zum Thema zumal im deutschen Raum sicherlich Bedeutendes leisten wird, der aber hinter seinem hohen Anspruch gleichwohl etwas ratlos zurückbleibt und zu einer weiterführenden hermeneutischen Perspektive nicht finden will.
Der Band wird durch ein Personen- und Ortsregister erschlossen und präsentiert sich dem Leser in gewohnt zuverlässigem Lektorat.
Kerstin Hitzbleck