Yvonne Kleinmann / Achim Rabus (Hgg.): Aleksander Brückner revisited. Debatten um Polen und Polentum in Geschichte und Gegenwart (= Polen: Kultur - Geschichte - Gesellschaft; Bd. 1), Göttingen: Wallstein 2015, 235 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1771-0, 34,90
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Jürgen Heyde / Karsten Holste / Dietlind Hüchtker u.a. (Hgg.): Dekonstruieren und doch erzählen. Polnische und andere Geschichten (= Polen: Kultur - Geschichte - Gesellschaft; Bd. 2), Göttingen: Wallstein 2015, 360 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1772-7, EUR 39,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Magdalena M. Wrobel Bloom: Social Networks and the Jewish Migration between Poland and Palestine, 1924-1928, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2016
Tomasz Kizwalter: Über die Modernität der Nation. Der Fall Polen. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann. Mit einer Einführung von Ruth Leiserowitz , Osnabrück: fibre Verlag 2013
Stephan Krause / Christian Lübke / Dirk Suckow (Hgg.): Der Osten ist eine Kugel. Fußball in Kultur und Geschichte des östlichen Europa, Göttingen: Die Werkstatt 2018
Jörg Hackmann / Marta Kopij-Weiß: Nationen in Kontakt und Konflikt. Deutsch-polnische Beziehungen und Verflechtungen 1806-1918, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2014
Johannes Frackowiak (Hg.): Nationalistische Politik und Ressentiments. Deutsche und Polen von 1871 bis zur Gegenwart, Göttingen: V&R unipress 2013
Yvonne Kleinmann (Hg.): Kommunikation durch symbolische Akte. Religiöse Heterogenität und politische Herrschaft in Polen-Litauen, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010
Karsten Holste / Dietlind Hüchtker / Michael G. Müller (Hgg.): Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure - Arenen - Aushandlungsprozesse, Berlin: Akademie Verlag 2009
Das bei den Universitäten Halle und Jena angesiedelte Aleksander-Brückner-Zentrum für Polenstudien, benannt nach dem in Wien, Leipzig und dann lange in Berlin tätigen Slawisten (1856-1939), hat im Herbst 2013 seine Arbeit aufgenommen. Zwei Jahre später sind die beiden ersten Bände einer vom Institut herausgegebenen Buchreihe erschienen, die insbesondere erkunden soll, "was im einzelnen Fall polnische Gesellschaft und Kultur(en) ausmachte bzw. ausmacht" (7). Entsprechend umfassend präsentieren sich die beiden Publikationen hinsichtlich der behandelten Themen, wenn sie sich auch in ihrer methodischen Herangehensweise deutlich voneinander unterscheiden: Während "Aleksander Brückner revisited" eine konventionelle Sammlung wissenschaftlicher Beiträge darstellt, verfolgen Jürgen Heyde, Karsten Holste, Dietlind Hüchtker, Yvonne Kleinmann und Katrin Steffen als Herausgebende von "Dekonstruieren und doch erzählen" einen ungewöhnlichen Weg. Sie lassen die Autor/inn/en in 43 Kurzbeiträgen aus der Geschichte Polens - wie im Buchtitel versprochen - "erzählen". Entstanden ist dabei ein farbenfrohes Mosaik, das nicht, um im Bild zu bleiben, durch einen methodischen Untergrund, sondern durch die offenkundige Freude der Beiträger/innen, freier formulieren zu können, als ansonsten im akademischen Diskurs üblich, zusammengehalten wird.
Der von Kleinmann und Achim Rabus herausgegebene revisited-Band dokumentiert die Beiträge einer 2014 abgehaltenen Tagung zu Diskursen um Polonität in Geschichte und Gegenwart, die insbesondere an die interdisziplinäre Komponente in Brückners Schaffen anknüpfen. Auf seiner 1882 angetretenen Berliner Slawistikprofessur verband er philologische, historische, archäologische und namenkundliche Fragestellungen, was sich nicht zuletzt in einer intensiven Publikationstätigkeit niederschlug, die neben mehreren Literatur- und Sprachgeschichten auch Wörterbücher und Quelleneditionen hervorgebracht hat.
Biografische Aspekte werden in dem ersten von drei Teilabschnitten des Bandes elegant mit wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellungen verbunden: In ihrer Einleitung geben Kleinmann und Rabus einen Überblick über die Brückner-Forschung und kommen dabei auch immer wieder auf dessen Lebensweg zu sprechen. Michael G. Müller beschreibt Brückner als einen Gelehrten, der wohl nicht als ein Vermittler zwischen polnischer und deutscher Wissenschaftssphäre angesehen werden sollte, sondern sich angesichts des Drucks, sich in den 1910er und 1920er Jahren politisch positionieren zu müssen, eher "in zwei akademischen Parallelwelten bewegt" habe (47). Wie sich der bei Brückner zu beobachtende Ansatz, in philologische Fragestellungen historische Zusammenhänge und historiografische Methoden derart umfangreich einzubeziehen, dass beide Disziplinen fast gleichberechtigt nebeneinanderstehen, in der heutigen Wissenschaftswelt umsetzen lässt, zeigt David Frick anhand seines eigenen Werkes. Gerade bei seinen Forschungen zu Wilna im 17. Jahrhundert [1] sei ihm nicht immer klar gewesen, ob er gerade als Historiker oder Philologe agiere. Zwei weitere Beiträge beschließen diesen biografischen Abschnitt, indem sie einzelne Aspekte aus Brückners Werk dahingehend untersuchen, in welcher Weise dort "Polonität" analysiert wird. Rabus vergleicht mehrere Auflagen des Werks Dzieje języka polskiego (Geschichte der polnischen Sprache), und Kleinmann befasst sich mit Brückners Analyse der polnischen Verfassungsreform von 1791.
Der zweite Abschnitt "Brückner als Sprachwissenschaftler - Sprachwissenschaft nach Brückner" fällt mit zwei Beiträgen (zum Begriff kobieta (Frau) von Marek łąziński und über kulturelle Selbstbeschreibungen kleinpolnischer Dorfbevölkerung von Anna Piechnik) sehr knapp aus. Der dritte Abschnitt über "Polonität und andere (Selbst-)Zuschreibungen" bezieht schließlich literatur-, sprach- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen auf einzelne Regionen beziehungsweise Bevölkerungsgruppen, die sich einem geografisch umfassend verstandenen Polen zuordnen lassen beziehungsweise mit diesem in Beziehungen stehen: Lemken, Juden, Russinen sowie Polen in der Ukraine. Hinzu kommt ein Beitrag von Mirja Lecke, die in Russland entstandene oder von Russland handelnde Werke Adam Mickiewicz' auf darin zum Ausdruck kommende Varianten von polnischer Identität hin untersucht. Ihr Verweis darauf, "in welch hohem Maße seine Polonität kontextabhängig war und ist" (140), lässt sich ohne weiteres auf die übrigen Aufsätze aus diesem Abschnitt übertragen. So erkennt Olena Duć-Fajfer hinsichtlich der Lemken eine für "Kulturlandschaften in Grenzregionen" typische "hybride Dynamik" (191), und den Russinen sei es Agnieszka Halemba zufolge in den beiden zurückliegenden Jahrhunderten gelungen, "to see the world not through but around the national lens" (217).
Die zahlreichen Beiträge aus Band 2 lassen sich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen. Vorgaben scheint es nur hinsichtlich des Umfangs gegeben zu haben, denn thematisch werden nicht nur alle erdenklichen Epochen und Ereignisse der Geschichte Polens berührt, sondern in etwa jedem vierten Beitrag auch gänzlich andere Bereiche wie das Massaker an Indianern am Sand Creek 1864 (Cornelius Torp), "Gedanken zu einer Geschichte der Nacht" (Burkhard Schnepel) oder "Verkürzte Vorbemerkungen zu einer Frühgeschichte der Quantenphysik" (Dirk H. Müller) thematisiert. Einige übergreifend ausgerichtete historiografische Beiträge (zum Beispiel von Manfred Hettling oder Heinz Reif) wiederum lassen sich immerhin auch auf die Geschichte Polens anwenden. Da es gelungen ist, einen bedeutenden Teil derjenigen, die in der deutschen und polnischen Geschichtswissenschaft Rang und Namen haben, für die Teilnahme zu gewinnen, bietet das Kompendium über weite Strecken eine kurzweilige Lektüre. Es schließt mit der Polemik "Sammeln Sie Punkte?" von Miloš Řezník über Bewertungskriterien für Publikationen in Ostmitteleuropa. Der Verfasser behandelt darin eloquent die über allem schwebende Frage, ob man mit dem, was auf den 350 Seiten zuvor dargelegt worden ist (und in vielen Fällen als kompletter Aufsatz mit regulärem Anmerkungsapparat auch in einer wissenschaftlichen Zeitschrift eine gute Figur abgegeben hätte), überhaupt noch irgendjemanden wissenschaftlich anregen kann, oder ob es nur noch darum geht, für Rankings zu "punkten und beeindrucken" (355). Dem Aleksander-Brückner-Zentrum wird es in der Zukunft hoffentlich gelingen, abseits von Evaluierungsvorgaben und Bibliometrie innovative Forschung zu betreiben. Dass die Verantwortlichen dabei auch ungewöhnliche Perspektiven einzunehmen bereit sind, haben sie mit den beiden vorliegenden Bänden angedeutet.
Anmerkung:
[1] David Frick: Kith, Kin, and Neighbors. Communities and Confessions in Seventeenth-Century Wilno, Ithaca / London 2013.
Christoph Schutte