Stephan Krause / Christian Lübke / Dirk Suckow (Hgg.): Der Osten ist eine Kugel. Fußball in Kultur und Geschichte des östlichen Europa, Göttingen: Die Werkstatt 2018, 489 S., 180 Abb., ISBN 978-3-7307-0388-5, EUR 29,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Johannes Gießauf / Walter M. Iber / Harald Knoll (Hgg.): Fußball, Macht und Diktatur. Streiflichter auf den Stand der historischen Forschung, Innsbruck: StudienVerlag 2014
Hannah Jonas: Fußball in England und Deutschland von 1961 bis 2000. Vom Verlierer der Wohlstandsgesellschaft zum Vorreiter der Globalisierung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019
Gregor Hofmann: Mitspieler der "Volksgemeinschaft". Der FC Bayern und der Nationalsozialismus, Göttingen: Wallstein 2022
Gretel Bergmann: "Ich war die große jüdische Hoffnung". Erinnerungen einer aussergewöhnlichen Sportlerin, 2., erweiterte Auflage, Heidelberg / Ubstadt-Weiher / Basel: verlag regionalkultur 2015
Wolfram Pyta / Nils Havemann (eds.): European Football and Collective Memory, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2015
Christian Lübke: Fremde im östlichen Europa. Von Gesellschaften ohne Staat zu verstaatlichten Gesellschaften (9.-11. Jahrhundert), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2001
Matthias Hardt / Christian Lübke / Dittmar Schorkowitz (eds.): Inventing the Pasts in North Central Europe. The National Perception of Early Medieval History and Archaeology, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2003
Nachdem zunächst die Ukraine und Polen 2012 gemeinsam die Fußball-Europameisterschaft ausgerichtet hatten, fand 2018 in Russland die Fußball-Weltmeisterschaft statt. Erstmals wurde das östliche Europa zum Austragungsort der beiden weltweit bedeutendsten Fußballturniere (abgesehen vielleicht von der Copa América) überhaupt. Das Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa in Leipzig (GWZO) nahm diese sportpolitischen Entscheidungen zum Anlass, auf Grundlage von Beiträgen einer bereits 2010 abgehaltenen Tagung zu "Ostmitteleuropäischen Facetten des Massenphänomens Fußball" einen Sammelband zusammenzustellen.[1] Auch zahlreiche Gespräche zwischen den Herausgebern Stephan Krause, Christian Lübke und Dirk Suckow über das "Erscheinungsbild [des Fußballs] im östlichen Europa und seine Geschichte und Geschichten sowie immer wieder auch [...] seine Darstellung in Wissenschaft, Literatur und Kunst" (20) seien eingeflossen. So verwundert es nicht, dass der Band keiner eng umrissenen Fragestellung folgt, sondern ein breites Panorama bietet. Dies gilt zunächst einmal für die behandelten Gebiete, die neben Ostmitteleuropa im engeren Sinne auch Jugoslawien, die Ukraine und Russland bzw. die UdSSR umfassen.
Auch hinsichtlich der formalen und äußeren Gestaltung waren die Herausgeber auf Vielfalt bedacht. Zwischen den einzelnen wissenschaftlichen Beiträgen sind Lyrik- und Prosatexte mit Fußballbezug eingefügt; jeweils sowohl in der Originalsprache als auch in (zumeist hier erstmals veröffentlichter) deutscher Übersetzung. Zudem ist der Band eindrucksvoll bebildert. Kunstwerke sind überwiegend in einem Format reproduziert, das auch Details klar erkennen lässt, und einige Bilderserien fesseln unwillkürlich die Aufmerksamkeit: Seien es die auf Seite 482 f. in stets identischem Blickwinkel abfotografierten Trainerbänke, die sich allerdings in Deutschland zu befinden scheinen, oder eine Collage aus Fotografien von Stadionbeleuchtungen (478 f.). Letzteren ist als Text eine "kleine Typologie des Flutlichtmasts im östlichen Europa" (Suckow, Krause) beigegeben, die sich auf die Erinnerungskultur konzentriert und architektonische Aspekte (leider) weitestgehend ausspart. Ganz ohne Frage ist in dieser Hinsicht ein Buch entstanden, das man allein schon deswegen immer wieder gern zur Hand nehmen wird, um das Bildmaterial auf sich wirken zu lassen. Die Erstellung eines Orts- und Personenregisters wäre allerdings sinnvoll gewesen, da sich insbesondere über Sportler und Spielstätten Querbezüge zwischen den einzelnen Beiträgen ergeben. Dass, wie die Herausgeber selbst mit Bedauern einräumen (Seite 21, Anmerkung 1), der Frauenfußball überhaupt keine Rolle spielt, ist natürlich ein Manko. Der Hang der Herausgeber zu Wortspielen (das Vorwort ist zusätzlich "Wimpeltausch" überschrieben, und die literarischen Einschübe werden jeweils "Seitenwechsel" genannt) ist hingegen Geschmackssache, in der Fußball-Historiografie aber nicht unüblich.[2]
Zwar sind die Beiträge nicht in thematische Abschnitte eingeteilt, aber es lassen sich einige Schwerpunkte ausmachen. Es finden sich drei biografische Beiträge, die sich mit Lew Jaschin (Dietrich Schulze-Marmeling), Ernst Willimowski (Diethelm Blecking) und Ferenc Puskás (Robert Born) befassen. Alle drei Protagonisten werden nicht nur als Sportler, sondern auch als Personen des öffentlichen Interesses dargestellt, wobei Puskás zusätzlich auch als Projektionsfläche für geschichtspolitische Konzepte näher in den Blick genommen wird. Zweitens werden recht unterschiedliche Fallbeispiele für künstlerische Reflexionen des Fußballsports präsentiert. Marina Dmitrieva stellt Leben und Werk des fußballaffinen russischen Malers Aleksandr Dejneka (1899-1969) vor. Die Darstellung des Fußballs in sowjetischen Spielfilmen aus der Stalin-Ära dekodiert Irina Gradinari als "Spektakel des Männlichen" sowie "Gewaltmoment des Kollektivs über die Individuen" (153). Nicht ganz so negativ konnotiert, aber dennoch problematisch, entwickelte sich die Erinnerung in Literatur und Film an das als "Goldene Mannschaft" berühmt gewordene ungarische Nationalteam, dessen Höhenflug mit der Niederlage gegen die Bundesrepublik Deutschland im WM-Finale von Bern 1954 jäh gestoppt wurde. Péter Fodor rekapituliert minutiös Manipulationen von Filmmaterial über die Goldene Mannschaft in den nachfolgenden Jahren - einige Spieler, darunter Puskás, hatten das sozialistische Ungarn zum großen Unmut der Regierung verlassen.
Am stärksten geprägt wird der Band drittens durch die Kategorie "Raum". Architektonische und stadtplanerische Aspekte werden für die Fallbeispiele Moskau-Lužniki (Alexandra Köhring) und Riga (Andreas Fülberth) näher in den Blick genommen. Einen anderen Zugriff auf die urbane Topografie wählt der Beitrag "Die Stadt als Spielfeld", in dem Michael G. Esch die Hooligan-Szene in Polen in Hinblick auf deren Vereinnahmung des städtischen Raumes, in der er "in gewissem Sinne die symbolische Kontrolle über den eigenen Wohnbereich" (275) erkennt, analysiert. Topografische Aspekte im weitesten Sinne durchziehen zudem den programmatischen Einleitungsaufsatz "Der Osten ist eine Kugel. Östliches Europa, Fußball, Raum, kulturelle Ikonen", in dem Krause und Suckow mittels einer "kulturhistorische[n] Perspektivierung [...] dem literarisierten, fiktionalisierten Raum des Fußballs" nachspüren (64) und sich dabei, ausgehend von dem 1927 erstmals ausgespielten Mitropa-Cup, insbesondere mit Ungarn befassen. Hier, wie auch im Beitrag von Christian Koller zu den fußballerischen Beziehungen zwischen der Schweiz und den Donau-Anrainerstaaten, wird als Keimzelle eines spezifisch "ostmitteleuropäischen" Fußballs (und implizit als Legitimation der wissenschaftlichen Beschäftigung damit) der Calcio Danubiano der Zwischenkriegszeit identifiziert, dem die Nationalmannschaften Österreichs, Ungarns und der Tschechoslowakei zugerechnet werden.
Zu fragen wäre abschließend, wie tragfähig die geografische Ausrichtung des Bandes unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten wirklich ist. Immerhin suggerieren die Herausgeber mit dem von ihnen gewählten (und offenbar, vergleiche Seite 67, auch selbst erdachten) Buchtitel, dass der Westen eben keine Kugel ist, in fußballerischer Hinsicht also einer (in welcher Weise auch immer) anders auszuweisenden Kategorie zuzuordnen sei. Die Beiträge selbst liefern zu dieser Frage keine expliziten Hinweise. Erwähnt werden als Besonderheiten der behandelten Region die sehr frühe Einführung des Profifußballs (in Österreich bereits 1924), weswegen zum Beispiel Klubs aus dem Deutschen Reich, wo nach offizieller Lesart alle Fußballer Amateure waren, die Teilnahme am Mitropa-Cup untersagt wurde, oder eben der zeitgenössische Begriff des Calcio Danubiano. Dieser stand für eine elegante, technisch ausgereifte Ballbehandlung und widersprach der robusten, einem wenig kreativen kick and rush verpflichteten Spielweise insbesondere englischer Teams. Aber ist damit das Wesen des Fußballs im "Osten" grundsätzlich von dem im "Westen" zu unterscheiden? In ihrer Summe zeigen die Beiträge zwar für die Jahrzehnte nach 1945 den autoritären Einfluss der (allesamt in Osteuropa gelegenen) sozialistischen Regime auf Vereine und auf einzelne Fußballer (besonders augenfällig bei Puskás), näher eingegangen wird auf einen möglichen Gegensatz zwischen "Westen" und "Osten" aber an keiner Stelle des Bandes. Es ist vielmehr ein anregendes und ansehnliches Sammelwerk (zu einem erfreulich günstigen Preis) entstanden, dessen area studies sich keinem komparativen Ansatz verpflichtet sehen, aber dennoch zu Vergleichen mit dem westlichen Europa einladen.
Anmerkungen:
[1] Auch eine russischsprachige Ausgabe liegt vor unter dem Titel: "Vratar', ne sujsja za štrafnuju". Futbol v kul'ture i istorii Vostočnoj Evropy. Sbornik statej ["Torwart, verwische den Strafraum nicht". Fußball in Kultur und Geschichte des östlichen Europa. Aufsatzsammlung], Moskva 2018.
[2] Vgl. die mehrbändige Aufsatzsammlung von Dittmar Dahlmann (Hg.): Überall ist der Ball rund. Zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa, Essen 2006, 2008, 2011, mit den Untertiteln "Die zweite Halbzeit" (Bd. 2) und "Nachspielzeit" (Bd. 3).
Christoph Schutte