Johannes Gießauf / Walter M. Iber / Harald Knoll (Hgg.): Fußball, Macht und Diktatur. Streiflichter auf den Stand der historischen Forschung (= Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz - Wien - Klagenfurt; Bd. 22), Innsbruck: StudienVerlag 2014, 403 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-7065-5259-2, EUR 39,90
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Schon während der Gruppenphase der Fußball-WM in Brasilien wurden zahlreiche TV-Einschaltquoten-Rekorde gebrochen: Fußball ist ein Milliardengeschäft und begeistert unzählige Menschen weltweit. [1] Historisch gesehen, so die Herausgeber des Sammelbands "Fußball, Macht, Diktatur", stehen sportliche Großereignisse allerdings nicht selten im Schatten der Politik (9), was nicht nur Olympiaboykotte zu Zeiten des Kalten Kriegs, sondern auch aktuelle Debatten um die Vergabe der WM 2022 an Katar belegen. [2] Grund genug für Johannes Gießauf, Walter M. Iber und Harald Knoll, sich dem "ambivalenten und komplexen Beziehungsgeflecht Fußball, Macht und Diktatur" ausführlich zu widmen (9).
Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis einer Tagung, die vom Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung gemeinsam mit dem Institut für Geschichte der Universität Graz 2012 veranstaltet wurde. Inhaltlicher Ausgangspunkt war das Forschungsprojekt "Der Steirische Fußball und seine Traditionsvereine in der NS-Zeit", das vom Boltzmann-Institut seit 2011 in Zusammenarbeit mit dem Steirischen Fußballverband durchgeführt wird. Diese Zusammenarbeit zwischen Sportvereinen und wissenschaftlichen Institutionen ist nicht neu: In Auftrag gegeben vom Deutschen Fußball-Bund erschien 2005 etwa die breit diskutierte Studie aus der Feder von Nils Haveman mit dem Titel "Fußball unterm Hakenkreuz". [3] Dieses Interesse an der eigenen Vereinsgeschichte und speziell auch am Gebaren und Wirken während der NS-Zeit ist nicht auf den Bereich Fußball beschränkt: 2011 wurde ein voluminöses Werk über die Vereinsgeschichte des deutschen, österreichischen und südtiroler Alpenvereins herausgeben, das sich explizit auch mit dem Ausschluss jüdischer, sozialdemokratischer und kommunistischer Bergsteiger und Bergsteigerinnen sowie Aspekten politischer Anbiederung an das NS-Regime widmete [4]; weiterführende Forschungsprojekte sind in Arbeit. Auch im Bereich Fußball ist das Interesse an der Aufarbeitung der NS-Zeit nicht abgeklungen. Sammelbände wie "Hakenkreuz und rundes Leder" oder Studien zur Geschichte von Traditionsvereinen wie dem österreichischen SK Rapid in der Zeit zwischen 1938 und 1945 folgten Havemanns Pionierstudie. [5]
Aufbauend auf der bisherigen Forschungsliteratur will "Fußball, Macht und Diktatur" nun "Streiflichter auf den Stand der bisherigen Forschung" präsentieren. Dabei beschränken sich die 18 Beiträge nicht auf die NS-Zeit: Gleich der erste Beitrag Peter Mauritschs widmet sich Sporttreiben und -veranstaltungen in der Antike, Johannes Gießauf schildert die Entstehungsgeschichte des Fußballs aus diversen europäischen Sportarten. Trotz dieses Versuchs der Erweiterung der zeitlichen Perspektive bleibt aber auch von den Herausgebern unbestritten, dass gerade die Phase der Entwicklung des Fußballs vom elitären Sport des Bürgertums zu einem Massenphänomen nach dem Ersten Weltkrieg die Weichen für ein neues Verständnis des Ballsports legte. Sämtliche Gesellschaftsschichten Kontinentaleuropas wurden erfasst, nach der politischen Zäsur 1918 erlaubte die neue Sozialgesetzgebung (Achtstundentag etc.) nun auch der Arbeiterschaft Freizeitaktivitäten (15).
Ist das 20. Jahrhundert auf zeitlicher Ebene Schwerpunkt des Sammelbands, so liegt der Fokus auf geografischer Ebene auf dem Sport- und Vereinswesen in Österreich. Nicht nur, aber gerade auch in Österreich, so etwa Gilbert Norden in seinem Beitrag, war die Entwicklung des modernen Sports im 19. und frühen 20. Jahrhundert eng mit der Geschichte von Staat und Gesellschaft verbunden. Norden fokussiert vor allem auf das aufkeimende Vereinswesen in den beginnenden 1880er Jahren, das er nach Sportarten und gesellschaftlicher Standeszugehörigkeit sowie nach ideologisch-politischer und religiöser Ausrichtung differenziert betrachtet (68 f.). Gerade im Sport und in den Sportverbänden manifestierten sich eindrücklich nationale und politische Konflikte, kamen Ein- und Ausschlusskategorien zum Tragen. Schon 1887 führte etwa der Erste Wiener Turnverein den "Arierparagraphen" ein (71). Spätestens in den 1920er Jahren habe man auch die gesellschaftspolitische Funktion des Fußballs erkannt. Fußballvereine erfuhren eine verstärkte Ideologisierung und Verpolitisierung, erläutert Werner Drobesch in seinem Beitrag zu Fußballvereinen im so genannten "Ständestaat" in Österreich (259).
Fallstudien zu den Vereinsgeschichten einzelner Klubs wie FK Austria (David Forster) und SK Rapid (Jakob Rosenberg) fokussieren speziell auf den österreichischen Fußball in der NS-Zeit, besonders auf das Schicksal der nach dem "Anschluss" Österreichs ausgeschlossenen und vertriebenen jüdischen Spieler. Auch die Handlungsoptionen der Vereine unter dem NS-Regime werden in den Blick genommen. Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit nach 1945, die Forster für die Austria als Einnahme einer "eindimensionalen Opferrolle" beschreibt (302), wird ebenfalls beleuchtet. Besonders intensiv, sowohl in ideologischer Hinsicht als auch aus politisch-ökonomischen Beweggründen, sei die Verquickung von Fußball und Regime aber auch in der Steiermark gewesen (Iber und Knoll, 342).
Neben der Dekonstruktion von diversen großen Fußball-Erzählungen und -Mythen wie etwa dem "Regenspiel" von Frankfurt bei der WM 1974 oder dem "Kiewer Todesspiel" 1942 (Thomas Urban), erzählt der Band nicht nur bisher wenig Bekanntes über die Länderspielgeschichte der "anderen österreichisch-deutschen Fußballkonkurrenz" (Maximilian Graf), sondern gibt auch einen Ausblick auf die Geschichte des sowjetischen Fußballs (Michail Prozumenščikov), die Verknüpfung von Sport und Faschismus in Italien (Claudio Miozzari) sowie die Repression katalanischer (Fußball-)Identität am Beispiel des FC Barcelona in Spanien unter General Franco (Christian Eberle).
Trotz des Versuchs der Ausweitung des geografischen Blickwinkels bleibt der Band inhaltlich eng an die österreichische Sportgeschichte gebunden. Dies ist indes nicht als Manko zu verstehen, eine Präzisierung im Titel wäre aber von Vorteil gewesen. Nichtsdestotrotz bietet der vorliegende Sammelband eine profunde und gut lesbare Einführung in das spannungsreiche Wechselverhältnis zwischen Fußball und Diktaturen sowie der Politik im Allgemeinen.
Anmerkungen:
[1] Vgl.
[2] Vgl.
[3] Vgl. Nils Haveman: Fußball unterm Hakenkreuz. Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz, Frankfurt am Main / New York 2005.
[4] Vgl. Martin Archrainer (Hg.): Berg heil! Alpenverein und Bergsteigen 1918-1945, Köln u.a. 2012.
[5] Vgl. Lorenz Pfeiffer / Dietrich Schulze Marmeling (Hgg.): Hakenkreuz und rundes Leder. Fußball im Nationalsozialismus, Göttingen 2008; Jakob Rosenberg / Georg Spitaler: Grün-weiß unterm Hakenkreuz. Der Sportklub Rapid im Nationalsozialismus (1938-1945), Wien 2011.
Ina Markova