Rezension über:

Hannah Jonas: Fußball in England und Deutschland von 1961 bis 2000. Vom Verlierer der Wohlstandsgesellschaft zum Vorreiter der Globalisierung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, 314 S., ISBN 978-3-525-37086-5, EUR 60,00
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Rezension von:
Nils Havemann
Historisches Institut, Universität Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Nils Havemann: Rezension von: Hannah Jonas: Fußball in England und Deutschland von 1961 bis 2000. Vom Verlierer der Wohlstandsgesellschaft zum Vorreiter der Globalisierung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 10 [15.10.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/10/34151.html


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Hannah Jonas: Fußball in England und Deutschland von 1961 bis 2000

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In Rezensionen über Studien zur Geschichte des Fußballs ist häufig die Bemerkung zu lesen, dieses Themengebiet boome seit der Jahrtausendwende in Deutschland. Die tatsächlich vorhandene Flut an historiographischen Untersuchungen zu diesem Sport erstreckte sich zunächst vorwiegend auf die Zeit des Nationalsozialismus. Mittlerweile ist aber auch das Interesse an den Jahrzehnten zuvor und danach erheblich gestiegen.

Dennoch verdient die vorliegende Dissertation von Hannah Jonas das Prädikat Pionierstudie. Sie nimmt die Entwicklung dieses Sports von den 1960er Jahren bis zur Jahrtausendwende in den Blick und richtet dabei den Fokus gleich auf zwei Länder, wagt also den Versuch einer vergleichenden Analyse, um dadurch transnationale Dynamiken in westeuropäischen Industrieländern beleuchten zu können: in England, dem "Mutterland" des Fußballs, und in Westdeutschland. Selbstredend geht es der Autorin nicht einmal am Rand um Tore, Tabellen und Trophäen, die in unendlich vielen, reich bebilderten Fanbüchern bereits zu Genüge dokumentiert wurden. Vielmehr ist für sie die Geschichte des Fußballs ein ideales Spielfeld, auf dem sich sozio-ökonomische Wandlungsprozesse nach dem "Ende des Booms" zeigen lassen, nachdem 1950er Jahre und 1960er Jahre von einem bemerkenswerten wirtschaftlichen Aufschwung gekennzeichnet waren. Jonas geht dabei von der begründeten Annahme aus, dass der Fußballsport als Konsumprodukt und Medienereignis gesamtgesellschaftliche Entwicklungen besonders gut veranschaulichen kann. Bei diesem Ansatz ist es nur plausibel, dass für die Zeit bis 1990 der Fußballsport in der DDR, der den marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten des Westens weitgehend entzogen war, nicht beleuchtet wird. In diesem Rahmen lautet die These der Autorin, dass der Fußballsport "vom Verlierer der Wohlstandsgesellschaft zum Motor einer kommerzialisierten und globalisierten Unterhaltungskultur" geworden sei (15).

Jonas nähert sich ihrem Thema in vier Teilen. Der erste, in dem sie die Entwicklungen des Fußballsports in beiden Ländern vor 1960 referiert, ist der mit Abstand kürzeste. Da sie sich hierbei lediglich auf die Sekundärliteratur stützt, geraten die Ausführungen dazu zwangsläufig ein wenig holzschnittartig. Jedenfalls kommt der vermeintliche Gegensatz zwischen England, wo sich der Fußball vom "Elite-Sport zum Arbeitervergnügen" (29) gewandelt habe, und Deutschland, wo er ein "Angestellten-Spiel" gewesen sei und eine starke "Ideologisierung" (34) erfahren habe, der viel komplexeren Wirklichkeit nicht nahe. Die Fragwürdigkeit solcher vereinfachenden Zuschreibungen ergibt sich auch aus der Tatsache, dass zuverlässige Zahlen über die soziale Zusammensetzung von Vereinen und Anhängerschaften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum zur Verfügung stehen.

Im zweiten Teil beschreibt die Autorin hingegen überzeugend, wie dieser Sport in den 1960er und 1970er Jahren in beiden Ländern langsam, aber stetig an Attraktivität einbüßte. Jonas arbeitet hierfür zahlreiche Gründe heraus (u. a. amateurhafte Strukturen in vielen Vereinen und damit einhergehend ihre wachsende Verschuldung). Zu Recht betont sie als zentrale Faktoren den Siegeszug des Fernsehens, der zu einer "Verhäuslichung" (56) des Fußballkonsums beitrug, und die Verbreitung des Automobils, das neue Möglichkeiten der Freizeitgestaltung eröffnete. Dadurch verloren viele Anhänger die Lust am Stadionbesuch, zumal die lange vor dem Zweiten Weltkrieg gebauten Arenen hinsichtlich ihres Komforts nicht mehr den Ansprüchen genügten, den die im Boom gewachsenen Wohlstandsgesellschaften an sie stellten. Selbst die Modernisierung einiger Stadien im Zuge der Weltmeisterschaften 1966 in England und 1974 in der Bundesrepublik konnte nicht verhindern, dass der Verdruss über nichtüberdachte Plätze, mangelhafte Sanitäreinrichtungen oder eine miserable Sicht wuchs.

Jonas verkennt nicht, dass die großen Vereine dies- und jenseits des Kanals Werbe- und Sponsoringmaßnahmen nicht erst in den 1980er Jahren forcierten, als die Krise angesichts des drohenden finanziellen Kollapses vieler Clubs, medial verbreiteter Fanausschreitungen und der allgemeinen "Pluralisierung der Konsummuster" (156) kaum noch zu übersehen war. Wie die Autorin analysiert, bestand der Unterschied darin, dass mit einer neuen Managergeneration, deren herausragende Repräsentanten Uli Hoeneß und Irving Scholar waren, aggressivere Formen und Methoden entwickelt wurden, um die Erträge aus der Vermarktung des Spiels zu erhöhen. Gerade gelegen kam den Fußballmanagern dabei das Aufkommen des Privatfernsehens, das den Duopolen von ARD und ZDF in Deutschland sowie von BBC und ITV in Großbritannien ein Ende bereitete und die Preise für die Übertragungsrechte in schwindelnde Höhen trieb.

Die Entwicklung in den 1990er Jahren betrachtet Jonas schließlich im vierten Teil vor dem Hintergrund der "Globalisierung" und des Denkmodells des "Neoliberalismus" (205). Anschaulich beschreibt sie, wie sich diese allgemeinen Entwicklungen auf die Vermarktungskonzepte und die Darstellungsformen des Spitzenfußballs in beiden Ländern niederschlugen. Zur Verärgerung der Traditionalisten unter der Anhängerschaft schien von nun an nicht mehr das runde Leder, sondern das große Geld im Mittelpunkt zu stehen. Der Vorteil indes war, dass Bundesliga und Premier League trotz teilweise unverantwortlicher Finanzexzesse insgesamt auf einem solideren Fundament standen als vorher. Die Überwindung der Krise wurde unter anderem durch die "Entstehung einer symbiotischen Beziehung zwischen Fußball-, Wirtschafts- und Medieninstitutionen" (276) begünstigt, durch die es gelang, diesen Sport als Premiumprodukt zu verkaufen, das den gestiegenen Kundenansprüchen wieder entsprach und die Menschen vor die Fernseher sowie in neu errichtete "Unterhaltungstempel" (256) zu locken vermochte.

Wesentlich neue oder gar überraschende Erkenntnisse vermittelt das Buch von Jonas zwar nicht. Vieles ist schon aus anderen Publikationen bekannt, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass sie sich die Autorin in ihrer Untersuchung vornehmlich auf Presseveröffentlichungen stützt und nur wenige Quellen in den Archiven gehoben hat. Dennoch handelt es sich bei diesem Werk um eine beachtliche wissenschaftliche Leistung, die in der systematischen Zusammenschau besteht. Dadurch gelingt es ihr tatsächlich, am Beispiel des Fußballs viele Parallelen in den sozio-ökonomischen Entwicklungen von England und Deutschland aufzuzeigen.

Nils Havemann