Kim Christian Priemel: The Betrayal. The Nuremberg Trials and German Divergence, Oxford: Oxford University Press 2016, XIV + 481 S., 25 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-966975-2, GBP 65,00
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Als der internationale Legalismus während der Neunziger- und Nullerjahre eine kurzzeitige Hochphase durchlief, wurden nach und nach auch die Nürnberger Prozesse als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand wiederentdeckt. Freilich blieb das Interesse anfangs überwiegend auf normative Aspekte beschränkt. Erst seit Kurzem bemüht sich die Zeitgeschichtsforschung verstärkt darum, nicht nur Anschluss an die laufenden völkerrechtlichen Debatten zu finden, sondern auch die lange überfällige Historisierung "Nürnbergs" mit genuin historischen Ansätzen und Fragestellungen voranzubringen. Schon in der Vergangenheit hat der in Oslo lehrende Kim Christian Priemel dazu wichtige Anstöße geliefert, sodass man auf dessen angekündigte Gesamtdarstellung besonders gespannt sein durfte.
Dem etwas rätselhaft klingenden Titel des Buches liegt eine durchaus plausible These zugrunde: Da das Völkerstrafrecht gegen Mitte des 20. Jahrhunderts noch in den Kinderschuhen steckte, war das Vorhaben der Alliierten, ein Vier-Mächte-Tribunal gegen die deutschen Eliten auf die Beine zu stellen, überhaupt nur in Form eines Experiments denkbar. Um dieses nicht von vornherein scheitern zu lassen, bedurfte es zwischen den Beteiligten einer historisch-politischen Vorverständigung über den Charakter und die Bewertung deutscher Verbrechen, die in gewisser Weise über bestehende Unsicherheiten bei den materiell-prozeduralen Grundlagen und Strafzwecken hinweghelfen konnte. Aufgrund dieser schwierigen Ausgangssituation, die durch die politisch-ideologischen Gegensätze zwischen den ehemaligen Kriegsverbündeten weiter gesteigert wurde, seien die Ideen eines deutschen "Sonderwegs" und eines deutschen "Verrats" an einer westlichen Wertegemeinschaft besonders geeignet gewesen, um zumindest vorläufig eine gemeinsame legitimatorische Grundlage für das geplante strafrechtliche Vorgehen gegen das Deutsche Reich zu schaffen. Mehr implizit als explizit habe man damit gegenüber den eigenen Öffentlichkeiten klarstellen wollen, dass der hohe militärische Einsatz gerechtfertigt gewesen sei, um die irrlichternden Deutschen in das Lager des "Westens" zurückzuholen. "The concept of the west," so Priemel, "was well-suited, as it asserted the moral authority of the victorious Allies. It justified their venture to mete out justice to their vanquished enemies rather than merely exerting revenge, and it exemplified an ideal - or indeed a set of ideals - to which a future German nation could aspire" (3).
In den folgenden acht Abschnitten dekliniert der Autor dann seine These einer juridisch konstruierten Meistererzählung durch. In einem längeren Kapitel mit dem Titel "Mapping the West" rekonstruiert er breit und kenntnisreich eine im späten 19. Jahrhundert einsetzende Debatte unter nordatlantischen Intellektuellen, die in der Ideengeschichte unter dem ominösen Begriff des deutschen "Sonderwegs" bekannt ist. Spätestens mit dem amerikanischen Kriegseintritt wurden diese Diskussionen und die damit einhergehenden Geschichtsbilder auch politisch relevant, als sich eine - bis dahin weitgehend isolationistisch eingestellte - amerikanische Gesellschaft darüber zu verständigen suchte, inwieweit den Nationalsozialisten eine vollständige Durchdringung von Staat und Gesellschaft gelungen sei, die eine baldige Auflehnung gegen das Regime als wenig wahrscheinlich erscheinen ließ. Zu den großen Stärken des Buchs gehört, dass es die zahlreichen Schichten und unterschwelligen Bedeutungen dieses amorphen Diskurses im Detail freilegt. Jedoch ist der Umstand, dass amerikanische und europäische Gelehrte - etwa solche im Umfeld des Joint Committee on Postwar Planning - intensiv an der sozialwissenschaftlichen, anthropologischen und psychoanalytischen Konzeptualisierung des westlichen Zivilisationsbegriffs und des "Nazi Socialist enemy" beteiligt waren, aufgrund der Studien von Uta Gerhard und Jeffrey K. Olick bereits seit Längerem bekannt. Was allerdings weiterhin fehlt, und was auch von Priemel nicht näher untersucht wird, sind Kenntnisse über die Verbindungen zwischen diesen verschiedenen intellektuellen Knotenpunkten und dem späteren Prozessprogramm sowie über die Schlussfolgerungen, die beispielsweise amerikanische Behaviouristen aus dem sozialpsychologischen Großexperiment "Nürnberg" zogen. Auch bleibt in der Darstellung mitunter unklar, inwiefern die zu den Kriegsplanungen herangezogenen Intellektuellen zuvor Konversionen und Transformationen durchlaufen mussten, um ihre Ideen in den administrativ-bürokratischen Diskurs einzuspeisen. Ein plastisches Beispiel dafür sind die Schriften und Gutachten des OSS-Experten Franz L. Neumann, dessen rigorose Ablehnung völkerstrafrechtlicher Lösungen erst gegen Kriegsende allmählich einer pragmatischeren Haltung wich. [1]
Der eigentliche heuristische Wert des Analyseschemas zeigt sich daher vor allem in den folgenden Kapiteln, in denen es um die praktische Bedeutung der diskursiven Rahmungen geht. Mit einer ungemein dichten archivischen Grundlage kann der Autor zeigen, wie sich die Motive der "Zivilisation" und des deutschen "Verrats" wie ein basso continuo erst durch das interalliierte Hauptkriegsverbrechertribunal (IMT) und dann insbesondere auch durch die zwölf amerikanischen Nachfolgeprozesse (NMT) zogen. Vor allem in den Verhandlungen vor dem IMT offenbarte sich die typische Janusköpfigkeit des Konstrukts vom "Westen", dem sowohl eine ideengeschichtliche als auch eine machtpolitische Komponente innewohnten. Wenig überraschend ließ sich denn auch die sowjetische Anklagebehörde weder auf die Semantik des "Westens" ein, noch zollte sie etwaigen historischen Besonderheiten in der deutschen Nationalstaatsentwicklung Tribut (109). Im Gegensatz dazu war es vor allem der französische Ankläger François de Menthon, der die Verhandlungen dafür nutzte, um der metaphysischen Deutung eines auf Fichte und Hegel zurückgehenden deutschen Wegs in die "Barbarei" zu neuer Respektabilität und einer öffentlichkeitswirksamen Bühne zu verhelfen. Besonders gelungen sind zudem die beiden Kapitel zu den amerikanischen Industrie- und Militär-Prozessen, in denen der Autor anschaulich demonstriert, welche Dynamiken, Spannungen und vor allem Reibungsflächen sich aus der Grunderzählung "westlicher" Standards und Werte ergaben. So taten sich immer wieder schroffe Gegensätze zwischen den kollektiven (Schuld-)Zuschreibungen des "Sonderweg"-Topos und dem individualisierenden Ansatz eines noch wenig entwickelten Völkerstrafrechts auf, von dem vor allen die deutschen Angeklagten und deren Verteidiger profitieren konnten, die zugleich immer im Namen einer größeren nationalen Sache zu sprechen suchten.
Priemels Studie zu den Nürnberger Prozessen ist ein fulminanter großer Wurf, die sicherlich auf lange Zeit das führende Werk zu diesem Thema bleiben wird. Es lebt von der Fülle des Materials und von den zahlreichen, teilweise überraschenden Querverbindungen, mit denen der Autor das Geschehen im Nürnberger Gerichtssaal in die politischen und intellektuellen Kontroversen seiner Zeit einbettet. Dadurch macht die Arbeit einerseits sehr greifbar, dass das Völkerstrafrecht in einer Phase, die mit gutem Recht als Zeit des Übergangs und der Neuorientierung bezeichnet werden kann, gleichermaßen als Motor und als Medium einer transnationalen Selbstverständigungsdebatte wirkte. Auch bestätigt sie den in der Forschung häufig anzutreffenden Befund, der zufolge sich "Westlichkeit" im Wesentlichen durch deren innere Spannungen und Differenzen konstituiert. [2] Allerdings liegt dieser Analyse ein Konzept von Westlichkeit zugrunde, das in einem merkwürdigen Kontrast zu dem vertretenen postkolonialen Ansatz steht. Während Priemels Studie einerseits die doppelten Rechtsstandards der Alliierten deutlich kritisiert, trägt sie andererseits durch eine ausgesprochen einseitige Quellen- und Literaturlage dazu bei, ein hegemoniales Bild vom Westen zu reproduzieren. Sicherlich ist es von einigem Interesse, dass eine Person wie George F. Kennan Nürnberg für überflüssig hielt und er auch später nicht von dieser Meinung abrückte, als die USA sich schon in einen schmutzigen Krieg in Südostasien verrannt hatten. Kennans Urteil über Nürnberg war aber im Grunde leer und substanzlos, während dies bei Kritikern wie Aimé Césaire nicht der Fall war. Eine umfassende Monografie zur Geschichte des "Westens" in Nürnberg zu schreiben, ohne einen einzigen bedeutenden postkolonialen Intellektuellen zu Wort kommen zu lassen, ist daher ein kaum erklärlicher Schwachpunkt dieser sorgfältig gearbeiteten Studie.
Anmerkungen:
[1] Zur verzögerten Adaption des Konstrukts vom "Westen" durch deutsch-amerikanische Emigranten-Gelehrte siehe auch Riccardo Bavaj: Germany and "Western Democracies": The Spatialization of Ernst Fraenkel's Political Thought, in: Ders. / Martina Steber (eds.): Germany and "the West". The History of a Modern Concept, Oxford / New York 2015, 183-198.
[2] In diesem Sinne Michael Hochgeschwender: Was ist der Westen? Zur Ideengeschichte eines ideenpolitischen Konstrukts, in: Historisch-Politische Mitteilungen 11 (2004), 1-30.
Annette Weinke