Oliver Grote: Die griechischen Phylen. Funktion - Entstehung - Leistungen, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2016, 284 S., ISBN 978-3-515-11450-9, EUR 52,00
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Die Dissertation reiht sich in jene jüngeren Arbeiten ein, welche über die auf den Arbeiten von Felix Bourriot und Denis Roussel aus dem Jahr 1976 beruhende Skepsis gegenüber der Herleitung der griechischen Polis aus einem ihr vorangegangenen "Geschlechterstaat" neu nachdenken wollen. [1] Grote hält insbesondere die Argumentation von Roussel für "funktionalistisch" und will seine Auffassung, dass die Phylen ein Ergebnis der Polisbildung seien, als nicht zutreffend erweisen. Dafür untersucht er vergleichsweise gut belegte Beispiele von Phylenordnungen in Kyrene, Sikyon, Sparta, Gortyn, Dreros, Korinth, Argos, Milet, Chios und Athen. Den Fallstudien ist eine Einleitung vorangestellt, in der die eigene Arbeit in den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext eingereiht wird; am Ende stehen zwei stärker systematisch angelegte Kapitel, das erste "Rückgriff" betitelte, in welchem dem Ursprung der "dorischen Phylen" nachgegangen wird, das andere eine "Schlussbetrachtung", in dem die schon in der Einleitung formulierten Grundthesen ausführlicher und zusammenfassend dargestellt werden.
Grote geht von der von ihm selbst so genannten Hypothese aus, dass Phylen politische Verbände mit einer besonderen politischen Funktion darstellen würden. Sie seien in Verbindung mit der Entwicklung der staatlichen Strukturen gestanden, repräsentierten eine territoriale oder personale Gliederung, verfügten über ein integratives Potential, hätten ihren Mitgliedern eine soziale, militärische, kulturelle und politische Identität vermittelt und - beruhend auf all dem - an der Formierung der Siedlungsgemeinschaft Anteil gehabt. Über die zehn, den Hauptteil der Dissertation bildenden umfangreichen Einzeluntersuchungen soll diese Hypothese Wahrscheinlichkeit gewinnen. Diese zeichnen sich durch eine hohe Kenntnis des Quellenbestandes aus, neigen in der Beurteilung anderer Positionen und der Beurteilung der Aussagen der Quellen jedoch zu überkonturierten Feststellungen. Dies hängt auch mit der Art der Argumentation zusammen, die nicht nur das im Folgenden skizzierte Beispiel der Phylen im kretischen Dreros kennzeichnet.
Als Ausgangspunkt für die Überlegungen ist die älteste, nur fragmentarisch erhaltene, ins 7. Jahrhundert zu datierende, keineswegs eindeutig zu interpretierende Inschrift (Koerner 91) gewählt. Für deren weitere Untersuchung wird zuerst festgelegt, dass von einem sich in Entwicklung befindlichen, für alle kretischen Poleis Geltung besitzenden politischen System auszugehen sei. Deswegen könnten die Funktion einzelner "Komponenten" über das Zusammenspiel mit "den übrigen Bestandteilen desselben politischen Systems" offengelegt werden. Vor diesem Hintergrund wird die keineswegs unumstrittene, aber als die einzig gerechtfertigte angesehene Lesung und Übersetzung des ersten Teils der Inschrift: "So hat die Polis entschieden nach Konsultationen der Phylen" zur Grundlage für Schlussfolgerungen über die historische Situation in Dreros gemacht. Ehe es zu diesen kommt, wird mit Berufung auf Aristoteles' Politeia (an anderen Stellen wird Aristoteles keine präzise Kenntnis über ältere Zustände zugetraut) eine weitere Prämisse eingeführt, nämlich, dass die kretischen Verhältnisse der archaischen und klassischen Zeit "aristokratisch geprägt waren". Damit wird verbunden, dass die Übersetzung "So hat die Polis entschieden" tatsächlich heißen müsste: "Es gefiel der Polis". Grote mutmaßt mit Bezug auf die in Koerner 90 genannten, als Rat interpretierten "Zwanzig der Polis", dass diese Formulierung eine Chiffre für "der Rat hat es beschlossen und die Versammlung hat es angenommen" sein könnte. Von hier aus wird weiter gefolgert, dass es sich nur um einen aristokratischen Rat handeln könne, wie er auch bei Homer und in anderen kretischen Poleis zu finden sei, weil eine "'basisdemokratische' Bürgerbefragung" sicherlich "unrealistisch" sei. Somit könne es sich bei den Phylen um kein beschlussfassendes Gremium gehandelt haben. Die Segmentierung des auf diese Weise konstruierten aristokratischen Rats in Phylen habe einen wichtigen Schritt dahin bedeutet, die "Dominanz einzelner Aristoi und ihrer Cliquen" zu verhindern und stattdessen dem allgemeinen Willen der "Gemeinde" zum Durchbruch zu verhelfen.
Aus der Zusammenschau aller seiner auf solchen Kombinationen von Lektüre der Quellentexte mit Prämissen, die nicht aus diesen abgeleitet werden können, aufgebauten Fallstudien kommt Grote zum Schluss, dass sich seine in der Einleitung schon formulierte Hypothese bestätigt habe. Es gebe nicht nur gemeinsame Strukturmerkmale der Phylen, sondern diese hätten überall auch denselben Zweck gehabt. Mit der durch die Phylen vorgenommenen Segmentierung der Bürgerschaft sollte der innere Frieden in den Poleis bewahrt werden, weil durch sie die typische Oikos-Bezogenheit der Bürger überwunden und so Staseis verhindert hätten werden können. Dies ist überraschend nahe an den Schlussfolgerungen Roussels. Die Distanzierung besteht vor allem darin, dass die Phylen, obwohl die Phylen ein Element der Formierung der Polis, doch älter als die Polis gewesen sein sollen. Dies wird aus dem Vorkommen des Wortes phylon bei Homer und der hier auch aufscheinenden Gliederung des Heeres nach so bezeichneten Abteilungen abgeleitet. Zur Begründung wird zudem auf die sogenannten dorischen Phylen verwiesen. Grote rechnet mit einer dorischen Wanderung, wenn auch nicht als ein geschlossener Stamm, sondern in einem in mehreren Etappen sich vollziehendem Einsickern neuer Bevölkerungsteile ab nachmykenischer Zeit. Von hier ausgehend vermutet er, dass die Phylen der Polis aus ursprünglichen "Ortsverbänden" im Zuge von Reformen, wie sie in den Einzeluntersuchungen wahrscheinlich gemacht werden sollten, in politische Verbände transformiert worden seien.
Es fällt angesichts der Art der Quellenanalysen schwer, dem Grundanliegen der Dissertation zu folgen, sollen doch gerade diese die "Neigung der Forschung" für unzulässig erweisen, "Ausführungen zu den Phylen auf quellenfernen, hypothetischen Konstruktionen und relativ unreflektierten Vergleichen fußen zu lassen". Unabhängig davon, ob "Ausführungen" in dieser Form tatsächlich existieren, müsste eine diesen entgegengesetzte Argumentation auf Prämissen fußen, die so evident wie vorausgesetzt wären. Das kann inzwischen wohl kaum mehr von ethnisch-affinen Vorstellungen wie Stamm und Wanderungen oder von staatsrechtlichen Kategorien zuzuordnenden Begriffen wie Adel und Adelsstreit oder von dem beinahe wie 'Verfassung' behandelten Begriff des politischen Systems behauptet werden. Es fällt zudem auf, dass ein Bezug auf die umfangreich gewordenen archäologischen Untersuchungen zur (langsamen und späten) Bildung von strukturierten Siedlungen in archaischer Zeit fehlt. So werden der großen Argumentationslinie wohl nur diejenigen folgen (können), die von denselben Prämissen ausgehen. Die nicht wenigen für sich interessanten Einzelbeobachtungen bleiben von dieser Feststellung unberührt, und in diesen liegt wohl der aus der Arbeit zu ziehende Gewinn.
Anmerkung:
[1] F. Bourriot: Recherches sur la nature du génos. Ètude d'histoire sociale athénienne, période archaïque et classique, Lille 1976; D. Roussel: Tribu et cité. Étude sur les groupes sociaux dans les cités grecques aux époques archaïque et classique, Paris 1976.
Christoph Ulf