Bernd Haunfelder (Hg.): Die DDR aus Sicht schweizerischer Diplomaten 1982-1990. Politische Berichte aus Ost-Berlin, Münster: Aschendorff 2017, 342 S., ISBN 978-3-402-13243-2, EUR 29,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
William Taubman: Gorbachev. His Life and Times, New York: W.W. Norton & Company 2017
Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München: C.H.Beck 2014
Andrea Brait / Michael Gehler (Hgg.): Grenzöffnung 1989. Innen- und Außenperspektiven und die Folgen für Österreich, Wien: Böhlau 2014
Die von Bernd Haunfelder herausgegebene Edition mit 96 Berichten aus der Schweizerischen Botschaft in Ost-Berlin zwischen 1982 und 1990 eröffnet zwar keine neue Perspektiven auf die DDR-Geschichte, ist aber höchst aufschlussreich im Hinblick auf die Perzeption des ostdeutschen Staates durch führende Diplomaten der neutralen Alpenrepublik. Während sich das Enddatum von selbst erklärt, ist es nicht ganz einsichtig, warum das Werk mit dem Jahr des Regierungsantritts von Helmut Kohl beginnt. Zwar spielen die deutsch-deutschen Beziehungen eine zentrale Rolle, aber der Regierungswechsel in Bonn war keineswegs ein besonderer Einschnitt für die DDR-Entwicklung. Es wäre zweifellos sinnvoller gewesen, mit 1972, dem Jahr der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, zu beginnen.
Über das ostdeutsch-schweizerische Verhältnis geben die Berichte keinen Aufschluss. Zur Einbettung behandelt Haunfelder in der Einleitung knapp dessen Geschichte seit den 1950er Jahren, wobei er auf die 1980er Jahre kaum eingeht, in denen sich die Beziehungen der DDR zu den westeuropäischen und anderen, neutralen Staaten intensivierten. Auffallend ist allerdings der Kontrast zwischen den von weitgehender schweizerischer Zurückhaltung gegenüber Ost-Berlin und enger Anlehnung an Bonn geprägten 1950er und 1960er Jahren und 1989/90, als Außenminister René Felber die Bedeutung des Mauerfalls nicht richtig erfasste und aus seiner Skepsis gegenüber dem Wiedervereinigungsprozess kein Hehl machte. Dies führte zeitweise sogar zu einer Belastung der Beziehungen zur Bundesrepublik. Die Eliten in der Schweiz befürchteten offensichtlich, dass ein wiedervereinigtes Deutschland in Europa eine zu große Rolle spielen könnte.
Daneben enthält die Einleitung allgemeine, teils redundante Ausführungen zur westdeutschen Wiedervereinigungspolitik, zur zurückgehenden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der DDR in den 1980er Jahren und zur Berichterstattung der drei im Untersuchungszeitraum in Ost-Berlin akkreditierten Botschafter Friedrich Schnyder (1977-1982), Peter Dietschi (1982-1987) und Franz Birrer (1987-1990). Warum die abgedruckten 96 Berichte ausgewählt wurden, erfährt man nicht. Deutlich wird aber, dass Haunfelder es auf Dokumente abgesehen hat, die allgemeinere Bewertungen zu wichtigen Vorgängen und Gesamteinschätzungen enthalten. So geht es etwa um herausgehobene Staats- und Arbeitsbesuche ausländischer Politiker, um den Milliardenkredit von 1983, um die Ausreisebewegung, die Botschaftsbesetzungen in Ost-Berlin, um die ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen - insbesondere in der Ära Gorbatschow - sowie um das Verhältnis zu Bundesrepublik. Die Kommentierung der Dokumente ist etwas erratisch und erscheint wenig durchdacht: Sie enthält neben Sacherläuterungen und biographischen Informationen zahlreiche weitere Hinweise auf Literatur oder Zeitungen, die Textpassagen aus den Dokumenten entweder bestätigen oder widerlegen sollen.
In den Berichten wird immer wieder deutlich, wie schwer es für die Schweizerischen Diplomaten war, in der DDR an valide Informationen zu gelangen; sie beriefen sich eher auf Äußerungen des langjährigen Leiters der bundesdeutschen Ständigen Vertretung, Hans-Otto Bräutigam, und auf ausländische Vertreter in Ost-Berlin als auf Personal aus der DDR-Regierung oder dem Außenministerium. Dennoch hatten die Botschafter durchaus Mut zum eigenen Urteil, so etwa Dietschi in seinem Bericht vom 8. Oktober 1984 zum 35. Jahrestag der DDR-Gründung. So benannte er auf der einen Seite die Gründe für Frustration und Enttäuschungen bei den Normalbürgern, die diese zum Rückzug ins Private veranlassten, andererseits aber die Errungenschaften des ostdeutschen Sozial- und Bildungssystems. Die DDR sei inzwischen mehr als nur ein Provisorium, die lang anhaltende deutsche Teilung sei eine Realität, die ihr eine gewisse Stabilität verleihe; die Frage sei allerdings, "ob es ihr gelingt, die Grenzen für die eigenen Bürger zu öffnen, ohne daran zu verbluten" (158). Wenngleich er noch keinen DDR-Bürger getroffen habe, der noch ernstlich an die Wiedervereinigung glaube, sei die deutsche Frage weiterhin offen und werde noch Generationen beschäftigen. Ganz ähnlich urteilte er auch noch in seinem Schlussbericht vom 12. August 1987, dem zufolge die DDR zwar durch die Reformen Gorbatschows unter Druck stehe, aber ein grundsätzlich stabiler Staat sei. Aufgrund der weiterhin ungelösten deutschen Frage seien jedoch "explosive Entwicklungen [...] gleichsam vorprogrammiert" (203).
Für Dietschis Nachfolger Birrer hingegen, der derselben Generation angehörte, war die deutsche Frage offensichtlich durch die Zweistaatlichkeit gelöst. Er machte sich die Einstellungen der DDR-Führung weitgehend zu eigen, was vor allem an seinen abschätzigen Bemerkungen über die Ostdeutschen deutlich wird, die die DDR in Richtung Bundesrepublik verließen. Für ihn war dieser Schritt eigentlich unnötig, da die DDR in diesen Jahren bereits Millionen Bürger, auch unterhalb des Rentenalters, reisen ließ, so dass er auch kein Verständnis für die Botschaftsflüchtlinge zeigte und diesen sogar Hausfriedensbruch vorwarf. Die Ausreisen selbst führte er vor allem auf wirtschaftliche Faktoren zurück. Das Betreten der DDR durch eine der wenigen Grenzübergangsstellen bezeichnete er zwar als "Horrorerlebnis", das das Gefühl auslöse, "in ein Konzentrationslager oder ein Gefängnis einzutreten" (215), die Existenz der Mauer hielt er dennoch wegen der gegensätzlichen Lohn- und Preispolitik in beiden deutschen Staaten für gerechtfertigt. Schließlich machte er vor allem die Bundesrepublik für die massive Abwanderung aus der DDR verantwortlich, da diese weiterhin an einer einheitlichen deutschen Staatsbürgerschaft festhalte und damit eine Eingliederung der geflohenen Ostdeutschen erheblich erleichtere.
Die DDR selbst bezeichnete er als wirtschaftlich relativ stabil. Ihr Diktaturcharakter schimmert noch manchmal durch seine Berichte hindurch, etwa als er am 2. Oktober 1990 noch von "stalinistischen Strukturen" (318) schrieb. Aber selbst die Kommunalwahlen vom 6. Mai 1989 wiesen für Birrer Ähnlichkeiten mit Wahlen in westlichen Demokratien auf, obwohl er in dem einschlägigen Bericht ebenfalls darlegte, dass die politische Macht fest in den Händen der SED liege. Über die massiven Wahlfälschungen, die von der Bürgerbewegung aufgedeckt wurde, schwieg er sich aus.
Die Fluchtbewegung des Jahres 1989 spielte für Birrer zwar eine gewisse Rolle, über die Straßenrevolution in der DDR enthält die Edition allerdings keine Berichterstattung. Lediglich im Zusammenhang mit der gespenstischen 40-Jahrfeier der DDR sprach er von Demonstrationen "nicht nur in Berlin, sondern auch in allen andern Städten [...], die im Grossen und Ganzen glimpflich verliefen" (257) - dass die Demonstranten in Ost-Berlin damals noch niedergeknüppelt wurden, erfährt man nicht. Hier ist erstmals von der Entstehung verschiedener oppositioneller Gruppen die Rede, die allerdings alle "sozialistisch bzw. sozialdemokratisch ausgerichtet sind, hauptsächlich ökologische Anliegen vertreten und sich entschieden gegen einen 'Anschluss' an die Bundesrepublik stellen" (257).
Vor diesem Hintergrund wird auch die Herstellung der deutschen Einheit stets aus der Perspektive der DDR als "Anschluss" bezeichnet. Helmut Kohl erscheint als reiner Machtpolitiker, der eine schnelle Wiedervereinigung vor allem aus wahltaktischen Gründen verfolgt und quasi im Alleingang durchgesetzt habe: Den außenpolitischen Aspekten dieses welthistorischen Vorgangs schenkte Birrer keine Aufmerksamkeit. Viel Mitleid hatte er mit der untergehenden DDR - einen seiner letzten Berichte überschrieb er mit "Die BRDigung der DDR" (308) und zitierte damit einen Slogan der PDS aus dem Volkskammerwahlkampf. Zwar legte er den Finger auf manche Wunde - so etwa auf den volkswirtschaftlich verfehlten Umtauschsatz von 1:1 auf alle Barvermögen und auf das Wegbrechen der Ostmärkte infolge der Wirtschafts- und Währungsunion. Man muss hingegen lange suchen, bis man in dem mit "Adieu, DDR!" überschriebenen Bericht vom 2. Oktober 1990 den Satz findet: "Von einem allgemeinen und europäischen Standpunkt aus ist die deutsche Einheit zweifellos zu begrüßen." (323). Das vereinigte Deutschland werde zwar "binnen kurzem zur Grossmacht und vielleicht sogar zur Weltmacht aufsteigen" (323), sei aber aufgrund seiner föderalistischen und demokratischen Strukturen sowie seine Einbindung in EG und NATO weitaus weniger bedrohlich als früher. Aber ob der neue Staat für die Ostdeutschen zur Heimat werden könne, bezweifelte Birrer, der auch in seinem Bericht "Die deutsche Vereinigung und danach" vom 5. Oktober 1990 noch davon schrieb, dass der Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes "keine Vereinigung und schon gar kein Liebesakt war, sondern ein Anschluss. Viele 'Ossis' fühlen sich von den 'Wessis' überrollt, manche vergewaltigt." (326) Birrers Berichterstattung verweist darauf, dass die DDR durch ihre langjährige Existenz auch unter einigen Repräsentanten einer so traditionsreichen Demokratie wie der Schweiz hoffähig geworden war. Es wäre freilich von Interesse, ob es sich dabei lediglich um eine Einzelmeinung handelte, oder ob auch andere Angehörige des Schweizerischen Auswärtigen Dienstes ähnlich dachten.
Hermann Wentker