Holger Berwinkel / Robert Kretzschmar / Karsten Uhde (Hgg.): Moderne Aktenkunde (= Veröffentlichungen der Archivschule Marburg; Nr. 64), Marburg: Archivschule Marburg 2016, 191 S., ISBN 978-3-9238-3381-8, EUR 34,80
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Aktenkunde in Zeiten von Verwaltung 4.0 und papierlosem Büro? Wer hätte gedacht, dass die spröde Materie ein revival in der elektronischen Ära feiern würde? Doch hat sich diese Grundwissenschaft keineswegs überlebt. Wer je vor der Aufgabe stand, ein kontextlos überliefertes Schriftstück historisch zu deuten, der ahnt, wozu Aktenkunde nützlich ist.
Geschickt angewandt, lässt sich mithilfe dieser Methoden aus solchen Dokumenten ermitteln, in welcher Funktion die Beteiligten sich darauf verewigten, in welchem Verhältnis sie zueinander standen, wie die Institution, die sie repräsentieren, aufgebaut war, ob es sich um einen Entwurf, eine Ausfertigung oder Kopie handelt und vieles mehr. Oft ist erst damit die Informationsbasis hinreichend, um den Inhalt überhaupt angemessen einordnen und analytisch verwerten zu können.
Der Band der Archivschule Marburg, der klassischen Ausbildungseinrichtung für staatlich geprüfte Archivare, zeigt, dass diese Kenntnisse auch für das fortgeschrittene 20. und das 21. Jahrhundert vorteilhaft sind. Die Herausgeber präsentieren das Ergebnis eines seit 2009 bestehenden Arbeitskreises im Verband deutscher Archivarinnen und Archivare. Sie haben als Anwendungsbereiche die historische Forschung, den archivfachlichen Kontext, das Records Management und die Ausbildung im Blick (11).
Am Anfang stehen Erläuterungen zum Untersuchungsgegenstand, der Akte. In ihr spiegelt sich die von Robert Kretzschmar attestierte Entwicklung der schriftlichen Kommunikation hin zur Formlosigkeit (20f.). Wie sich diese vollzog, zeigt exemplarisch Holger Berwinkel anhand der Kanzleigeschichte. Es wechselten Phasen, in denen sich die schriftliche Dokumentation aufblähte, mit solchen der Eindämmung per Geschäftsordnung. Über eine Nachvollziehbarkeit des Verwaltungshandelns anhand der Akten oder ihre Vollständigkeit ist damit noch nichts ausgesagt.
Erhellend ist ebenso die Erinnerung daran, dass die "Entkörperlichung" von Unterlagen keineswegs mit der elektronischen Post begann, nicht einmal mit dem Einzug des Telefons in die Bürowelt, sondern dass sie in Gestalt der stets gelebten mündlichen Kommunikation eine Kontinuität darstellt. Das spricht für einen gelassenen - nicht gleichgültigen - Umgang mit dem Phänomen der Unvollständigkeit des schriftlichen Niederschlags jeglicher Art.
Ändert sich der Charakter der Akte grundlegend, braucht es gemäß Kretzschmar und Lorenz Beck auch eine angepasste Terminologie der aus den 1920er Jahren stammenden Aktenkunde sowie ein Instrumentarium zur quellenkundlichen Analyse, das von Zweck und Funktion der Akte ausgeht (27).
Entsprechend widmen sich die Beiträge den drei klassischen Feldern der Aktenkunde: der sogenannten Genetik (Entstehungsstufen eines Schriftstücks im Sinne von u.a. Entwurf, Ausfertigung, Kopie), der Analytik (innere und äußere Merkmale) und der Klassifikation (Aussteller, Empfänger, Zweck, Stil). Die von Karsten Uhde identifizierten Desiderate zur genetischen Aktenkunde betreffen die Terminologie, die Periodisierbarkeit sowie Überlieferungsformen. Sie münden in fünf detaillierte Schaubilder zu Geschäftsgang und Entstehungsstufen von 1900 bis 2015.
In einem weiteren Beitrag zur Klassifikation stellt Uhde die These auf, dass der Stil mittlerweile weitaus stärker vom Grad der persönlichen Bekanntschaft der kommunizierenden Personen abhängt, weniger vom formalen Unterstellungsverhältnis (78). Gut nachvollziehbar ist dies in der Nutzung elektronisch vermittelter Kommunikation, die sich stilistisch deutlich an der gesprochenen Sprache orientiert.
Zwei Bereiche aus der Praxis, die Bundesverwaltung und die Wirtschaft, dienen im Folgenden als Testfelder der vorigen Annahmen. Ein Auseinanderdriften von Form und Funktion der Schriftstücke erkennen Holger Berwinkel und Anette Meiburg selbst bei Bundesministerien, die in der Tradition des hochformalisierten preußischen Aktenwesens stehen. Das ehemals stark ausgeprägte "Bewusstsein für den Wert der Akten als Wissensspeicher und Arbeitsinstrument" (84) sinkt, und damit die Disziplin in der Verschriftlichung. Was sich dennoch klassifizieren lässt, fassen die Autoren in einer hilfreichen Übersicht zusammen.
Im Beitrag zur Wirtschaft zieht Ulrich Schludi Vergleiche zur amtlichen Aktenwelt. Auch er identifiziert Möglichkeiten zur Systematisierung der Aktenkunde, samt Schaubild, und stellt eine Tendenz zur Kürze und Unvollständigkeit in der Aktenführung fest.
Wie eine gemeinsame Klassifikation papierner und elektronischer Archivalien aussehen könnte, skizziert Christian Keitel. Er übersetzt einen Klassiker der Aktenkunde, Johannes Papritz, in die hybride Welt. Dazu passt er die Benennung der Elemente des Informationsaufbaus in drei Ebenen an: Aus dem Eintrag wird allgemein eine Informationseinheit, aus dem Schriftstück ein Dokument und aus der (Akten-)Komposition ein Container. Zukunftsweisend sind auch seine Hinweise zu den Gattungen elektronischer Archivalien inklusive des Klassifikationsschemas für stabile (z.B. E-Mail-Accounts) wie flüchtige (z.B. Webseiten) Dokumente.
In die Quellenkunde der E-Mail führt Patrick Sturm ein. Er plädiert wie die anderen Autoren für eine Anpassung, nicht Abkehr, von den klassischen Instrumentarien. Bezieht man die Informatik als Hilfswissenschaft ein, sind laut Sturm innere und äußere Merkmale ebenso beschreib- und interpretierbar wie bei analogen Dokumenten.
Im Schlusswort zu diesem Band formuliert Keitel weitere Herausforderungen, wie die Abbildung von Verknüpfungen in Datenbanken oder das Archivieren von Designs von IT-Fachanwendungen. Werden Akten zu deren Anhängseln, verlieren sie ihre prozesssteuernde Funktion an diese. Was das für die Quellen- und Aktenkunde bedeutet, für die Überlieferungsbildung und eine transparent arbeitende Verwaltung, lässt sich in Grundzügen erahnen.
Der Band öffnet ein Fenster zu vielen Themen. Sie sind mit dem technologisch-organisatorischen Wandel der letzten hundert Jahre verknüpft und denkbar vielgestaltig. Elektronische Kommunikation ist dabei ein wesentlicher, aber nicht der einzige Faktor. Auch zentrale, aber bisher eher randständig behandelte Amtsbereiche wie Parlament, Militär, (Auslands-)Aufklärung und Diplomatie sind nach Aussagen der Autorinnen und Autoren stärker akten- und quellenkundlich zu untersuchen.
Die Beiträge liefern dafür viele Ansatzpunkte. Wünschenswert wäre eine stärkere Verzahnung der Beiträge gewesen. Dies haben die Herausgeber vorab selbst bereits festgestellt. [1] Das schmälert den Wert dieser Veröffentlichung aber keineswegs. Es wird bis zum Erscheinen eines Handbuchs (für das noch wesentliche Grundlagenarbeit zu leisten ist) eines der wichtigsten Werkzeuge der Historikerin und des Archivars für diesen Themenkreis bleiben, womöglich auch der Medienwissenschaft, zu der im weiteren Sinne die Aktenkunde zählt. [2]
Anmerkungen:
[1] Holger Berwinkel / Robert Kretzschmar / Karsten Uhde: Aus der Werkstatt der Aktenkunde. Der Arbeitskreis "Aktenkunde des 20. und 21. Jahrhunderts" des VdA, in: Archivar 67, 3 (2014), 293-295. http://www.archive.nrw.de/archivar/hefte/2014/ausgabe_3/Archivar_2014_3.pdf.
[2] http://aktenkunde.hypotheses.org/570, 23.09.2016, Absatz "Und wie geht es weiter?"
Ragna Boden