Rezension über:

Roberto Saviano / Giovanni Di Lorenzo: Erklär mir Italien! Wie kann man ein Land lieben, das einen zur Verzweiflung treibt?, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2017, 264 S., ISBN 978-3-462-04971-8, EUR 20,00
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Rezension von:
Hans Woller
München
Empfohlene Zitierweise:
Hans Woller: Rezension von: Roberto Saviano / Giovanni Di Lorenzo: Erklär mir Italien! Wie kann man ein Land lieben, das einen zur Verzweiflung treibt?, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 3 [15.03.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/03/31484.html


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Roberto Saviano / Giovanni Di Lorenzo: Erklär mir Italien!

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Plaudern ist eine Kunst. Wer sie beherrscht, ist beliebt und ein gern gesehener Gast; Langeweile kommt mit ihm nicht auf. Er bietet von allem ein bisschen: Er unterhält, betört und inspiriert, ohne aufdringlich zu werden und ohne in die Tiefe zu gehen. Roberto Saviano, der weltberühmte Schriftsteller, und Giovanni di Lorenzo, der erfolgreiche Chefredakteur der "Zeit", sind Meister der Plauderei. Sie haben in den vergangenen Jahren mehrmals über ein Thema gesprochen, das beiden am Herzen liegt: über Italien, den "Sehnsuchtsort der Deutschen" und eines der "Sorgenkinder Europas". Herausgekommen ist das "Porträt eines Landes zwischen Wunder und Wahnsinn" - behauptet der Verlag.

Wie gerne würde man ihm glauben! Denn: Wer kann sich wirklich noch einen Reim machen auf das Land, das seit langem in der Krise steckt und doch dem Absturz trotzt? Am 4. März 2018 wurde gewählt, eine stabile Regierung als Ergebnis wäre nicht weniger als ein Wunder. Die Staatsverschuldung steigt, die Arbeitslosigkeit will nicht sinken. Wie passt es dazu, dass Italien bisher dennoch allen europäischen Verpflichtungen nachgekommen ist, noch nie unter einen Rettungsschirm schlüpfen musste und 2017 obendrein die Kraft aufbrachte, mehr als jemals zuvor zu exportieren? Das Exportvolumen beläuft sich auf 450 Milliarden Euro, wobei nicht die Modebranche oder die Landwirtschaft den Löwenanteil daran haben, sondern der Maschinenbau.

Orientierung täte also Not. Genau sie bleiben Saviano und di Lorenzo aber schuldig. Sie taxieren den Stellenwert der Familie in Italien, traktieren Silvio Berlusconi und Angela Merkel, hadern mit Matteo Renzi und landen am Ende immer wieder bei der Mafia und ihren Spielarten. Saviano ist hier in seinem Element. Leser, die seinen Welterfolg "Gomorrha" nicht kennen, erfahren geradezu Packendes über die Struktur des organisierten Verbrechens, die Blutrünstigkeit und Gläubigkeit der "Paten" und ihrer Handlanger, aber auch darüber, welch trostloses Leben Saviano führen muss, seit er über die Camorra schrieb: immer in Angst, immer unter Polizeischutz, im Grunde immer auf der Flucht.

Italien erklärt das freilich nicht. Man weiß nicht einmal, was genau erörtert werden soll. Das "Wunder", der "Wahnsinn" oder doch eher profanere Dinge wie die Handlungsschwäche der Regierung, der Reformstau in der Gesellschaft und die Defizite der Wirtschaft? Giovanni di Lorenzo, der Regisseur des Zwiegesprächs, hat kein Konzept und keine Agenda. Er liefert sich der wilden Jagd seiner Assoziationen aus und treibt seinen Gesprächspartner von einer Frage zur nächsten. Selbst ob sich in New York guter Mozzarella finden lässt, will er allen Ernstes wissen.

Dabei überrascht Saviano immer wieder mit provozierenden Bemerkungen, über die man in einem seriösen Gespräch streiten müsste. Eine bezieht sich auf die Vergangenheitsbewältigung. Saviano meint damit nicht nur die Auseinandersetzung mit dem Faschismus, die in der breiten Gesellschaft ausgeblieben, "innerhalb der Rechten" aber mit so großer Heftigkeit geführt worden sei, dass sich der Faschismus auch "als geläuterte Ideologie präsentieren" könne. Saviano meint damit auch den Kommunismus, dessen fatales Erbe die Linke nie thematisiert habe, so dass er sich bis heute mit großer "nostalgischer Attraktivität" als Richtgröße behaupten könne. Es sei, so Saviano, ein "Riesenfehler" der Linken gewesen, die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit den Rechten überlassen zu haben. Kaum etwas habe Berlusconi mehr genützt als dieses Versagen - und der Glaubwürdigkeit der Linken mehr geschadet.

Ob man sie in dieser Schärfe teilt oder nicht - die Relevanz dieser Überlegungen liegt auf der Hand: Die Linke gleicht einem Hühnerhaufen, der sich seit Jahrzehnten nicht darauf einigen kann, wer ihr Hahn sein soll: ein Ex-Kommunist, ein Ex-Sozialist, ein Ex-Christdemokrat mit linkem Gewissen? Selbst wenn die Linke einen Regierungsauftrag erhielt, konnte sie sich nur kurzzeitig einigen; in der Regel kam es bald zum Bruch. Die in ihr zusammengeschlossenen Strömungen blieben der Reinheit ihrer Lehren treu und konnten das umso leichter tun, weil sie diese nie auf den Prüfstand gestellt hatten. Renzi war nicht das erste Opfer dieser noch in den Genen sitzenden ideologischen Sturheiten, und er wird nicht das letzte bleiben. Die Linke hat so ihre historische Chance mehrmals verspielt - zum Schaden Italiens, das auch keine Mitte und keine konsolidierte Rechte hat.

Saviano liefert seinem Gesprächspartner immer wieder Steilvorlagen dieser Art, stiftet aber auch Verwirrung, wenn es um die Zukunft Italiens und seine eigene Position geht. Di Lorenzo huscht über beides hinweg. Er lässt sich sogar die Gelegenheit entgehen, Saviano auf den Zahn zu fühlen, wenn er sich in mehr als zweifelhafte Erklärungen verrennt: Er habe 2016 beim Referendum über Renzis Verfassungsreform nicht gewählt und glaube überhaupt, dass Italien es nicht verdiene, sich politisch zu engagieren. Gute Leute hätten in der Politik "kaum eine Überlebenschance".

So spricht einer der führenden Intellektuellen des Landes, der den Anarchisten Errico Malatesta als seinen Lehrmeister bezeichnet und den Gedanken sympathisch findet, Wahlen abzuschaffen und politische Ämter per Los zu vergeben. Dass Saviano zugleich für Menschen- und Minderheitenrechte kämpft und von den Vereinigten Staaten von Europa träumt, macht die Verwirrung nur noch größer. Politik sollte von Politikern gemacht werden und nicht von Leuten, die nur als Persönlichkeiten geschätzt werden, betont Saviano. Schriftsteller meinte er damit vermutlich auch. Ob sie zur Erklärung ihrer Länder viel beitragen können? Vielleicht. In Gesprächen aber sicherlich nur dann, wenn sie sich die gleiche Mühe geben wie in ihren Werken und wenn sie auf Partner treffen, die wissen, was sie wollen. Plaudern ist eine Kunst - mit engen Erkenntnisgrenzen.

Hans Woller