Christian Booß: Im goldenen Käfig. Zwischen SED, Staatssicherheit, Justizministerium und Mandant - die DDR-Anwälte im politischen Prozess (= Analysen und Dokumente; Bd. 48), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017, 813 S., 18 s/w-Abb., 22 Tbl., ISBN 978-3-525-35125-3, EUR 45,00
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Im Verlauf der Friedlichen Revolution übernahmen Rechtsanwälte wichtige politische Funktionen. Wolfgang Schnur wurde Vorsitzender des Demokratischen Aufbruchs, Lothar de Mazière der gewendeten Ost-CDU und Gregor Gysi löste Egon Krenz als Parteivorsitzenden der SED/PDS ab. Nur in der primär von Theologen gegründeten Sozialdemokratischen Partei stand mit Ibrahim Böhme kein Jurist an der Spitze. Allen gemeinsam war jedoch, dass sie bei der Staatssicherheit als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) geführt wurden. Schnur und Böhme gelten als besonders schwere Verratsfälle, bei de Maizière und Gysi gehen die Meinungen bekanntlich auseinander.
Welche Rolle die Rechtsanwälte im Justizwesen der DDR spielten, untersucht Christian Booß, Mitarbeiter der Forschungsabteilung des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, am Beispiel der vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) durchgeführten (zumeist politisch motivierten) Ermittlungsverfahren. Diese Verfahren, in denen das MfS in seiner offiziellen Funktion als strafrechtliches Untersuchungsorgan tätig war, stellten zahlenmäßig nur ein kleines Segment aller Ermittlungs- und Gerichtsverfahren dar, das aber in besonderer Weise Auskunft über das Zusammenspiel von Justiz, Partei und MfS gibt. Den größten Anteil machten Zivil- und Familiensachen aus. So wurden 1984 in der gesamten DDR rund 121.500 Mandanten anwaltlich betreut, darunter 17.820 wegen Strafsachen. Im selben Jahr führte das MfS Untersuchungsvorgänge gegen 3.462 Personen. Diese Relationen sollte man sich vor Augen halten, um die Dimension der politischen Verfahren angemessen einordnen zu können.
Augenfällig ist zunächst, dass es in der späten DDR überhaupt nur rund 600 Anwälte gab, während 1945 auf dem Gebiet der SBZ (ohne Berlin) noch fast 2.750 Anwälte tätig gewesen waren. Schon Ende 1952 zählte man in der DDR (mit Ost-Berlin) nur mehr 781 zugelassene Rechtsanwälte, von denen 22,7 Prozent ehemalige NSDAP-Mitglieder waren; deren Anteil stieg bis 1964 sogar auf 32,4 Prozent. Erst 1973 gehörte mehr als die Hälfte der Anwälte der SED an, bei Staatsanwälten und Richtern war die Parteibindung schon frühzeitig wesentlich stärker ausgeprägt. Seit den 1950er Jahren waren die Anwälte nach sowjetischem Vorbild in 15 Kollegien entsprechend dem Bezirksaufbau der DDR organisiert. Diese Organisationsform vereinte Funktionen einer Anwaltskammer mit denen einer genossenschaftlich verfassten Großkanzlei. Hinzu kamen einige Einzelanwälte bzw. Büros, die ganz spezielle Aufgaben im Interesse von Staat und Partei erfüllten und deshalb besonders abgeschirmt arbeiteten. Am bekanntesten ist hier die nahezu monopolartige Stellung der Kanzlei von Wolfgang Vogel, über die der Freikauf von Häftlingen in die Bundesrepublik abgewickelt wurde.
Die Zulassung zum Rechtsanwalt erfolgte nach einem strengen Auswahlverfahren, in dem politische Kriterien dominierten und in das die Gerichte, die SED und nicht zuletzt das MfS eingebunden waren. Auch danach war der Anwalt einer permanenten Kontroll- und Disziplinargewalt durch die Kollegien unterworfen, deren Vorsitzende ihrerseits der Nomenklatur des ZK der SED unterstanden. Zugleich stellten die Anwälte aber auch eine privilegierte Berufsgruppe dar. Sie verdienten im Durchschnitt mehr als das Dreifache von Angestellten und Arbeitern, etwa das Dreifache eines Richters der ersten Instanz und sogar noch mehr als die ersten Sekretäre der Bezirksleitungen der SED. Die allermeisten hatten ihre Rolle als Funktionär der sozialistischen Justiz verinnerlicht und lebten - wie es im Titel der Untersuchung treffend heißt - in einem "goldenen Käfig".
Neben den Kollegien, deren Wirken und Funktion detailliert am Beispiel des Rechtsanwaltskollegiums Berlin untersucht wird, gab es weitere Institutionen, die bei der Steuerung und Kontrolle der Anwaltschaft eine zentrale Rolle spielten: Zunächst das Ministerium für Justiz, dessen Spitzenpositionen nur mit Zustimmung des Politbüros bzw. des zuständigen ZK-Sekretärs besetzt werden konnten, während die Hauptabteilungsleiter der Bestätigung durch die ZK-Abteilung für Staats- und Rechtsfragen bedurften. Die Kaderpolitik dieser ZK-Abteilung, die seit Ulbrichts Zeiten von Klaus Sorgenicht geleitet wurde, war für das gesamte Justizwesen von größter Bedeutung. Bei Routinen war für Justizorgane und Kollegien die jeweilige SED-Bezirksleitung zuständig. Im MfS oblag die Bespitzelung des Justizpersonals nicht der Hauptabteilung IX, dem offiziellen Untersuchungsorgan, sondern der Hauptabteilung XX/1.
Im Berliner Rechtsanwaltskollegium waren in den 1970er und 1980er Jahren von insgesamt 92 Anwälten 32 (34,8 Prozent) zumindest phasenweise als Inoffizielle Mitarbeiter registriert; 13 von ihnen lieferten dem MfS auch Informationen über Mandanten. In den übrigen Bezirken lag die Quote mit durchschnittlich 15,3 Prozent deutlich niedriger. Von den Vorsitzenden der 15 Kollegien war in diesem Zeitraum fast jeder zweite (47,7 Prozent) als IM registriert. Besonders hoch war der IM-Anteil auch unter Pflichtverteidigern in Militärgerichtsverfahren (50 Prozent) und bei den Unteranwälten des Büros von Wolfgang Vogel (60 Prozent). Das sind bei allen Unterschieden im Einzelnen beachtliche Werte. Sie zeigen, wie das MfS neben der strikten Kaderpolitik der SED einen zusätzlichen Kontrollzug zur Überwachung der Anwälte sicherstellte. Die geheimpolizeiliche und operative Einflussnahme des MfS wird von Booß auf den unterschiedlichen Ebenen sehr ausführlich untersucht und mit zahlreichen Beispielen illustriert. Dabei fasst er auch den Kenntnisstand zu den Fällen Lothar de Maizière und Gregor Gysi zusammen.
In weiteren Kapiteln analysiert die Studie umfassend die Rolle der Anwälte im Ermittlungsverfahren und im anschließenden Strafprozess. In Ermittlungsverfahren des MfS wurde dem Beschuldigten erst spät der Kontakt zu einem Anwalt ermöglicht, da man in den Erstvernehmungen in der Untersuchungshaft vor allem ein Geständnis erzielen wollte, was auch in 95 Prozent der Fälle gelang. Auch war es den Anwälten nur schwer möglich, Akteneinsicht zu nehmen; ebenso wurden Anwaltsprecher beim Abschluss des Verfahrens durchgängig abgehört.
Die Anklageschrift erhielten die Anwälte erst mit der Ladung zur Hauptverhandlung, so dass ihnen nur wenig Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung blieb. Im Prozess unternahmen die Anwälte zumeist keine Anstrengungen, eigene Anträge zu stellen, Zeugen zu befragen oder gar Verfahrensmängel zu rügen. Ihre Tätigkeit beschränkte sich in aller Regel darauf, für ein mildes Urteil zu plädieren. Die von den Gerichten verhängten Strafen blieben zumeist geringfügig unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft. In jedem fünften Verfahren legten allerdings Anwälte, so das Ergebnis einer Stichprobe, Rechtsmittel gegen das Urteil ein. Insgesamt gesehen kam dem Recht auf Verteidigung im sozialistischen Strafprozess nur eine untergeordnete Rolle zu. Die Anwälte füllten ihre Rolle gemäß dem sozialistischen Anwaltsbild aus, das auf Kooperation mit den anderen Justizorganen und nicht auf Konfrontation ausgelegt war.
Typisch für die Verfahren, in denen das MfS als Untersuchungsorgan fungierte, war der kurze Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Zeitdauer der Hauptverhandlung ging in diesen Fällen zwischen 1972 und 1988 von sechs auf dreieinhalb Stunden zurück. Bei den Massenverfahren gegen Ausreise- oder Fluchtwillige, die üblicherweise mit einer Haftstrafe endeten, dauerte die Hälfte sogar nur maximal eine Stunde. Hier bildete die Verurteilung nur eine Etappe auf dem Weg zum Freikauf, d.h. zur Devisenbeschaffung für die DDR.
Auch in der Ära Honecker gab es politisch brisante Verfahren, deren Drehbuch und Urteil noch vor Prozessbeginn auf höchster Ebene abgestimmt wurden und in denen der Generalsekretär der SED als der eigentliche Gerichtsherr fungierte. Am bekanntesten sind hier die beiden Gerichtsverfahren gegen den Regimekritiker Robert Havemann. Doch im Normalfall bedurfte es einer solchen Lenkung nicht, wie Booß zutreffend resümiert: "Die unteren Instanzen der Gerichte und Staatsanwaltschaft unterstanden der Anleitung ihres jeweiligen Institutionengefüges. Die Spitzen der Justiz und der Ermittlungsorgane hatten sich in Leiter- und Stellvertreterberatungen untereinander und mit dem ZK der SED so detailliert auf Normen und Rechtsanwendung verständigt, dass den unteren Instanzen nur ein geringer Spielraum verblieb" (607).
In einem Ausblick befasst sich die Studie auch mit der Überprüfung der DDR-Anwälte nach der Wiedervereinigung. Unter den noch 1990 neu zugelassenen Anwälten befanden sich zahlreiche Staatsanwälte und Richter, die zuvor an politischen Verfahren mitgewirkt hatten und somit nicht auf eine Übernahme in den bundesdeutschen Justizdienst rechnen konnten, sowie belastete Diplom-Juristen der Staatssicherheit, für deren Zulassung ausgerechnet Altkader aus dem Justizministerium zuständig waren. Bei der späteren Überprüfung nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz gab es in den neuen Bundesländern keine einheitlichen Kriterien. So wurden in Sachsen und Thüringen zunächst alle Zulassungen von Anwälten widerrufen, die eine MfS-Belastung aufwiesen, während man in Brandenburg äußerst nachsichtig agierte und keinem Anwalt die Zulassung entzog. 1995 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass eine frühere hauptamtliche Tätigkeit für das MfS oder die Tätigkeit eines Anwalts als inoffizieller Mitarbeiter für den Entzug der Zulassung nicht ausreichend seien; es müsse vielmehr ein besonderer Vertrauensmissbrauch mit gravierenden Folgen vorliegen. Aufgrund dieses Urteils musste ein Großteil der Zulassungswiderrufe wieder aufgehoben werden.
Die Stärke dieser fundamentalen Studie, die als Dissertation von der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität angenommen wurde, ist die quellengesättigte Darstellung und Analyse der unterschiedlichen Akteure und Handlungsebenen, die sehr differenziert beleuchtet werden. Damit hat Christian Booß nicht nur eine exzellente Untersuchung zur Rolle der Anwaltschaft im sozialistischen Strafprozess samt den Anleitungsstrukturen und Disziplinierungsmechanismen vorgelegt, sondern auch einen bedeutenden Beitrag zum Funktionieren des gesamten Justizwesens in der DDR geliefert. Ein Manko stellt jedoch das Fehlen eines Personenregisters dar, so dass sich die auf 800 Seiten ausgebreiteten Informationen zu den beteiligten SED-, MfS- und Justizfunktionären nicht leicht erschließen lassen.
Clemens Vollnhals