Bernd Heyl / Sebastian Voigt / Edgar Weick (Hgg.): Ernest Jouhy. Zur Aktualität eines leidenschaftlichen Pädagogen, Frankfurt/M: Brandes & Apsel 2017, 263 S., ISBN 978-3-9555-8201-2, EUR 24,90
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Im Gefolge des einhundertsten Geburtstags von Ernest Jouhy (1913-88) ist das Interesse an dem Pädagogen, undogmatischen Marxisten und Résistance-Kämpfer neu erwacht. Vor allem Benjamin Ortmeyer, Erziehungswissenschaftler an der Goethe-Universität Frankfurt, hat für die Wiederentdeckung seines Lebens und Werks Pionierarbeit geleistet. [1] Der nun erschienene Sammelband vereinigt in seinem ersten Teil eine beträchtliche Spannweite an Beiträgen, die von biographischer Darstellung über Diskussionen zentraler Konzepte in Jouhys Pädagogikverständnis bis zu persönlichen Betrachtungen von Weggefährten reichen. Im zweiten Teil des Bandes kommt Jouhy selbst in ausgewählten Werken zu Wort, die theoretische Auseinandersetzungen, Interviews und auch eine Auswahl seiner Dichtung und Prosa umfassen.
Nach einem sehr persönlichen Rückblick von André Jablonski auf seinen Vater Ernest Jouhy folgt der längste Beitrag des Bandes, eine Biographie und Darstellung der Entwicklung des politischen Denkens Jouhys von Sebastian Voigt. Gestützt auf eine breite Quellenbasis veranschaulicht Voigt Jouhys Weg vom kommunistischen Jugendaktivisten in Berlin und Paris über seine Tätigkeit als Leiter von Heimen für jüdische Kinder im Vichy-Frankreich und als Résistance-Kämpfer bis zur Remigration in die Bundesrepublik, den Bruch mit dem Parteikommunismus und die Hinwendung zu kritischer Pädagogik, zuerst als Lehrer an der Odenwaldschule und später als Professor in Frankfurt. Dabei gelingt es Voigt, die Wendungen und Brüche in Jouhys Leben und Denken anschaulich zu schildern und plausibel zu kontextualisieren. Als zentraler Faktor schält sich Jouhys jüdische Herkunft heraus, die er als Marxist lange beiseiteschob, deren Bedeutung sich ihm im Zuge seiner Erfahrungen im französischen Exil jedoch förmlich aufdrängte. Damit kann Voigt Parallelen von Jouhys Erfahrungen als "Paria" (49) und den Biographien anderer jüdischer Linker zwischen Deutschland und Frankreich im vergangenen Jahrhundert aufzeigen. [2]
Im folgenden Abschnitt rekonstruiert Edgar Weick Jouhys Begriff von "emanzipatorischer Erziehung". Unter Rückgriff auf kritische Erziehungswissenschaft in der Tradition von Heinz-Joachim Heydorn, Gernot Koneffke und auch Max Horkheimer ruft Weick die Notwendigkeit der Verschränkung von Bildung und Emanzipation ins Gedächtnis. Die gegenwärtige Bildungswissenschaft hingegen habe sich unter zunehmendem ökonomischen Druck einer "Praxis der Unbildung" verschrieben (77). Weicks Verdienst ist es, Jouhys Begriff von Pädagogik und seine Zielvorstellungen erzieherischen Handelns - mündige, vernünftig handelnde und zu Vertrauen in sich und andere fähige Menschen - überzeugend aus einer ganzen Anzahl verschiedener Schriften zusammengetragen zu haben. Jedoch trägt die Attacke auf den gegenwärtigen Bildungsdiskurs nur grosso modo. Für eine treffende Kritik, für die in der Tat Bedarf besteht, hätte ein näherer Blick auf die ins Auge stechende Verwandtschaft von Motiven in Jouhys Pädagogik zu wesentlichen Diskursbausteinen der aktuellen Debatten um "Kompetenzen" nicht geschadet (s.u.). Die genauere Bestimmung des Verhältnisses beider bleibt somit ein Desiderat, gerade auch um die Perspektive der Emanzipation bei Jouhy zu retten.
Die beiden folgenden Beiträge von Bernd Heyl befassen sich mit zwei Schwerpunkten in Jouhys pädagogischer Arbeit: Dem FIEF (Foyer International d'Etudes Françaises), einem von Jouhy aufgebauten deutsch-französischen Begegnungszentrum im südostfranzösischen La Bégude, und der Pädagogik der sogenannten Dritten Welt. Das FIEF kann als Verkörperung von Jouhys Verständnis von politischer Pädagogik gelten, das seinen Gegenstand durch unmittelbare Erfahrungen mit Menschen, Kulturen und historisch geprägten Landschaften greifbar zu machen suchte. Durchaus folgerichtig arbeitet Heyl Jouhys Wirkungsgeschichte als Pionier des deutsch-französischen Austauschs heraus.
Sein zweiter Beitrag widmet sich Jouhys Spätwerk, das er in den 1970er Jahren als Professor in Frankfurt entfaltete: der Entwicklung eines Forschungs- und Studienkonzepts und schließlich eines Aufbaustudiengangs zu "Pädagogik: Dritte Welt". Das Konzept widmete sich der Gestaltung von Bildung in nachkolonialen Staaten. Dabei kritisierte Jouhy einerseits einen eurozentrischen "Kulturimperialismus", dessen wesentliche formale und inhaltliche Bestandteile nachkoloniale Bildungssysteme bereits prägten. Ebenso, und im Vergleich zu sich machtkritisch verstehenden postkolonialen Perspektiven durchaus wohltuend, problematisierte Jouhy das einheimische kulturelle Erbe als Hemmschuh zu einer emanzipatorischen Bildung. Dabei versäumt Heyl es nicht, auch auf das Schicksal von Jouhys akademischem Erbe in Gestalt des Aufbaustudiengangs "Pädagogik: Dritte Welt" zu blicken, der 1998 "abgewickelt" (127) wurde.
Zwei weitere Beiträge von Sebastian Voigt und Edgar Weick widmen sich in kurzen Überblicken ausgewählten, von Jouhy verfassten Kurzgeschichten bzw. Gedichten. Beide erörtern plausibel die Rückbindung von Jouhys künstlerischem Schaffen an seine Biographie (Voigt) und politische Agenda (Weick). Den Schluss des Abschnitts zu Leben und Werk bilden persönliche Rückblicke von Heinrich Kupffer und Otto Herz, ehemals Kollege bzw. Schüler Ernest Jouhys.
Der zweite Teil des Bandes versammelt verschiedene Arbeiten Jouhys. Diese umfassen die beiden mit hinführenden Texten versehenen Aufsätze "Zur Motivation des bildungspolitischen Engagements" und "Demokratisierung der Schule", ein autobiographischer Rückblick auf die Befreiung Lyons, die Erzählung "Identität", ein Interview mit Jouhy aus der Zeitschrift päd.extra und drei Gedichte. Die Auswahl an Quelltexten harmoniert gut mit den thematischen Schwerpunktsetzungen der Beiträge und bietet den Lesern Gelegenheit, deren Schlussfolgerungen nachzuvollziehen oder zu hinterfragen. Eine detaillierte Auflistung biographischer Daten Jouhys und eine umsichtig zusammengestellte Bibliographie runden den Band ab.
Leitgedanke der Veröffentlichung, die schon im Untertitel anklingt, ist Jouhys "Aktualität". Diese verorten die Herausgeber im Vorwort darin, dass Jouhys Vorstellungen von einer aufgeklärten, auf Mündigkeit, Vernunft und Kritikfähigkeit zielenden Pädagogik in den ökonomistischen bildungswissenschaftlichen Diskussionen der vergangenen Jahre keine Rolle mehr gespielt hätten. Wie auch in Weicks erstem Beitrag ist diese Diagnose so nicht ganz plausibel. Speziell sind einige Passagen aus den beiden abgedruckten Aufsätzen Jouhys im Licht gegenwärtiger bildungswissenschaftlicher Debatten von einer nachgerade beklemmenden "Aktualität". Weniger, weil seine Forderung nach einer Erziehung, die die Möglichkeit zur Emanzipation eröffnet, uneingelöst geblieben ist. Vielmehr ist bemerkenswert, dass einige von Jouhys Vorstellungen von Inhalt und Ziel schulischer Bildung den beklagten Tendenzen im Bildungswesen eben nicht entgegenzustehen scheinen. So könnte seine Forderung, "verinnerlichte Qualitätserwartungen müssen an die Stelle äußerer Quantitätskontrollen treten" (171), direkt einem aktuellen schulpädagogischen Lehrbuch entnommen sein. Und wenn Jouhy schreibt, Schule dürfe keine festen Berufsbilder mehr lehren, sondern müsse auf häufige Berufswechsel vorbereiten, vielseitig einsetzbare Fertigkeiten vermitteln und auf Flexibilität der Absolventen zielen (172), würde er in der gegenwärtigen Bildungswissenschaft ebenfalls offene Türen einrennen. Selbstverständlich geben diese Auszüge Jouhys Pädagogik nicht einmal im Ansatz erschöpfend wieder - sie verweisen aber auf die Zeitlichkeit auch des Werks eines Ernest Jouhy und auf die Notwendigkeit seiner qualifizierten Neubewertung. Mit ihrer Veröffentlichung haben die Herausgeber drei Jahrzehnte nach Jouhys Tod das Ihre dafür getan. Es bleibt, diesem vielseitigen, gelungenen und anregenden Band eine breite Rezeption zu wünschen.
Anmerkungen:
[1] Benjamin Ortmeyer: 100 Jahre Ernest Jouhy. Dialektische Vernunft als zweifelnde Ermutigung - Zum Werk von Ernest Jouhy, Frankfurt/M 2013. Ortmeyer hatte bereits 2008 und 2013 Vorlesungen zum selben Thema gehalten.
[2] Siehe Sebastian Voigt: Der jüdische Mai '68. Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bendit und André Glucksmann im Nachkriegsfrankreich, Göttingen 2015.
Patrick Hesse