Rezension über:

Benjamin Ortmeyer: Die Lehrkräfte in der Nazi-Zeit, die GEW und der Streit um Max Traeger (1998-2022), Weinheim: Verlagsgruppe Beltz 2023, 104 S., ISBN 978-3-7799-7422-2, EUR 38,00
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Rezension von:
Patrick Hesse
Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
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Patrick Hesse : Rezension von: Benjamin Ortmeyer: Die Lehrkräfte in der Nazi-Zeit, die GEW und der Streit um Max Traeger (1998-2022), Weinheim: Verlagsgruppe Beltz 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 3 [15.03.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/03/38574.html


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Benjamin Ortmeyer: Die Lehrkräfte in der Nazi-Zeit, die GEW und der Streit um Max Traeger (1998-2022)

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Vor über einem Vierteljahrhundert, auf dem Gewerkschaftstag der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) 1998, sorgte ein offener Brief unter anderem Benjamin Ortmeyers, Autor des vorliegenden Bandes, für Furore. Er prangerte das Schweigen über die NS-Vergangenheit sowohl der deutschen Lehrerschaft als auch der GEW an - und stieß eine Debatte an, die bis heute dauert. Einen Kristallisationspunkt dieser Auseinandersetzungen um das NS-Erbe der GEW bildet seitdem Max Traeger. Er war 1947-1952 erster Vorsitzender der GEW und lange Zeit auch der Namenspatron ihrer Stiftung. Deren Umbenennung beschloss der Gewerkschaftstag 2022. Der Hintergrund ist die umstrittene Bewertung der Biografie Traegers, der 1933 als Abgeordneter in der Hamburger Bürgerschaft mit der NSDAP zusammenarbeitete und an der Überführung der Lehrervereine in den gleichgeschalteten Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) beteiligt war. Auch sorgte er nach 1945 dafür, dass das NSLB-Vermögen, darunter zahlreiche "arisierte" Immobilien, in den Besitz der GEW überging.

Traeger war bzw. ist jedoch nur eine Symbolfigur im Streit um die NS-Beteiligung der deutschen Lehrerschaft und um den Umgang der GEW mit diesem Thema. Auch die Handhabung der Verbandsgeschichte selbst ist ein Teil der Debatte. Denn die Nachkriegs-GEW ebnete zahlreichen NS-vorbelasteten Lehrkräften den Weg in den bundesdeutschen Schuldienst. Unlängst hat die GEW-Spitze die Brisanz des Themas erkannt und selbst Studien in Auftrag gegeben. Entsprechend handelt es sich beim zu besprechenden Buch nicht um die erste Veröffentlichung auf diesem Feld. [1]

Benjamin Ortmeyer, langjähriger Mitarbeiter der Forschungsstelle NS-Pädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt, steht diesen Ansätzen der GEW zur Aufarbeitung ihrer Vergangenheit und auch deren Ergebnissen skeptisch gegenüber. Seine Kritik entfaltet das Buch in drei gesonderten Beiträgen sowie einem Anhang. Nur die knappe Einleitung und der erste Beitrag - eine kurze Chronologie der Debatten und Auseinandersetzungen zum Thema - sind neu verfasst worden. Zwei ausführliche Besprechungen der Studien von Jörn-Michael Goll und Marcel Bois, die bereits als Flugschriften auf Gewerkschaftstagen verteilt wurden, bilden den Schwerpunkt des Bandes. Im Anhang findet sich der offene Brief von 1998 samt den Anlagen.

Inhaltlich bietet das Buch also wenig Neues. Es versteht sich offenbar eher als gebündelte Positionsbestimmung denn als Eröffnung neuen argumentativen Terrains. Ersteres verfolgt der Band dafür umso konsequenter. Inhaltlich wie sprachlich prägt scharfe Kritik am jeweiligen Gegenstand die einzelnen Beiträge. Ortmeyers Chronologie der Ereignisse seit 1998 spart nicht mit Vorwürfen an die GEW, sie habe die sich aus dem Offenen Brief ergebenden Konsequenzen verschleppt beziehungsweise in genehme Kanäle abgebogen. Dies soll z.B. durch gezielte Vergabe von Studien und Stellungnahmen an gewerkschaftsfreundliche Historiker geschehen sein (16-18). Zwei dieser Studien knöpft sich Ortmeyer im Anschluss vor. Vor allem an Goll lässt er kaum ein gutes Haar: Ansatz, Methodik und Sprache verfallen Ortmeyers Verdikt. Die geäußerte Kritik ist dabei nachvollziehbar und wird anhand zahlreicher Zitate anschaulich gemacht. Weniger harsch fällt das Urteil über Bois' Studie aus. Jedoch ist auch diese Besprechung im gleichen Tenor gehalten: Beide Autoren drückten sich um eine eindeutige Benennung der NS-Verstrickung der deutschen Lehrerschaft bzw. der Persilschein-Praxis der GEW herum. Goll habe gar eine weitgehend "geschichtsrevisionistische Studie" (52) verfasst.

Während der Rezensent Ortmeyer inhaltlich in vielen Punkten folgen kann, sind andere Aspekte schwerer nachzuvollziehen. Dies beginnt bei der Anlage des Bandes. Weder im Vorwort noch in Ortmeyers eigener Einleitung findet sich eine Einordnung der Veröffentlichung oder ihres Inhalts. Mag letzterer ohnehin hauptsächlich für bereits mit den Debatten Vertraute interessant sein, verschenkt der Band die Gelegenheit, auch Außenstehende mitzunehmen. Auch darüber hinaus unternimmt die Veröffentlichung einiges, um es ihren Leserinnen und Lesern schwer zu machen. Da ist vor allem das offenbar vollständige Fehlen eines Lektorats, das nicht nur zu zahlreichen formalen Fehlern führt, sondern auch zu ärgerlichen Patzern im Text. Ein Lektorat hätte dem Buch möglicherweise auch zu einem lesbareren Duktus verholfen. Ortmeyers Stil ist beinahe durchweg polemisch und von umgangssprachlichen Wendungen und Anwürfen durchzogen.

Das persönliche Engagement Ortmeyers ist dem Buch auf jeder Seite anzumerken - ansprechender wird es dadurch jedoch nicht. Während die mit viel Verve verfassten Beiträge inhaltlich überzeugen können, ist die Chance vertan worden, das eigene Anliegen auch überzeugend zu präsentieren. Der Eindruck der sprichwörtlichen heißen Nadel, die beim Stricken des Bandes geführt wurde, drängt sich beinahe auf. Es ist zu befürchten, dass das ohnehin schon überschaubare Publikum dieser Veröffentlichung so nicht unbedingt wachsen wird. Das wäre schade, denn Ortmeyers Interventionen sind in der Sache durchaus wichtig.


Anmerkung:

[1] An Beiträgen aus jüngster Zeit seien genannt: Marcel Bois: Volksschullehrer zwischen Anpassung und Opposition. Die "Gleichschaltung" der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens in Hamburg (1933-1937), Weinheim 2020, sowie Jörn-Michael Goll: Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und das NS-Erbe. Mit einem Vorwort von Marlis Tepe, Weinheim / Basel 2021.

Patrick Hesse