Paul Nolte: Lebens Werk. Thomas Nipperdeys Deutsche Geschichte. Biographie eines Buches, München: C.H.Beck 2018, 368 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-72141-0, EUR 39,95
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Wie fand Thomas Nipperdey zu dem Werk, das ihn berühmt machte? In welchem Umfeld entstanden die drei Bände? Was machte sie zum "großen Buch"? Diesen drei Themenfeldern lassen sich die 15 Kapitel zuordnen. Der Untertitel verbindet sie elegant und erzeugt Neugier. Er schafft Distanz zwischen Nipperdey und seinem "Buch". Der Singular verschmilzt die drei Bände, die so nicht geplant waren, zu einer Einheit mit einer Geschichte, die als Biographie erzählt werden kann.
Wie Wissenschaftshistoriker in ihren Laboratory Studies sich an den Ort begeben, in dem Wissen erzeugt wird, will Nolte die Prozesse beobachten, aus denen Nipperdeys Deutsche Geschichte 1800 -1918 entstanden ist. Die naturwissenschaftlich ausgerichtete Wissenschaftsgeschichte soll auf die Geisteswissenschaften erweitert werden. Ihr Bild des Schöpfer-Autors, der aus sich heraus sein Werk erschafft, konfrontiert Nolte mit der Vorstellung einer "sozialen Koproduktion des Textes" (182). Er erzeugt so ein Spannungsverhältnis, aus dem die Dramaturgie dieser Biographie eines Buches lebt. Dazu bespielt Nolte zwei Bühnen. Auf der einen inszeniert er Größe, auf der anderen die Bedingungen, aus denen er sie hervorgehen sieht.
Die Kapitel jedes Bandes entstanden, einander überlappend geschrieben und immer wieder überarbeitet, "wie in einer gewaltigen Geistmaschine" (123). Dass sie nicht stockte, als die Diagnose Nierenkrebs im Oktober 1988 das Leben veränderte, war zumindest auch dem Center for Advanced Study in Stanford zu verdanken. Es wurde zum "Zauberberg der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts" (126). Solche Zeichen für Größe in einem Drama, dem man ausgesetzt ist, fügt Nolte immer wieder ein. Er weist sie einer untergehenden Welt zu - "noch einmal" der neuen Zeit abgerungen: "der Versuch, traditionelle Gelehrtenwelt" gegen die Umbrüche in den "sozialen Praktiken der Geisteswissenschaft" "noch einmal zu behaupten", "noch einmal Wissen im Sinne der Aufklärung zu akkumulieren" (23). Sein Untergangsdiktum "noch einmal" münzt Nolte auch auf die "männliche Form" der "umfassenden Nationalgeschichte" mit ihrer "Geste der Dominanz", eingefügt in die "kulturellen Regeln der Männlichkeit", ermöglicht durch "ein patriarchalisch organisiertes Privatleben" (26 f.). Im Wettstreit um geschichtswissenschaftliche Größe in einer Ära des Umbruchs lässt Nolte zwei Hauptakteure hochschulpolitisch und geschichtstheoretisch gegeneinander antreten und sich wechselseitig zu ihrem Lebenswerk anspornen - neben Thomas Nipperdey, den er persönlich nicht kennengelernt hat, seinen Lehrer Hans-Ulrich Wehler. Ihre Bücher standen "sich gewaltig wie Armeen" gegenüber (216).
Nolte beherrscht es, den Wettbewerb auf dem Geschichtsmarkt als Drama zu gestalten. Nicht weniger intensiv spürt er den Einflüssen der Produktionsbedingungen nach. Im Zentrum stehen Thomas Nipperdey und seine Prägung durch das bildungsbürgerliche Milieu, in dem er aufgewachsen ist. "Ästhetische Kultur und akademischer Beruf, Familiennetzwerke und Universitätskarriere verknüpfen sich in diesem Umfeld wie selbstverständlich" und lassen die "Faszination für die Kultur des Bürgertums [...] zum Leitmotiv seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts werden." (33). Die Biographie des Autors sieht Nolte jedoch nur als eine der Voraussetzungen für die Biographie des Buches. Die Vorgeschichte des ersten, 1983 erschienenen Bandes führt nur bis 1976 zurück. Davor lag Nipperdeys Wechsel nach Berlin (1967), wo er sich im hochschulpolitischen Kampf profilierte, aber auch Aufsätze veröffentlichte, die Nolte zu Recht bahnbrechend nennt. Einen Namen machte sich Nipperdey politisch und fachlich also schon vor "dem Buch", das ihn zur "Marke" (151) werden ließ. Nachdem der Entschluss zu seinem "großen Buch", wie er es selber nannte, gefasst war, begann die Suche nach dem richtigen Verlag. Nipperdey drängte zunächst in die Propyläen Geschichte Deutschlands, die jedoch schon ausgebucht war. Sie versprach das größte Renommee und das höchste Honorar. Er schaffte es, das 19. Jahrhundert zwischen Wolfgang J. Mommsen, der von der Änderung seines Vertrags erst spät erfuhr, und sich aufteilen zu lassen. Und er kam auch wieder aus dem Vertrag heraus, als er mit C.H. Beck abschloss. Es war für beide ein Glücksgriff. Beck war dabei, sein Verlagsprogramm zu erweitern, Nipperdeys "Buch" half auf dem Weg zum führenden Geschichtsverlag in Deutschland. Ebenso wie Wehlers Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Die beiden Kombattanten waren nun im gleichen Haus, das dann auch noch Heinrich August Winkler aufnahm. Deren auf dem Markt wohl erfolgreichsten deutschen Nationalgeschichten boten jeweils eine andere Sicht auf das 19. und 20. Jahrhundert. Alle zeugen von "späten Blütenzeiten einer deutschen Gelehrtenkultur" (27).
Neben dem Verlag waren es die Mitarbeiter am Lehrstuhl, einschließlich der Sekretärin, die Nolte als die wichtigsten Mitwirkenden in der "sozialen Koproduktion des Textes" ausweist. Das bezieht sich keineswegs nur auf den letzten Band, der im "Wettlauf mit der Lebenszeit" (219) entstand. Ohne Hilfe wäre das nicht möglich gewesen, doch Nipperdey blieb "bis zum Schluss Herr des Verfahrens und Meister des auf diese Weise entstehenden Palimpsests" (232). Dazu gehörte auch, dass er sich vom Verlag den Erscheinungstermin gegen Wehler sichern ließ, dessen nächster Band davor oder danach zu erscheinen habe.
Ein Labor ist "eine Form des Kollektivs", bestehend aus einer "Gruppe von Leuten, die miteinander agieren und experimentieren". So hat Hans-Jörg Rheinberger es aus der Sicht des Naturwissenschaftlers beschrieben. [1] Die "vielfältigen Rückkopplungen", die im Labor entstehen, sind bei Historikern sicherlich nicht auf die Mitarbeiter, die Ansprechpartner im Verlag oder auf gelegentliche Anfragen bei Kollegen zu begrenzen. Für Nipperdey bot der Arbeitskreis für Sozialgeschichte eine wichtige Möglichkeit zur Rückkoppelung. Dort traf er u. a. auf Wehler. Man sollte also die Konkurrenz zwischen den beiden nicht zu sehr als Kampf sehen, in dem Bücher wie Armeen aufeinanderstoßen. Man habe im Arbeitskreis, wie Nipperdey Werner Conze schrieb, "jenseits der Grundlagendifferenzen und jenseits auch der Differenzen, die sich in den Aufsätzen und Büchern einzelner Teilnehmer durch bestimmte Perspektiven und Wertungen ergeben, sehr gut auf einer mittleren Ebene zusammen diskutieren können". [2] Auch das gesellige Umfeld dort sorgte für Entspannung. Nolte erkennt die Bedeutung solcher Kontaktzonen, doch aus ihnen konkrete "Rückkoppelungen" abzulesen, lassen die Quellen - Nolte stand uneingeschränkt Nipperdeys Nachlass zur Verfügung - nicht zu. Hinzu kommt, Nipperdey hat auf Fußnoten verzichtet, keinen Zettelkasten mit Informationen gefüllt, nicht einmal in seinen Büchern unterstrichen. Die Methode der Laborstudien stößt hier an Grenzen.
Was macht ein Buch zu einem "großen"? Nolte bietet Versatzstücke für eine Antwort, doch er fügt sie nicht bilanzierend zusammen. Das Buch sollte nicht zu dünn sein und im späteren Leben geschrieben werden. Es muss als "großes Buch" auf dem Markt platziert werden. Was das Thema bedeutet, kann Nolte nicht prüfen, denn er untersucht eine Nationalgeschichte, und auch die Seitenblicke richten sich meist auf sie, wenngleich mit Reinhart Koselleck ein Meister des kleinen Theorie-Textes mit großen Wirkungen in den Blick kommt. Warum sollte nicht auch eine Biographie oder ein Thema anderer Art als "großes Buch" aufgenommen werden? Hier würde man auch Autorinnen finden. Nipperdey hat die beste Antwort selber gegeben, als er in einem seiner wirkmächtigen Aufsätzen schrieb: "Nationaldenkmal ist, was als Nationaldenkmal gilt." [3] Und was gilt, ändert sich.
Anmerkungen:
[1] Experimentalität. Hans-Jörg Rheinberger im Gespräch über Labor, Atelier und Archiv, Berlin 2018, 18.
[2] Ulrich Engelhardt: Eine Art Baumschule auf dem Feld der modernen Sozialgeschichte. Die ersten fünf Jahrzehnte des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte (erscheint demnächst), Ms. 142 (Brief v. 21.7.1980).
[3] Thomas Nipperdey: Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, 135.
Dieter Langewiesche